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Der Blonde warf die Karten zusammen und zahlte Kern aus.»Jetzt kommt der zweite Teil«, sagte er.»Los! ’ran, um ein zweiter Dempsey zu werden.«

Kern stand auf. Er war noch sehr schwach.»Ich glaube, es geht nicht«, sagte er.»Mein Kopf verträgt noch keinen zweiten Schlag.«

»Ihr Kopf war klar genug, mir sieben Schilling abzunehmen«, erwiderte der Blonde grinsend.»Vorwärts, überwinden Sie den inneren Schweinehund! Lassen Sie das arische Raufboldblut in sich sprechen! Geben Sie der humanen jüdischen Hälfte einen Stoß!«

»Das tue ich schon seit einem Jahr.«

»Ausgezeichnet. Also schonen wir vorerst den Kopf. Fangen wir mit den Beinen an. Die Hauptsache beim Boxen ist die Leichtigkeit der Füße. Sie müssen tänzeln. Tänzelnd schlägt man dem Gegner die Zähne ein. Angewandter Nietzsche!«

Der Blonde stellte sich in Positur, wiegte sich in den Knien und machte eine Anzahl Wechselschritte vorwärts und zurück.»Machen Sie das nach.«Kern machte es nach.

Die jüdischen Studenten hatten aufgehört zu diskutieren. Einer von ihnen, mit einer Brille, stand auf.»Würden Sie mich auch unterrichten?«fragte er.

»Natürlich! Brille ’runter und ’ran!«Der Blonde klopfte ihm auf die Schulter.»Altes Makkabäerblut, rausche auf!«

Es meldeten sich noch zwei Schüler. Die übrigen blieben abweisend, aber neugierig auf den Pritschen sitzen.

»Zwei nach rechts, zwei nach links!«dirigierte der Blonde.»Und nun auf, zum Blitzkurs! Jahrtausendelang vernachlässigte Erziehung zum Rohling nachholen. Der Arm schlägt nicht – der ganze Körper schlägt…«

Er legte sein Jackett ab. Die andern folgten ihm. Dann begann eine kurze Erklärung der Körperarbeit und eine Probe. Die vier hüpften eifrig in der halbdunklen Zelle herum.

Der Blonde überblickte väterlich seine schwitzende Schülerschar.»So«, erklärte er nach einer Weile,»das kennt ihr nun! Übt es, während ihr eure acht Tage absitzt wegen Aufreizung echter Arier zum Rassenhaß. Nun tief atmen ein paar Minuten! Verschnaufen! Und jetzt zeige ich euch den kurzen Geraden, das federnde Mittelstück der Boxerei!«

Er machte vor, wie man schlagen mußte. Dann nahm er seine Jacke, ballte sie zusammen, hielt sie in Gesichtshöhe und ließ die andern danach schlagen. Als sie mitten im besten Üben waren, ging die Tür auf. Ein Kalfaktor kam herein mit ein paar dampfenden Näpfen.»Das ist doch…«Er stellte die Näpfe rasch ab und schrie zurück:»Wache! Schnell! Die Bande prügelt sich sogar auf der Polizei weiter!«

Zwei Wachleute kamen hereingestürzt. Der blonde Student legte ruhig seine Jacke weg. Die vier Boxschüler hatten sich rasch in die Ecken verdrückt.»Rhinozeros!«sagte der Blonde mit großer Autorität zum Kalfaktor.»Schafskopf! Tepperter Gefängniswedel!«Dann wandte er sich an die Wachleute.»Was Sie hier sehen, ist eine Unterrichtsstunde in moderner Humanität. Ihr Erscheinen, die lechzende Hand am Gummiknüppel, war überflüssig, verstanden?«

»Nein«, sagte einer der Wachleute.

Der Blonde sah ihn mitleidig an.»Körperliche Ertüchtigung. Gymnastik! Freiübungen! Nun verstanden? Soll das da unser Abendessen sein?«

»Klar«, bestätigte der Kalfaktor.

Der Blonde beugte sich über einen der Näpfe und verzog angewidert das Gesicht.»Hinaus damit!«schnauzte er dann plötzlich scharf.»Diesen Dreck wagt ihr hereinzubringen? Spülwasser für den Sohn des Senatspräsidenten? Wollt ihr degradiert werden?«Er blickte die Wachleute an.»Ich werde mich beschweren! Ich wünsche sofort den Bezirksleiter zu sprechen! Führen Sie mich auf der Stelle zum Polizeipräsidenten! Morgen wird mein Vater dem Justizminister euretwegen die Hölle heiß machen!«

Die beiden Wachleute starrten zu ihm auf. Sie wußten nicht, ob sie grob werden konnten oder vorsichtig sein mußten. Der Blonde fixierte sie.»Herr«, sagte schließlich der ältere vorsichtig,»das hier ist die normale Gefängniskost.«

»Bin ich im Gefängnis?«Der Blonde war eine einzige Beleidigung.»Ich bin in Haft! Kennen Sie den Unterschied nicht?«

»Doch, doch…«Der Wachmann war sichtlich eingeschüchtert.»Sie können sich natürlich selbst verköstigen, mein Herr! Das ist Ihr Recht. Wenn Sie bezahlen wollen, kann der Kalfaktor Ihnen ein Gulasch holen…«

»Endlich ein vernünftiges Wort!«Die Haltung des Blonden milderte sich.

»Und vielleicht ein Bier dazu…«

Der Blonde sah den Wachmann an.»Sie gefallen mir! Ich werde mich für Sie verwenden! Wie ist Ihr Name?«

»Rudolf Egger.«

»Recht so! Weitermachen!«Der Student zog Geld aus der Tasche und gab es dem Kalfaktor.»Zwei Rindsgulasch mit Erdäpfeln. Eine Flasche Zwetschgenwasser…«

Der Wachmann Rudolf Egger öffnete den Mund.»Alkoholische…«

»Sind erlaubt«, vollendete der Blonde.»Zwei Flaschen Bier, eine für die Wachleute, eine für uns!«

»Danke vielmals, küß’ die Hand!«sagte Rudolf Egger.

»Wenn das Bier nicht frisch und eiskalt ist«, erklärte der Sohn des Senatspräsidenten dem Kalfaktor,»säge ich dir einen Fuß ab. Wenn es gut ist, behältst du den Rest des Geldes.«

Der Kalfaktor verzog fröhlich das Gesicht.»Werd’s schon machen, Herr Graf!«Er strahlte.»So was von einem echten, goldenen Wiener Humor!«

Das Essen kam. Der Student lud Kern ein. Der wollte anfangs nicht. Er sah die Juden mit ernsten Gesichtern das Spülwasser essen.»Seien Sie ein Verräter! Das ist modern!«ermunterte ihn der Student.»Und außerdem ist das hier ein Essen unter Kartenspielern.«

Kern setzte sich nieder. Das Gulasch war gut, und schließlich hatte er keinen Paß und war zudem ein Mischling.

»Weiß Ihr Vater, daß Sie hier sind?«fragte er.

»Lieber Gott!«Der Blonde lachte.»Mein Vater! Der hat ein Weißwarengeschäft in Linz.«

Kern sah ihn überrascht an.

»Mein Lieber«, sagte der Student ruhig.»Sie scheinen noch nicht zu wissen, daß wir im Zeitalter des Bluffs leben. Die Demokratie ist durch die Demagogie abgelöst worden. Eine natürliche Folge. Prost!«

Er entkorkte das Zwetschgenwasser und bot dem Studenten mit der Brille ein Glas an.

»Danke, ich trinke nicht«, erwiderte der verlegen.

»Natürlich! Hätte ich mir denken können!«Der Blonde kippte das Glas selbst herunter.»Schon deshalb werden die andern euch ewig verfolgen! Wie ist es mit uns beiden, Kern? Wollen wir die Flasche leermachen?«-»Ja.«

Sie tranken die Flasche aus. Dann legten sie sich auf die Pritschen. Kern glaubte, er könne schlafen. Aber er wachte alle Augenblicke wieder auf. Verdammt, was haben sie mit Ruth gemacht, dachte er. Und wie lange werden sie mich hier einsperren?

Er bekam zwei Monate Gefängnis. Körperverletzung, Aufruhr, Widerstand gegen die Staatsgewalt, wiederholter, illegaler Aufenthalt – er wunderte sich, daß er nicht zehn Jahre bekam.

Er verabschiedete sich von dem Blonden, der um dieselbe Zeit freigelassen wurde. Dann führte man ihn nach unten. Er mußte seine Sachen abgeben und erhielt Gefängniskleidung. Während er unter der Dusche stand, fiel ihm ein, daß es ihn einmal bedrückt hatte, als man ihm Handschellen anlegte. Es schien ihm endlos lange her zu sein. Jetzt fand er die Gefängniskleidung nur praktisch; er schonte so seine Privatsachen.

Seine Mitgefangenen waren ein Dieb, ein kleiner Defraudant und ein russischer Professor aus Kasan, der als Landstreicher eingesperrt worden war. Alle vier arbeiteten in der Schneiderei des Gefängnisses.

Der erste Abend war schlimm. Kern erinnerte sich an das, was Steiner ihm damals gesagt hatte – daß er sich gewöhnen werde. Aber er saß trotzdem auf seiner Pritsche und starrte gegen die Wand.

»Sprechen Sie Französisch?«fragte ihn der Professor plötzlich von seiner Pritsche her.

Kern schreckte auf.»Nein.«

»Wollen Sie es lernen?«

»Ja. Wir können gleich anfangen.«

Der Professor stand auf.»Man muß sich beschäftigen, wissen Sie! Sonst fressen einen die Gedanken auf.«

»Ja.«Kern nickte.»Ich kann es außerdem gut gebrauchen. Ich werde wohl nach Frankreich müssen, wenn ich ’rauskomme.«

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