Литмир - Электронная Библиотека
A
A

18

Sie saßen in der Kantine der Weltausstellung. Es war Zahltag gewesen. Kern legte die dünnen Papierscheine rund um seinen Teller.»Zweihundertsiebzig Francs!«sagte er.»In einer Woche verdient! Und das schon zum drittenmal! Es ist ein glattes Märchen.«

Marill betrachtete ihn eine Weile amüsiert. Dann hob er sein Glas Steiner entgegen.»Wir wollen einen Schluck des Abscheus auf das Papier trinken, lieber Huber! Es ist erstaunlich, was für eine Macht es über den Menschen bekommen hat! Unsere Urväter zitterten vor Donner und Blitz, vor Tigern und Erdbeben – unsere Mittelväter vor Schwertern, Räubern, Seuchen und Gott – wir aber zittern vor dem bedruckten Papier – sei es als Geldschein oder als Paß. Der Neandertaler wurde mit der Keule erschlagen; der Römer mit dem Schwert; der Mensch des Mittelalters mit der Pest – uns aber kann man schon mit einem Stück Papier auslöschen.«

»Oder zum Leben bringen«, ergänzte Kern und betrachtete die Noten der Bank von Frankreich rund um seinen Teller.

Marill sah ihn schief an.»Was sagst du zu diesem Knaben?«fragte er Steiner.»Macht sich, was?«

»Und wie! Er gedeiht im rauhen Wind der Fremde. Mordet sogar schon Pointen.«

»Ich kannte ihn noch als Kind«, erklärte Marill.»Zart und trostbedürftig. Vor ein paar Monaten.«

Steiner lachte.»Er lebt in einem labilen Jahrhundert. Da kommt man leicht um – aber man wächst auch schnell.«

Marill nahm einen Schluck des leichten, roten Weins.»Ein labiles Jahrhundert!«wiederholte er.»Die große Unruhe! Ludwig Kern, ein junger Wandale der zweiten Völkerwanderung.«

»Stimmt nicht«, erwiderte Kern.»Ich bin ein junger Halbhebräer beim zweiten Auszug aus Ägypten!«

Marill sah Steiner anklagend an.»Dein Schüler, Huber«, sagte er.

»Nein – das Aphoristische hat er von dir, Marill! Im übrigen erhöht ein sicherer Wochenlohn den Witz jedes Menschen. Es lebe die Heimkehr der verlorenen Söhne zum Gehalt!«Steiner wandte sich an Kern.»Steck das Geld in die Tasche, Baby, sonst fliegt es weg. Geld siebt das Licht nicht.«

»Ich werde es dir geben«, sagte Kern.»Dann ist es gleich weg. Du bekommst ohnehin noch viel mehr von mir zurück.«

»Untersteh dich! Um Geld zurückzunehmen, bin ich noch lange nicht reich genug!«

Kern sah ihn an. Dann steckte er das Geld in die Tasche.»Wie lange sind heute die Geschäfte offen?«fragte er.

»Warum?«

»Heute ist doch Silvester.«

»Bis sieben, Kern«, sagte Marill.»Wollen Sie Schnaps einkaufen für heute abend? Der ist hier in der Kantine billiger. Ausgezeichneter Martinique-Rum.«

»Nein, keinen Schnaps.«

»Aha! Sie wollen dann anscheinend wohl am letzten Tage des Jahres auf den Pfaden bürgerlicher Sentiments wandeln, was?«

»So ungefähr.«Kern stand auf.»Ich will zu Salomon Levi. Vielleicht ist er heute auch sentimental und hat labilere Preise.«

»In labilen Jahrhunderten steigen die Preise«, erwiderte Marill.»Aber immer los, Kern! Gewohnheit ist nichts – Impuls alles! Und vergessen Sie über dem Schachern nicht, um acht Uhr ist das Abendessen der alten Krieger der Emigration bei der Mère Margot!«

SALOMON LEVI WAR ein behendes, wieselartiges Männchen mit einem schütteren Ziegenbart. Er hauste in einem dunklen, gewölbeartigen Raum, zwischen Uhren, Musikinstrumenten, gebrauchten Teppichen, Ölgemälden, Hausrat, Gipszwergen und Porzellantieren. Im Schaufenster waren billige Imitationen, künstliche Perlen, silbergefaßter alter Schmuck, Taschenuhren und alte Münzen sinnlos durcheinander aufgestapelt.

Levi erkannte Kern sofort wieder. Er hatte ein Gedächtnis wie ein Hauptbuch und schon manches gute Geschäft dadurch gemacht.

»Was gibt’s?«fragte er sofort kampfbereit, weil er ohne weiteres annahm, Kern wollte wieder etwas verkaufen.»Sie kommen zu einer schlechten Zeit!«

»Wieso? Haben Sie den Ring schon verkauft?«

»Verkauft, verkauft?«jammerte Levi.»Verkauft sagen Sie, wenn ich mich nicht verhört habe. Oder habe ich mich geirrt?«

»Nein.«

»Junger Mann«, zeterte Levi weiter,»lesen Sie denn keine Zeitungen? Leben Sie auf dem Mond und wissen Sie nicht, was in der Welt vorgeht? Verkauft! So alten Plunder! Verkauft! Wie Sie das sagen, so großmächtig dahin, wie der Rothschild. Wissen Se, was dazu gehört, daß mer was verkauft?«Er machte eine Kunstpause und erklärte dann pathetisch:»Daß ein femder Mensch kommt und was haben will und daß er dann seine Börse aus der Tasche zieht…«, Levi holte ein Portemonnaie hervor,»sie öffnet«- er öffnet es -»und bares, koscheres Geld herausnimmt«- er zückte einen Zehnfrankenschein -,»es hinlegt«- der Schein wurde auf dem Tisch glattgestrichen -»und dann die Hauptsache«- Levis Stimme kletterte ins Falsett -,»sich dauernd von ihm trennt!«Levi steckte den Schein wieder ein.»Und wofür? Für irgendeinen Fummel, irgend’ne Sache. Bares, koscheres Geld! Daß ich nicht lache! Nur Verrückte und Gojim machen so was. Oder ich Unglückseliger mit meiner Leidenschaft fürs Geschäft. Also was haben Sie diesmal? Viel kann ich nicht geben. Ja, vor vier Wochen, das waren noch Zeiten!«

»Ich will nichts verkaufen, Herr Levi. Ich möchte den Ring wiederkaufen.«

»Was?«Levi sperrte einen Moment den Mund auf, wie eine hungrige Goldammer im Nest. Der Bart war das Nest.»Ah, ich weiß schon, tauschen wollen Se. Nee, junger Mann, das kenn’ ich! Ich habe vor ’ner Woche noch Pech damit gehabt, ’ne Uhr, gut, sie ging nicht mehr, aber Uhr ist Uhr schließlich, gegen ein bronzenes Tischschreibzeug und einen Füllfederhalter mit Goldspitze. Was soll ich Ihnen sagen? ’reingelegt haben se mich vertrauensseligen Narren – der Füllfederhalter funktioniert nicht. Gut, die Uhr geht auch höchstens ä Viertelstund, aber es is doch längst nicht dasselbe, wenn ä Uhr nich geht oder ä Füllhalter. Ä Uhr bleibt ä Uhr trotzdem, aber ä Füllhalter, der leer ist, haben Sie Gedanken? Das ist doch ä Widersinn, das is doch, als war’ er gar nich da. Was wollten Se denn tauschen?«

»Gar nichts, Herr Levi. Ich habe kaufen gesagt. Kaufen.«

»Mit Geld?«

»Ja, mit barem Geld.«

»Aha, ich weiß schon! Irgendso ungarisches oder rumänisches oder entwertetes österreichisches Geld oder Inflationsscheine natürlich, wer kennt sich denn da aus! Erst neulich hat so einer mit’m gewichsten Schnurrbart wie Karl der Große…«

Kern holte einen Hundertfrancschein hervor und legte seine Brieftasche auf den Tisch. Levi erstarrte und stieß einen hohen Pfiff aus.»Sie sind bei Kasse? Das erstemal, daß ich so was sehe! Junger Mann, die Polizei…«

»Verdient!«sagte Kern.»Ehrlich verdient. Und nun, wo ist der Ring?«

»Momenterl!«Levi rannte fort und kam mit dem Ring von Ruths Mutter zurück. Er putzte ihn mit seinem Rockärmel blank, blies behutsam darauf, putzte ihn noch einmal und legte ihn dann auf ein Stück Samt, als wäre er ein zwanzigkarätiger Diamant.»Ä scheenes Stick«, sagte er andächtig.»Ä wirkliche Rarität!«

»Herr Levi«, sagte Kern.»Sie haben uns damals hundertfünfzig Francs für den Ring gegeben. Wenn ich Ihnen hundertachtzig wiedergebe, haben Sie zwanzig Prozent verdient. Das ist ein guter Vorschlag, was?«

Levi hörte nichts.»Ein Stück zum Verlieben«, träumte er verzückt.»Kein moderner Schund. Ware! Reelle Ware! Ich wollte es selbst behalten. Ich habe so ä kleine Sammlung, privat, für mich persönlich!«

Kern zählte hundertachtzig Francs auf den Tisch.

»Geld!«sagte Levi verächtlich,»was ist heute Geld? Bei der Entwertung! Sachwerte, das ist richtig. So ä Ringelchen, da hat man Freude daran, und es steigt noch im Wert. Doppelte Freude! Und grad Gold ist so gestiegen«, meinte er sinnend.»Vierhundert Francs wäre billig für so ein schönes Stück. Liebhaberpreise könnt man dafür haben!«

Kern erschrak.»Herr Levi!«

»Ich bin ein Mensch«, sagte Levi entschlossen,»ich trenne mich. Ich will Ihnen die Freude machen. Ich will nichts verdienen, weil heute Silvester ist! Dreihundert Francs, fertig, und wenn ich verblute.«

72
{"b":"99691","o":1}