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Er stand auf und ging in dem kleinen Raum hin und her. Er atmete lang und tief. Dann zog er seine Jacke aus und begann, Freiübungen zu machen. Ich darf die Nerven nicht verlieren, dachte er; dann bin ich verloren. Ich muß gesund bleiben. Er machte Kniebeugen und Rumpfdrehungen, und allmählich gelang es ihm, sich auf seinen Körper zu konzentrieren. Dann kam ihm die Erinnerung an den Abend auf der Polizeiwache in Wien und den Studenten, der Boxunterricht gegeben hatte. Er verzog das Gesicht. Ohne den Studenten wäre ich heute abend sicher nicht so gegen Ammers gewesen, dachte er. Ohne ihn nicht und ohne Steiner nicht. Ohne dieses ganze harte Leben nicht; es soll mich hart machen, aber es soll mich nicht kaputtschlagen. Ich will mich wehren. Er begann auszuholen, weich in den Beinen federnd, und schlug lange Gerade mit dem ganzen Körperschwung in das Dunkel, rechts und links, dann ein paar kurze Uppercuts dazwischen, rascher und rascher… und plötzlich schimmerte vor ihm geisterhaft der weiße Spitzbart des leberkranken Ammers durch die Finsternis, und die Sache bekam Saft und Kraft. Er schlug ihm kurze Gerade und gewaltige Schwinger um Kinn und Ohren, er pfefferte zwei wüste Herzhaken und einen grauenhaften Schlag auf den Solarplexus hinterher, und es schien ihm, als hörte er Ammers mit einem Ächzen zu Boden krachen. Aber das war ihm noch nicht genug. Er ließ ihn immer aufs neue hochkommen, und er zerschlug systematisch den Schatten des Feindes, keuchend vor Erregung, wobei ihm zum Schluß als besondere Delikatesse schwere Leberhaken einfielen. So wurde es Morgen, und er war so erschöpft und müde, daß er auf seine Pritsche fiel und sofort einschlief und die Angst der Nacht hinter sich gebracht hatte.

Zwei Tage später trat Doktor Beer in die Zelle. Kern sprang auf.»Wie geht es ihr?«

»Ganz gut; das heißt normal.«

Kern atmete auf.»Woher wußten Sie, daß ich hier bin?«

»Das war einfach. Sie kamen nicht mehr. Also mußten Sie hier sein.«

»Das stimmt. Weiß sie es?«

»Ja. Als Sie gestern abend nicht als Prometheus auftraten, hat sie Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt, mich zu erreichen. Eine Stunde später wußten wir Bescheid. Übrigens eine verrückte Idee, das mit den Streichhölzern!«

»Ja, das war es! Manchmal glaubt man, schon sehr gerissen zu sein; dann macht man gewöhnlich Dummheiten. Ich bin vorläufig zu vierzehn Tagen verurteilt. Ich komme wahrscheinlich in zwölf Tagen heraus. Ist sie dann gesund?«

»Nein. Jedenfalls noch nicht so, daß sie reisen kann. Ich denke, wir lassen sie so lange im Krankenhaus, wie es eben geht.«

»Natürlich!«Kern dachte nach.»Ich muß dann eben in Genf auf sie warten. Ich kann sie ja ohnehin nicht mitnehmen. Ich werde ja abgeschoben.«

Beer zog einen Brief aus der Tasche.»Hier! Ich habe Ihnen etwas mitgebracht.«

Kern griff hastig nach dem Brief – aber dann steckte er ihn in die Tasche.»Sie können ihn ruhig jetzt lesen«, sagte Beer.»Ich habe Zeit.«

»Nein, ich lese ihn nachher.«

»Dann gehe ich jetzt zum Krankenhaus zurück. Ich will ihr Bescheid sagen, daß ich Sie gesehen habe. Wollen Sie mir etwas mitgeben?«Beer zog einen Füllfederhalter und Briefpapier aus dem Mantel.»Ich habe alles mitgebracht.«

»Danke. Danke vielmals!«Kern schrieb rasch einen Brief; es ginge ihm gut, Ruth möge rasch gesund werden. Wenn er vorher abgeschoben werde, wolle er auf sie in Genf warten. Jeden Mittag um zwölf Uhr vor der Hauptpost. Beer werde ihr alles noch genau sagen.

Er legte den Zwanzigfrankenschein des Richters hinein und klebte den Umschlag zu.»Hier!«

»Wollen Sie nicht erst den anderen Brief lesen?«fragte Beer.

»Nein! Noch nicht. So schnell nicht. Ich habe doch den ganzen Tag nichts anderes.«

Beer sah ihn überrascht an; dann steckte er den Brief ein.»Gut. Ich werde Sie in ein paar Tagen wieder besuchen.«

»Bestimmt?«

Beer lachte.»Warum denn nicht?«

»Ja, das ist wahr! Jetzt ist ja alles in Ordnung. Wenigstens in der Beziehung. Die nächsten zwölf Tage kann nichts mehr dazwischenkommen. Keine Überraschungen. Das ist eigentlich ganz beruhigend.«

Kern nahm den Brief Ruths in die Hände, als Beer draußen war. So leicht, dachte er, ein bißchen Papier und ein paar Tintenstriche und so viel Glück.

Er legte den Brief auf die Kante seiner Pritsche. Dann machte er seine Übungen. Er boxte Ammers erneut nieder und gab ihm diesmal auch ein paar verbotene kräftige Nierenschläge.»Wir lassen uns mal nicht unterkriegen«, sagte er zu dem Brief hinüber und schickte Ammers mit einem schönen Schwinger gegen den Spitzbart abermals zu Boden. Er ruhte sich aus und unterhielt sich weiter mit dem Brief. Erst nachmittags, als es dämmerig wurde, öffnete er ihn und las die ersten Zeilen. Jede Stunde las er ein Stück weiter. Abends war er bis zur Unterschrift gekommen. Er sah die Sorge Ruths, ihre Angst, ihre Liebe und ihre Tapferkeit, und er sprang auf und schlug aufs neue auf Ammers ein. Dieser Kampf war allerdings nicht sehr sportgerecht… Ammers erhielt Ohrfeigen, Fußtritte, und zum Schluß wurde ihm der weiße Spitzbart ausgerissen.

STEINER HATTE SEINE Sachen gepackt. Er wollte nach Frankreich. Es war gefährlich in Österreich geworden, und der Anschluß an Deutschland war nur noch eine Frage der Zeit. Außerdem rüstete der Prater und das Unternehmen Direktor Potzlochs zum großen Winterschlaf.

Potzloch schüttelte Steiner die Hand.»Wir fahrenden Leute sind ja gewohnt, daß man sich trennt. Irgendwo trifft man sich immer mal wieder.«

»Bestimmt.«

»Na also!«Potzloch griff nach seinem Kneifer.»Kommen Sie gut durch den Winter. Ich bin kein Freund von Abschiedsszenen.«

»Ich auch nicht«, erwiderte Steiner.

»Wissen Sie«, Potzloch zwinkerte,»es ist eine reine Gewohnheitssache. Wenn man so viele Leute hat kommen und gehen sehen wie ich… reine Gewohnheitssache zum Schluß. Als wenn man bloß mal von der Schießbude zum Ringelspiel hinübergeht.«

»Ein schönes Bild! Von der Schießbude zum Ringelspiel… und vom Ringelspiel wieder zur Schießbude… sogar ein Bild zum Verlieben!«

Potzloch schmunzelte geschmeichelt.»Unter uns gesprochen, Steiner… wissen Sie, was das Furchtbarste ist auf der Welt? Im Vertrauen gesagt: daß alles zum Schluß Gewohnheitssache wird.«Er hakte seinen Kneifer auf die Nase.»Sogar die sogenannten Ekstasen!«

»Sogar der Krieg«, sagte Steiner.»Sogar der Schmerz! Sogar der Tod! Ich kenne jemand, dem sind in zehn Jahren vier Frauen gestorben. Jetzt hat er die fünfte. Sie kränkelt schon. Was soll ich Ihnen sagen, er schaut bereits in aller Ruhe nach der sechsten aus. Alles Gewohnheitssache! Nur der eigene Tod nicht.«

Potzloch winkte flüchtig ab.»An den glaubt man ja nie ernstlich, Steiner. Nicht einmal im Krieg; denn sonst gab’s keinen mehr. Jeder glaubt immer, gerade er käme dran vorbei. Stimmt’s?«

Er sah Steiner mit schiefem Kopf an. Steiner nickte amüsiert. Potzloch streckte ihm noch einmal die Hand hin.»Also Servus! Ich muß rasch zur Schießbude hinüber, nachsehen, ob die das Service gut einpacken.«

»Servus! Ich gehe dafür wieder einmal ins Ringelspiel.«

Potzloch grinste und sauste davon.

Steiner ging zum Wagen hinüber. Das trockene Laub knisterte unter seinen Füßen. Die Nacht stand schweigend und unbarmherzig über dem Walde. Von der Schießbude klang Hämmern herüber. Im halb abgebrochenen Karussell schwankten ein paar Lampen.

Steiner ging, sich von Lilo zu verabschieden. Sie blieb in Wien. Ihre Ausweise und ihre Arbeitserlaubnis galten nur für Österreich. Sie wäre auch nicht mitgegangen, wenn sie gekonnt hätte. Steiner und sie waren Kameraden des Schicksals, zusammengeweht vom Wind der Zeit… sie wußten das beide.

Sie stand im Wohnwagen und deckte den Tisch. Als er eintrat, wandte sie sich um.»Es ist Post für dich gekommen«, sagte sie.

Steiner nahm den Brief und sah auf die Marke.»Aus der Schweiz. Sicher von unserem Kleinen.«Er riß den Umschlag auf und las.»Ruth ist im Krankenhaus«, sagte er dann.

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