Sie setzten sich nebeneinander auf die Ecke der unteren Pritsche. Über ihnen rumorte der Defraudant. Er hatte einen Bleistiftstummel und bemalte die Wände mit schweinischen Zeichnungen. Der Professor war sehr mager. Die Gefängniskluft war ihm viel zu weit. Er hatte einen roten, wilden Bart und ein Kindergesicht mit blauen Augen.»Fangen wir an mit dem schönsten und vergeblichsten Wort der Welt«, sagte er mit einem wunderschönen Lächeln ohne jede Ironie -»mit dem Wort Freiheit – la liberté.«
KERN LERNTE VIEL in dieser Zeit. Nach drei Tagen konnte er bereits beim Spazierengehen auf dem Hof mit den Gefangenen vor und hinter sich sprechen, ohne die Lippen zu bewegen. In der Schneiderei memorierte er auf dieselbe Weise eifrig mit dem Professor französische Verben. Abends, wenn er müde vom Französischen war, brachte ihm der Dieb bei, aus einem Draht Dietriche zu machen und wachsame Hunde zu beschwichtigen. Er lehrte ihn auch die Reifezeiten aller Feldfrüchte und die Technik, unbemerkt in Heuschober zu kriechen, um dort zu schlafen. Der De-fraudant hatte einige Hefte der»Eleganten Welt«eingeschmuggelt. Es war außer der Bibel das einzige, was sie zu lesen hatten, und sie lernten daraus, wie man sich bei diplomatischen Empfängen zu kleiden hatte und wann man zum Frack eine rote oder eine weiße Nelke zu tragen hatte. Leider war der Dieb in einem Punkte unbelehrbar; er behauptete, zum Frack gehöre eine schwarze Krawatte – er habe es in genug Lokalen bei Kellnern gesehen.
Als sie am Morgen des fünften Tages herausgeführt würden, stieß der Kalfaktor Kern so heftig an, daß er gegen die Wand taumelte.»Paß auf, du Esel!«brüllte er.
Kern tat, als ob er sich nicht auf den Füßen halten könnte. Er wollte auf diese Weise den Kalfaktor gegen das Schienbein treten, ohne daß er bestraft werden konnte. Es hätte dann wie ein Zufall ausgesehen. Doch bevor es dazu kam, zupfte der Kalfaktor ihn am Ärmel und flüsterte:»Melde dich in einer Stunde zum Austreten. Sag, du hast Bauchkrämpfe. Vorwärts!«schrie er dann.»Meinst du, wir können auf dich warten?«
Kern überlegte während des Spazierganges, ob der Kalfaktor ihn mit irgend etwas ’reinlegen wollte. Beide konnten sich nicht leiden. Er besprach die Sache nachher lautlos flüsternd in der Schneiderei mit dem Dieb, der Gefängnisfachmann war.
»Austreten kannst du immer«, erklärte der.»Das ist dein menschliches Recht. Damit kann er dir nichts machen. Manche treten öfter aus, manche weniger, das ist die Natur. Aber paß nachher auf.«
»Gut. Mal sehen, was er will. Auf jeden Fall ist es eine Abwechslung.«
Kern simulierte Bauchschmerzen, und der Kalfaktor führte ihn hinaus. Er brachte ihn zum Lokus und sah sich um.»Zigarette?«fragte er.
Es war verboten zu rauchen. Kern lachte.»Das ist es also! Nein, mein Lieber, damit kriegst du mich nicht.«
»Ach, halt’s Maul. Meinst du, ich will dich ’reinlegen? Kennst du Steiner?«
Kern starrte den Kalfaktor an.»Nein«, sagte er dann. Er vermutete, daß es eine Falle war, um Steiner zu fangen.
»Du kennst Steiner nicht?«
»Nein.«
»Schön, dann paß auf. Steiner läßt dir sagen, daß Ruth in Sicherheit ist. Du brauchst keine Sorge zu haben. Wenn du herauskommst, sollst du dich nach der Tschechei ausweisen lassen und zurückkommen. Kennst du ihn nun?«
Kern spürte plötzlich, daß er zitterte.»Jetzt eine Zigarette?«fragte der Kalfaktor.
Kern nickte. Der Kalfaktor zog eine Schachtel Memphis und ein Paket Streichhölzer aus der Tasche.»Hier, nimm! Von Steiner. Wenn du erwischt wirst, hast du sie nicht von mir gekriegt. Und nun setz dich da hinein und rauch eine. Blas den Rauch in die Brille. Ich gebe draußen acht.«
Kern setzte sich auf die Brille. Er nahm eine Zigarette heraus, brach sie in zwei Teile und zündete die eine Hälfte an. Er rauchte langsam und tief. Ruth war in Sicherheit. Steiner paßte auf. Er starrte auf die schmutzige Wand mit den obszönen Zeichnungen und glaubte, es sei der schönste Raum der Welt.
»Warum hast du mir denn nicht gesagt, daß du Steiner kennst?«sagte der Kalfaktor zu ihm, als er wieder herauskam.
»Nimm eine Zigarette«, sagte Kern.
Der Kalfaktor schüttelte den Kopf.»Kommt nicht in Frage!«
»Woher kennst du ihn denn?«fragte Kern.
»Er hat mich einmal aus einem Senf herausgeholt. Verdammter Senf. Nun komm!«
Sie gingen zurück in die Schneiderei. Der Professor und der Dieb sahen Kern an. Er nickte und setzte sich.»In Ordnung?«fragte der Professor lautlos.
Kern nickte wieder.
»Also weiter«, flüsterte der Professor in seinen roten Bart.»Aller. Unregelmäßiges Verb. Je vais, tu vas, il…«
»Nein«, erwiderte Kern.»Heute wollen wir ein anderes nehmen. Was heißt: lieben?«
»Lieben? Aimer. Aber das ist ein regelmäßiges Verb…«
»Eben deshalb«, sagte Kern.
DER PROFESSOR WURDE nach vier Wochen entlassen. Der Dieb nach sechs; der Defraudant ein paar Tage später. Er versuchte, Kern in den letzten Tagen zur Homosexualität zu bekehren; aber Kern war kräftig genug, ihn sich vom Leibe zu halten. Er schlug ihn einmal mit dem kurzen Geraden des blonden Studenten k. o.; dann hatte er Ruhe.
Er war einige Tage allein; dann bekam er zwei neue Zellengenossen. Er erkannte sofort, daß es Emigranten waren. Der eine war älter und sehr schweigsam, der jüngere ungefähr dreißig Jahre alt. Sie trugen abgeschabte Anzüge, denen man die Mühe ansah, mit der sie saubergehalten wurden.
Der ältere legte sich sofort auf die Pritsche.
»Wo kommen Sie her?«fragte Kern den jüngeren.
»Aus Italien.«
»Wie ist es da?«
»Es war gut. Ich war zwei Jahre dort. Jetzt ist es vorbei. Sie kontrollieren alles.«
»Zwei Jahre!«sagte Kern.»Das will was heißen!«
»Ja, aber hier haben sie mich nach acht Tagen gefaßt. Geht das immer so?«
»Es ist schlimmer geworden im letzten halben Jahr
Der Neue stützte den Kopf in die Hände.»Es wird überall schlimmer. Was soll daraus noch werden? Wie ist es in der Tschechoslowakei?«
»Auch schlimmer. Es sind zu viele da. Waren Sie in der Schweiz?«
»Die Schweiz ist zu klein. Man fällt rasch auf.«Der Mann starrte vor sich hin.»Ich hätte doch nach Frankreich gehen sollen.«
»Können Sie Französisch?«
»Ja, natürlich.«Der Mann wühlte in seinem Haar.
Kern sah ihn an.»Wollen wir etwas Französisch sprechen? Ich habe es gerade gelernt und möchte es nicht vergessen.«
Der Mann blickte erstaunt hoch.»Französisch sprechen?«Er lachte trocken auf.»Nein, das kann ich nicht! Ins Gefängnis geworfen werden und dann französische Konversation machen – das ist zu absurd! Wahrhaftig, Sie scheinen sonderbare Ideen zu haben.«
»Gar nicht. Ich führe nur ein sonderbares Leben.«
Kern wartete noch eine Weile, ob der Mann nicht nachgeben würde. Dann kletterte er auf seine Pritsche und wiederholte solange unregelmäßige Verben, bis er endlich einschlief.
Er erwachte davon, daß ihn jemand rüttelte. Es war der Mann, der nicht französisch sprechen wollte.»Helfen Sie!«keuchte er.»Schnell! Er hat sich erhängt!«
Kern richtete sich verschlafen auf. Im fahlen Grau des frühen Morgens hing eine schwarze Gestalt mit gesenktem Kopf am Fenster. Er sprang von seiner Pritsche.»Ein Messer! Rasch!«
»Verdammt, nein! Abgenommen! Ich werde ihn hochheben. Streifen Sie den Riemen über seinen Kopf!«
Kern stieg auf die Pritsche und versuchte, den Erhängten anzuheben. Er war schwer wie die Welt. Er war viel schwerer, als er aussah. Seine Kleider waren kalt und tot wie er. Kern faßte mit aller Kraft zu. Er konnte ihn nur mit Mühe heben.»Los!«keuchte er.»Riemen lockern! Ich kann ihn nicht lange so halten.«
»Ja.«Der andere kletterte hinauf und machte sich am Halse des Erhängten zu schaffen. Plötzlich ließ er los, schwankte und erbrach sich.
»Verfluchte Sauerei!«schrie Kern.»Weiter können Sie nichts? Machen Sie ihn los! Schnell!«