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Alexander II. war ein ziemlich starker, rötlicher Floh, der zum erstenmal frei vor dem Publikum arbeitete. Der Dompteur war etwas nervös; Alexander II. war bisher nur als vorderes linkes Pferd eines Viererzuges tätig gewesen und hatte ein ungestümes, unberechenbares Temperament. Das Publikum, das mit Ruth und Kern aus fünf Personen bestand, beobachtete ihn gespannt.

Aber Alexander II. arbeitete tadellos. Er ging wie ein Traber; er kletterte und turnte am Trapez, und sogar sein Glanzstück frei an der Balancierstange verrichtete er, ohne auch nur einmal zur Seite zu schielen.

»Bravo, Alfons!«Kern schüttelte dem stolzen Dompteur die zerstochene Hand.

»Danke. Wie hat es Ihnen gefallen, meine Dame?«

»Es war wunderbar.«Ruth schüttelte ihm ebenfalls die Hand.»Ich verstehe nicht, wie Sie das überhaupt fertigbringen.«

»Es ist ganz einfach. Alles Dressur. Und Geduld. Mir hat einmal einer gesagt, man könne sogar Steine dressieren, wenn man genug Geduld hätte.«Der Dompteur machte verschmitzte Augen.»Weißt du, Charlie, bei Alexander II. war ein kleiner Trick dabei. Ich habe das Vieh vor der Vorstellung eine halbe Stunde an der Kanone ziehen lassen. An dem schweren Mörser. Davon ist er müde geworden. Und müde macht willig.«

»An der Kanone?«fragte Ruth.»Haben denn selbst die Flöhe schon Kanonen?«

»Sogar schwere Feldartillerie.«Der Dompteur ließ Alexander II. einen herzhaften Belohnungsbiß an seinem Unterarm tun.»Es ist halt einmal das populärste, meine Dame. Und populär bringt Geld!«

»Sie schießen aber nicht aufeinander«, sagte Kern.»Sie rotten sich nicht aus – darin sind sie vernünftiger als wir.«

Sie gingen zur mechanischen Autorennbahn.

»Grüß dich Gott, Peperl!«heulte der Mann am Eingang, durch das metallene Getöse.»Nehmt Nummer sieben, die rammt gut!«

»Hältst du mich nicht allmählich für den Bürgermeister von Wien?«fragte Kern Ruth.

»Für viel mehr; für den Besitzer des Praters.«

Sie sausten los, stießen mit andern zusammen und waren bald mitten im Wirbel. Kern lachte und ließ das Steuer los; Ruth versuchte ernsthaft, mit zusammengezogenen Augenbrauen, weiter-zulenken. Schließlich ließ sie es, wandte sich an Kern, wie entschuldigend, und lächelte – das seltene Lächeln, das ihr Gesicht erhellte und weich und kindlich machte. Man sah dann plötzlich den roten, vollen Mund und nicht mehr die schweren Augenbrauen.

Sie machten noch die Runde durch ein halbes Dutzend Buden und Etablissements – von den rechnenden Seelöwen bis zum indischen Zukunftsdeuter; nirgendwo brauchten sie etwas zu zahlen.»Du siehst«, sagte Kern stolz,»sie verwechseln zwar meinen Namen überall; aber wir haben freien Eintritt. Das ist die höchste Form der Volkstümlichkeit.«

»Werden wir auch beim großen Riesenrad umsonst ’reingelassen?«fragte Ruth.

»Bestimmt! Als Künstler Direktor Potzlochs. Sogar mit besonderen Ehren. Komm, wir gehen sofort hin.«

»Servus, Schani«, sagte der Mann an der Kasse.»Mit Fräulein Braut?«

Kern nickte, errötete und blickte Ruth nicht an.

Der Mann nahm zwei bunte Postkarten von einem Haufen, der neben ihm lag, und überreichte sie Ruth. Es waren Abbildungen des Riesenrades mit dem Panorama von Wien.»Zur Erinnerung, mein Fräulein.«

»Danke vielmals.«

Sie stiegen in einen der Wagen und setzten sich ans Fenster.»Das mit der Braut habe ich so hingehen lassen«, sagte Kern.»Es hätte zu lange gedauert, ihm das zu erklären.«

Ruth lachte.»Dafür haben wir ja die besonderen Ehren. Unsere Postkarten. Wir wissen nur beide nicht, wem wir sie schicken sollten.«

»Nein«, sagte Kern.»Ich weiß niemand. Und die, die ich wüßte, haben keine Adresse.«

Der Wagen schwebte langsam empor, und unter ihm entfaltete sich allmählich, wie ein großer Fächer, das Panorama von Wien. Zuerst der Prater mit den hellen Schnüren der erleuchteten Alleen, die wie doppelreihige Perlenstränge über dem dunklen Nacken des Waldes lagen – dann, wie ein riesiger Schmuck aus Smaragden und Rubinen, der bunte Glanz der Budenstadt – und endlich, mit allen Lichtern, unübersehbar fast, die Stadt und dahinter der schmale, dunkle Rauch der Höhenzüge.

Sie waren allein in dem Wagen, der in sanfter Kurve immer weiter stieg und dann nach links hinüberglitt – und es schien ihnen plötzlich, als wäre es kein Wagen mehr – als säßen sie in einem lautlosen Aeroplan und unter ihnen drehte sich langsam die Erde fort – als gehörten sie gar nicht mehr zu ihr, als wären sie in einem Geisterflugzeug, das nirgendwo mehr einen Landeplatz hatte und unter dem tausend Heimaten vorüberzogen, tausend erleuchtete Häuser und Stuben, abendliches Heimkehrlicht bis zu den Horizonten, Lampen und Wohnungen und schirmende Dächer darüber, die riefen und lockten, und keines war das ihre. Sie schwebten darüber im Dunkel der Heimatlosigkeit, und alles, was sie anzünden konnten, war die trostlose Kerze der Sehnsucht…

Die Fenster des Wohnwagens standen weit offen. Es war schwül und sehr still. Lilo hatte eine bunte Decke über das Bett und einen alten Samtvorhang aus der Schießbude über Kerns Lager gebreitet. Im Fenster schwankten zwei Lampions.

»Venezianische Nacht der Nomaden von heute«, sagte Steiner.»Wart ihr im kleinen Konzentrationslager?«

»Was meinst du?«

»Die Geisterbahn.«

»Ja.«

Steiner lachte.»Bunker, Verliese, Ketten, Blut und Tränen – die Geisterbahn ist plötzlich modern geworden, was, kleine Ruth?«Er stand auf.»Wollen einen Wodka nehmen!«Er holte die Flasche vom Tisch.»Wollen Sie auch einen, Ruth?«

»Ja, einen großen.«

»Und Kern?«

»Einen doppelten.«

»Kinder, ihr macht euch!«sagte Steiner.

»Ich nehme einen aus reiner Lebensfreude«, erklärte Kern.

»Gib mir auch ein Glas«, sagte Lilo, die mit einer Platte brauner Piroggen hereinkam. Steiner schenkte ein. Dann hob er sein Glas und grinste.»Es lebe die Depression! Die dunkle Mutter der Lebensfreude!«

Lilo stellte die Platte ab und holte einen Steinkrug mit Gurken und einen Teller mit dunklem russischem Brot. Dann nahm sie ihr Glas und trank es langsam aus. Das Licht der Lampions glitzerte in der klaren Flüssigkeit, daß es schien, als tränke sie aus einem rosafarbenen Diamanten.

»Gibst du mir noch ein Glas?«fragte sie Steiner.

»Soviel du willst, mein melancholisches Steppenkind. Ruth, wie ist es mit Ihnen?«

»Auch noch einen.«

»Gebt mir auch noch einen«, sagte Kern.»Ich habe Gehaltserhöhung bekommen.«

Sie tranken und aßen dann die warmen Kohl- und Fleischpasteten. Hinterher hockte Steiner sich auf sein Bett und rauchte. Kern und Ruth setzten sich auf das Lager Kerns am Boden. Lilo ging hin und her und räumte ab. Ihr Schatten schwankte groß über die Wände des Wagens.»Sing etwas, Lilo«, sagte Steiner nach einer Weile.

Sie nickte und nahm eine Gitarre, die in der Ecke an der Wand hing. Ihre Stimme, die heiser war, wenn sie sprach, wurde klar und tief, wenn sie sang. Sie saß im Halbdunkel. Ihr sonst unbewegtes Gesicht belebte sich, und die Augen bekamen einen wilden und schwermütigen Glanz. Sie sang russische Volkslieder und die alten Wiegenlieder der Zigeuner. Nach einer Zeitlang hörte sie auf und sah Steiner an. Das Licht spiegelte sich in ihren Augen.

»Sing weiter«, sagte Steiner.

Sie nickte und griff einige Akkorde auf der Gitarre. Dann begann sie zu summen, kleine, einförmige Melodien, aus denen manchmal Worte aufstiegen wie Vögel aus dem Dunkel weiter Steppen, Lieder der Wanderschaft, der flüchtigen Ruhe unter Zelten, und es schien, als würde auch der Wagen im unruhigen Licht der Lampions zu einem Zelt, rasch aufgeschlagen in der Nacht, und morgen müßten sie alle weiter.

Ruth saß vor Kern und lehnte sich an ihn; ihre Schultern berührten seine hochgezogenen Knie, und er spürte die glatte Wärme ihres Rückens. Sie legte den Kopf zurück gegen seine Hände. Die Wärme strömte durch seine Hände in sein Blut und machte ihn hilflos vor fremden Wünschen. Es wollte etwas herein und hinaus, ein Dunkles, es war in ihm und außer ihm, es war in der tiefen, leidenschaftlichen Stimme Lilos und in dem Atem der Nacht, in der verworrenen Flucht seiner Gedanken und in der leuchtenden Flut, die ihn plötzlich hob und trug. Er legte seine Hände wie eine Schale um den schmalen Nacken vor ihm, der ihm willig entgegenkam.

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