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Die Polizisten betrachteten ihn wie ein seltenes Insekt. Keiner von ihnen erwiderte etwas. Der Kleine starrte sie einen Moment fassungslos an. Dann drehte er sich ohne ein Wort wieder um und ging zurück, auf das Getümmel zu. Er war noch keine zehn Schritte weit gekommen, als sich zwei Studenten aus dem großen Haufen lösten. Sie stürmten auf ihn zu.»Saujud!«schrie der vorderste.»Der Saujud jammert nach Gerechtigkeit! Sollst du haben!«

Er schlug ihn mit einem klatschenden Schlag ins Gesicht nieder. Der Kleine versuchte, wieder hochzukommen. Der andere stieß ihn mit einem Tritt vor den Bauch zurück. Dann packten beide ihn an den Beinen und schleiften ihn wie einen Karren über das Pflaster. Der Kleine versuchte sich vergebens an den Steinen festzukrallen. Sein weißes Gesicht starrte wie eine Maske des Entsetzens zurück zu den Polizisten. Der Mund war wie ein schwarzes, offenes Loch, aus dem Blut über das Kinn lief. Er schrie nicht.

Kern spürte seinen Gaumen trocken werden. Er hatte das Gefühl, auf die beiden losspringen zu müssen. Aber er sah, daß die Polizisten ihn beobachteten, und steif und verkrampft vor Wut ging er zur andern Ecke des Platzes hinüber.

Die beiden Studenten kamen mit ihrem Opfer dicht an ihm vorüber. Ihre Zähne schimmerten, sie lachten, und ihre Gesichter wiesen nicht die Spur von Bosheit auf. Sie leuchteten einfach nur von aufrichtigem, unschuldigem Vergnügen – als trieben sie irgendeinen Sport und schleiften nicht einen Menschen blutig.

Plötzlich kam Hilfe. Ein großer, blonder Student, der bisher herumgestanden hatte, verzog angewidert das Gesicht, als der Kleine an ihm vorbeigeschleppt wurde. Er streifte die Ärmel seiner Jacke etwas hoch, machte ein paar langsame Schritte und schlug dann mit zwei kurzen, wuchtigen Schlägen die Peiniger des Kleinen nieder.

Er hob den verschmierten Kleinen am Kragen hoch und stellte ihn auf die Beine.»So, nun mach, daß du wegkommst«, knurrte er.»Aber schnell!«

Darauf ging er, ebenso langsam und nachdenklich wie vorher, auf den tobenden Haufen zu. Er besah sich den schwarzhaarigen Anführer und gab ihm dann einen so furchtbaren Hieb auf die Nase und sofort hinterher einen fast unsichtbaren Schlag gegen das Kinn, daß er krachend aufs Pflaster stürzte.

In diesem Augenblick erblickte Kern Ruth. Sie hatte ihre Mütze verloren und befand sich am Rande des Getümmels. Er lief auf sie zu.»Rasch! Komm rasch, Ruth! Wir müssen hier weg!«

Sie erkannte ihn im ersten Augenblick nicht.»Die Polizei!«stammelte sie, blaß vor Erregung,»die Polizei muß helfen!«

»Die Polizei hilft nicht! Sie darf uns hier auch nicht erwischen! Wir müssen fort, Ruth!«

»Ja.«Sie sah ihn wie erwachend an. Ihr Gesicht veränderte sich. Es schien, als wollte sie weinen.»Ja, Ludwig«, sagte sie mit einer sonderbar zerbrochenen Stimme.»Komm, fort!«

»Ja, rasch!«Kern nahm ihren Arm und zog sie mit sich. Hinter sich hörten sie Geschrei. Es gelang der Gruppe jüdischer Studenten durchzubrechen. Ein Teil von ihnen lief über den Platz. Das Gedränge verschob sich, und plötzlich waren Kern und Ruth mittendrin.

»Ah, Rebekka! Sarah!«Einer der Angreifer griff nach Ruth.

Kern spürte etwas wie das Abschnellen einer Feder. Er war aufs höchste überrascht, den Studenten langsam zusammensinken zu sehen. Er war sich nicht bewußt, geschlagen zu haben.

»Hübscher Gerader!«sagte jemand anerkennend neben ihm.

Es war der große blonde Student, der soeben zwei andere mit den Köpfen zusammenschlug.»Nichts Edles verletzt!«sagte er, ließ sie fallen wie nasse Säcke und griff nach zwei andern.

Kern bekam einen Schlag mit einem Spazierstock über den Arm. Er sprang wütend los, in einen roten Nebel hinein und schlug um sich. Er zerschmetterte eine Brille und rannte jemand um. Dann dröhnte es furchtbar, und der rote Nebel wurde schwarz.

ER ERWACHTE AUF der Polizeistation. Sein Kragen war zerrissen, seine Backe blutete, und sein Kopf dröhnte immer noch. Er setzte sich auf.

»Servus!«sagte jemand neben ihm. Es war der große blonde Student.

»Verdammt!«erwiderte Kern.»Wo sind wir?«

Der andere lachte.»In Haft, mein Lieber. Ein, zwei Tage, dann lassen sie uns schon wieder ’raus.«

»Mich nicht.«Kern sah sich um. Sie waren zu acht. Außer dem Blonden alles Juden. Ruth war nicht dabei.

Der Student lachte wieder.»Was sehen Sie sich so um? Sie meinen, die Falschen wären hier? Irrtum, mein Lieber! Nicht der Angreifer, der Angegriffene ist schuldig! Er ist die Ursache des Ärgernisses. Modernste Psychologie.«

»Haben Sie gesehen, was aus dem Mädchen geworden ist, mit dem ich zusammen war?«fragte Kern.

»Das Mädchen?«Der Blonde dachte nach.»Es wird ihr nichts passiert sein. Was soll ihr schon geschehen? Mädchen läßt man doch in Ruhe bei einer Prügelei.«

»Sind Sie dessen sicher?«

»Ja. Ziemlich. Außerdem kam ja doch gleich die Polizei.«

Kern starrte vor sich hin. Die Polizei. Das war es ja. Aber Ruths Paß war noch gültig. Man konnte ihr nicht allzuviel tun. Doch auch das war schon zuviel.

»Sind außer uns noch mehr verhaftet worden?«fragte er.

Der Blonde schüttelte den Kopf.»Ich glaube nicht. Ich war der letzte. An mich gingen sie nur zögernd ’ran.«

»Bestimmt nicht?«

»Nein. Dann wären sie auch hier. Wir sind ja vorläufig noch auf der Wachstube.«

Kern atmete auf. Vielleicht war Ruth nichts passiert.

Der blonde Student betrachtete ihn ironisch.»Katzenjammer, was? Geht einem immer so, wenn man unschuldig ist. Besser, man hat einen Grund für das, was einem passiert. Sehen Sie, der einzige, der nach gutem, altem Recht hier sitzt, bin ich. Ich habe mich freiwillig eingemischt. Deshalb bin ich auch fröhlich.«

»Es war anständig von Ihnen.«

»Ach, anständig!«Der Blonde machte eine wegwerfende Handbewegung.»Ich bin ein alter Antisemit. Aber bei so einer Schlächterei kann man doch nicht zuschauen. Sie haben übrigens einen schönen, kurzen Geraden geschlagen. Trocken und schnell. Irgendwann boxen gelernt?«

»Nein.«

»Dann sollten Sie es lernen. Sie haben gute Anlagen. Sind nur viel zu hitzig. Wenn ich der Papst der Juden wäre, würde ich ihnen jeden Tag eine Stunde Boxen verordnen. Solltet sehen, wie die Brüder Respekt vor euch kriegten.«

Kern griff sich vorsichtig an den Kopf.»Mir ist im Moment nicht nach Boxen zumute.«

»Gummiknüppel«, erklärte der Student sachlich.»Unsere brave Polizei. Immer auf der Seite der Sieger. Heute abend ist Ihr Schädel besser. Dann fangen wir an zu üben. Irgendwas müssen wir ja zu tun haben.«Er zog die langen Beine auf die Pritsche und sah sich um.»Zwei Stunden sind wir nun schon hier! Verdammt langweilige Bude! Wenn wir wenigstens ein Spiel Karten hätten! Schwarzen Peter kann doch irgendeiner spielen.«Er musterte die jüdischen Studenten verächtlich.

»Ich habe ein Spiel bei mir.«Kern griff in die Tasche. Steiner hatte ihm damals das Spiel des Taschendiebes geschenkt. Er trug es seitdem stets als eine Art von Amulett mit sich.

Der Student sah ihn anerkennend an.»Alle Achtung! Aber sagen Sie mir jetzt nur nicht, daß Sie Bridge spielen! Alle Juden spielen Bridge, sonst nichts.«

»Ich bin Halbjude. Ich spiele Skat, Tarock, Jaß und Poker«, erwiderte Kern mit einem Anflug von Stolz.

»Erstklassig. Da sind Sie mir über. Jaß kann ich nicht.«

»Es ist ein Schweizer Spiel. Ich werde es Ihnen beibringen, wenn Sie wollen.«

»Gut. Ich gebe Ihnen dann dafür Ihre Boxlektion. Austausch geistiger Werte.«

Sie spielten bis abends. Die jüdischen Studenten unterhielten sich inzwischen über Politik und Gerechtigkeit. Sie kamen zu keinem Resultat. Kern und der Blonde spielten zuerst Jaß; später Poker. Kern gewann im Poker sieben Schilling. Er war ein guter Schüler Steiners geworden. Sein Kopf wurde allmählich klarer. Er vermied es, an Ruth zu denken. Er konnte nichts für sie tun; Grübeln allein hätte ihn schwach gemacht. Und er wollte seine Nerven zusammen haben für die Vernehmung vor dem Richter.

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