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»Was hat sie?«fragte Lilo.

»Lungenentzündung. Aber anscheinend nicht schwer. Sie sind in Murten. Der Kleine gibt abends Feuerzeichen vor dem Hospital. Vielleicht treffe ich sie noch, wenn ich durch die Schweiz komme.«

Steiner steckte den Brief in seine Brusttasche.»Hoffentlich weiß der Kleine, was er machen muß, damit sie wieder zusammenkommen.«

»Er wird es wissen«, sagte Lilo.»Er hat viel gelernt.«

»Ja, trotzdem…«

Steiner wollte Lilo erklären, daß es schwierig für Kern sei, wenn Ruth aus dem Krankenhaus zur Grenze gebracht würde. Aber dann dachte er daran, daß sie beide sich heute abend zum letztenmal sähen – und daß es besser sei, nicht von zwei Menschen zu sprechen, die beieinander bleiben und sich wiedersehen wollten.

Er ging zum Fenster und sah hinaus. Auf dem mit Karbidlampen erleuchteten Platz packten Arbeiter die Schwäne, die Pferde und Giraffen des Karussells in graue Säcke. Die Tiere lagen und standen auf dem Boden herum, als hätte eine Bombe das paradiesische Zusammenleben plötzlich zerstört. In einer der abmontierten Gondeln saßen zwei Arbeiter und tranken Bier aus Flaschen. Sie hatten ihre Jacken und ihre Mützen über das Geweih eines weißen Hirsches gestülpt, der mit weitgestreckten Beinen, wie erstarrt zu ewigem Aufbruch, an einer Kiste lehnte.

»Komm«, sagte Lilo hinter ihm,»das Essen ist fertig. Ich habe dir Piroggen gemacht.«

Steiner drehte sich um und nahm sie um die Schulter.»Essen«, sagte er.»Piroggen. Für uns unstete Teufel ist zusammen essen schon so etwas wie eine Heimat, wie?«

»Es gibt noch etwas anderes. Aber das weißt du nicht.«Sie wartete einen Augenblick.»Du weißt es nicht, weil du nicht weinen kannst und nicht verstehst, was das ist… zusammen traurig zu sein.«

»Ja, das kenne ich nicht«, sagte Steiner.»Wir waren nicht oft traurig, Lilo.«

»Nein. Du nicht. Du bist wild oder gleichgültig, oder du lachst oder bist das, was ihr tapfer nennt. Es ist es nicht.«

»Was ist es denn, Lilo?«

»Furcht davor, sich dem Gefühl auszuliefern. Furcht vor Tränen. Furcht davor, kein Mann zu sein. In Rußland konnten Männer weinen und doch Männer bleiben und tapfer sein. Du hast dein Herz nie gelöst.«

»Nein«, sagte Steiner.

»Worauf wartest du?«

»Ich weiß es nicht. Ich will es auch nicht wissen.«

Lilo betrachtete ihn aufmerksam.»Komm essen«, sagte sie dann.»Ich werde dir Brot und Salz mitgeben wie in Rußland und dich segnen, ehe du gehst – du Unruhe ohne Fließen, vielleicht wirst du auch darüber lachen.«

»Nein.«

Sie stellte die Schüssel mit den Piroggen auf den Tisch.

»Setz dich zu mir, Lilo.«

Sie schüttelte den Kopf.»Du ißt heute allein. Ich werde dich bedienen und dir geben, was du ißt. Es ist deine letzte Mahlzeit.«Sie blieb stehen und reichte ihm die Piroggen, das Brot, das Fleisch und die Gurken. Sie sah zu, wie er aß, und breitete ihm schweigend den Tee. Sie ging biegsam mit ihren weiten Schritten durch den kleinen Wagen wie ein Panther, der einen zu engen Käfig schon gewohnt ist. Ihre schmalen, bronzenen Hände schnitten ihm das Fleisch, ihr Gesicht hatte einen gesammelten, undeutbaren Ausdruck, und sie erschien Steiner plötzlich wie eine biblische Gestalt.

Er erhob sich und holte seine Sachen. Seinen Rucksack hatte er gegen einen Koffer vertauscht, seit er einen Paß hatte. Er öffnete die Tür des Wagens, ging die Stufen langsam hinunter und stellte den Koffer draußen nieder. Dann ging er wieder zurück.

Lilo stand am Tisch. Sie hatte eine Hand aufgestützt, und ihre Augen spiegelten eine so blinde Leere, als sähen sie nichts und sie wäre schon allein. Steiner ging auf sie zu.»Lilo…«

Sie rührte sich und sah ihn an. Ihre Augen veränderten ihren Ausdruck.»Es ist schwer, fortzugehen«, sagte Steiner.

Sie nickte und legte eine Hand um seinen Nacken.»Ich werde allein sein ohne dich.«

»Wohin wirst du gehen?«

»Du wirst sicher sein in Österreich. Auch wenn es deutsch wird.«

»Ja.«

Sie blickte ihn ernst an. Ihre Augen waren sehr tief und glänzend.

»Schade, Lilo«, murmelte Steiner.

»Ja.«

»Du weißt warum?«

»Ich weiß es, und du weißt es auch von mir.«

Sie sahen sich immer noch an.»Sonderbar«, sagte Steiner,»nur ein Stück Zeit und ein Stück Leben, das zwischen uns steht. Alles andere ist da.«

»Alle Zeit, Steiner«, erwiderte Lilo sanft,»alle Zeit und unser ganzes Leben…«

Er nickte. Lilo legte ihre Hände um sein Gesicht und sprach einige russische Worte. Dann gab sie ihm ein Stück Brot und etwas Salz.»Iß es, wenn du fort bist. Es soll dir Brot ohne Kummer in der Fremde geben. Und nun geh.«

Steiner wollte sie küssen, aber er unterließ es, als er sie ansah.»Geh jetzt!«sagte sie leise.»Geh!«

Er ging durch den Wald. Nach einiger Zeit blickte er sich um. Die Budenstadt war in der Nacht versunken, und es war nichts mehr da als die ungeheure, saugende Dunkelheit mit dem Lichtviereck einer fernen, offenen Tür und eine kleine Gestalt, die nicht winkte.

15

Kern wurde nach vierzehn Tagen dem Bezirksgericht wieder vorgeführt. Der dicke Mann mit dem Apfelgesicht blickte ihn bekümmert an.»Ich muß Ihnen etwas Unangenehmes mitteilen, Herr Kern…«

Kern richtete sich gerade auf. Vier Wochen, dachte er, hoffentlich nicht mehr als vier Wochen! So lange kann Beer Ruth zur Not noch im Krankenhaus behalten.

»Der Rekurs für Sie ist vom Obergericht verworfen worden. Sie waren zu lange in der Schweiz. Der Begriff eines Notstandes war nicht mehr gerechtfertigt. Außerdem war da die Sache mit dem Gendarmen. Sie sind zu vierzehn Tagen Gefängnis verurteilt worden.«

»Zu vierzehn Tagen mehr?«

»Nein. Nur vierzehn Tage. Die Untersuchungshaft wird darauf angerechnet.«

Kern tat einen tiefen Atemzug.»Danach käme ich also heute heraus?«

»Ja. Sie haben in Ihrer Erinnerung lediglich statt in Haft im Gefängnis gesessen. Schlimm ist nur, daß Sie jetzt als vorbestraft gelten.«

»Das werde ich aushalten.«

Der Richter sah ihn an.»Es wäre besser, Sie hätten nichts im Strafregister. Aber es war nicht zu machen.«

»Werde ich heute abgeschoben?«fragte Kern.

»Ja. Über Basel.«

»Über Basel? Nach Deutschland?«Kern blickte sich blitzschnell um. Er war bereit, sofort aus dem Fenster zu springen und zu flüchten. Er hatte einige Male davon gehört, daß man Emigranten nach Deutschland abgeschoben hatte. Aber es waren meistens Flüchtlinge gewesen, die gerade aus Deutschland gekommen waren.

Das Fenster war offen, und der Gerichtsraum lag zu ebener Erde. Draußen schien die Sonne. Draußen wiegte der Apfelbaum seine Zweige, und dahinter war eine Hecke, die man überspringen konnte, und dahinter war die Freiheit.

Der Richter schüttelte den Kopf.»Sie werden nach Frankreich gebracht. Nicht nach Deutschland. Basel ist unsere deutsche und unsere französische Grenze.«

»Kann ich denn nicht in Genf über die Grenze geschoben werden?«

»Nein, das geht leider nicht. Basel ist der nächste Platz. Wir haben unsere Anweisungen dafür. Genf ist viel weiter.«

Kern schwieg einen Moment.»Es ist bestimmt, daß ich nach Frankreich abgeschoben werde?«fragte er dann.

»Ganz bestimmt.«

»Wird niemand, der hier ohne Papiere gefaßt wird, nach Deutschland abgeschoben?«

»Niemand, soviel ich weiß. Das kann höchstens in den Grenzstädten einmal passieren. Aber ich habe auch davon kaum etwas gehört.«

»Eine Frau würde doch bestimmt nicht nach Deutschland zurückgeschickt werden?«

»Sicher nicht. Ich würde es jedenfalls niemals tun. Warum wollen Sie das wissen?«

»Es hat keinen besonderen Grund. Ich habe nur unterwegs auch manchmal Frauen ohne Papiere gesehen. Für die war alles noch viel schwerer. Deshalb fragte ich.«

Der Richter nahm ein Schreiben aus den Akten und zeigte es Kern.»Hier ist Ihr Ausweisungsbefehl. Glauben Sie nun, daß Sie nach Frankreich gebracht werden?«-»Ja.«

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