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»Das geht nicht. Ich kann Ihnen nicht Gelegenheit zur Flucht geben.«

»Ich werde nicht flüchten. Das Zimmer liegt im fünften Stock und hat keine Nebenausgänge. Wenn mich jemand hinbringt und die Tür bewacht, kann ich nichts machen. Ich bitte Sie nicht für mich; ich bitte Sie für eine sterbende Frau.«

»Unmöglich«, sagte der Beamte.»Ich habe nicht die Kompetenz dafür.«

»Sie haben die Kompetenz. Sie können mich noch einmal verhören lassen. Und Sie können mir die Zusammenkunft ermöglichen. Der Grund könnte sein, daß ich vielleicht mit meiner Frau etwas spreche, was wichtig zu erfahren ist. Das wäre auch der Grund, weshalb meine Bewachung draußenbleiben würde. Sie könnten anordnen, daß die Schwester, die ja zuverlässig ist, im Zimmer bleibt, um zu hören, was gesprochen wird.«

»Das ist alles Unsinn. Ihre Frau wird Ihnen nichts sagen und Sie ihr nichts.«

»Natürlich nicht. Sie weiß ja nichts. Aber sie würde ruhig sterben.«

Der Beamte dachte nach und blätterte in den Akten.»Wir haben Sie damals verhört, über die Gruppe VII. Sie haben keine Namen genannt. Inzwischen haben wir Müller, Böse und Welldorf gefunden. Wollen Sie uns die übrigen Namen nennen?«

Steiner schwieg.

»Wollen Sie uns die Namen nennen, wenn ich Ihnen ermögliche, zwei Tage zu Ihrer Frau zu gehen?«

»Ja«, sagte Steiner nach einer Weile.

»Dann sagen Sie sie mir.«

Steiner schwieg.

»Wollen Sie mir morgen abend zwei Namen nennen und die andern übermorgen?«

»Ich werde Ihnen die Namen übermorgen nennen.«

»Versprechen Sie das?«

»Ja.«

Der Beamte sah ihn lange an.»Ich werde sehen, was ich tun kann. Sie werden jetzt in Ihre Zelle zurückgebracht.«

»Wollen Sie mir den Brief zurückgeben?«fragte Steiner.

»Den Brief? Er muß bei den Akten bleiben.«Der Beamte betrachtete ihn unschlüssig.»Es steht nichts Belastendes darin. Gut, nehmen Sie ihn mit.«

»Danke«, sagte Steiner.

Der Beamte klingelte und ließ Steiner abführen. Schade, dachte er, aber was soll man machen? Man kommt ja selbst in des Teufels Küche, wenn man etwas wie Menschlichkeit verrät. Er hieb plötzlich mit der Faust auf den Tisch.

MORITZ ROSENTHAL LAG in seinem Bett. Er war seit Tagen zum erstenmal ohne Schmerzen. Es war früher Abend, und in der silbrig blauen Dämmerung der Pariser Februartage leuchteten die ersten Lichter auf. Moritz Rosenthal beobachtete, ohne den Kopf zu bewegen, wie die Fenster des gegenüberliegenden Hauses hell wurden; es schwamm wie ein Riesenschiff in der Dämmerung, wie ein Ozeandampfer kurz vor der Abfahrt. Das Mauerstück zwischen den Fenstern warf einen langen dunklen Schatten herüber zum Hotel Verdun; er sah aus wie ein Landungssteg aus Schatten, der darauf wartete, daß man hinüberging.

Moritz Rosenthal regte sich nicht; er lag in seinem Bett, aber er sah, wie plötzlich die Fenster sich weit öffneten und wie jemand, der ihm glich, aufstand und hinausschritt. Über den Schatten hinweg, hinüber zu dem Schiff, das in der langen Dämmerung des Lebens sacht schwankte und nun die Anker lichtete und langsam davonglitt. Das Zimmer um ihn herum zerbarst wie eine mürbe Pappschachtel in der Strömung und wirbelte davon. Straßen rauschten vorüber, Wälder glitten unter dem Bug entlang, Nebel, das Schiff hob sich sanft in das leise Brausen der Unendlichkeit, Wolken schwammen heran, Sterne und tiefes Blau, und dann, in diesem Wiegen wie ein Wiegenlied, wölbte sich ihm eine Küste entgegen, aus Rosa und Gold, die dunkle Landungsbrücke senkte sich lautlos wieder herab, Moritz Rosenthal schritt sie entlang, hinunter, und als er sich umblickte, war das Schiff nicht mehr da, und er war allein an der fremden Küste.

Eine lange, ebene Straße breitete sich vor seinen Füßen aus. Der alte Wanderer besann sich nicht lange; eine Straße war dazu da, sie entlangzugehen – und seine Füße kannten viele Straßen.

Aber schon nach kurzer Zeit hob sich hinter silbernen Bäumen ein funkelndes, mächtiges Tor hervor, hinter dem es von Kuppeln und Türmen blitzte. Eine große Gestalt in Licht und Schimmer stand mit einem Krummstabe mitten vor dem Eingang.

Der Zoll! dachte Moritz Rosenthal erschrocken und sprang hinter ein Gebüsch. Er sah sich um. Zurück konnte er nicht mehr; es ging da ins Nichts hinab. Es hilft nichts, dachte der alte Emigrant ergeben, ich werde mich hier versteckt halten müssen, bis es Nacht wird. Vielleicht kann ich dann seitlich wegschleichen und irgendwo hintenherum vorbeikommen. Er schielte zwischen einer Astgabel von Karfunkel und Onyx hindurch und sah, daß der gewaltige Wächter mit seinem Stabe winkte. Er blickte sich noch einmal um. Außer ihm war niemand da. Der Wächter winkte wieder.»Vater Moritz!«rief eine sanfte, hallende Stimme. Ruf nur, dachte Moritz Rosenthal, ich melde mich nicht.

»Vater Moritz«, rief die Stimme wieder,»komm hinter dem Busch der Mühsal hervor.«

Moritz stand auf. Erwischt, dachte er. Bestimmt kann der Riese schneller laufen als ich; es nützt nichts, ich muß hingehen.

»Vater Moritz!«rief die Stimme wieder.

»Kennen tut er mich auch, so ein Pech!«murmelte Moritz.»Ich muß also hier auch schon mal ausgewiesen worden sein. Das gibt dann nach den neuesten Gesetzen mindestens drei Monate Gefängnis. Hoffentlich ist wenigstens das Essen gut. Und sie geben mir nicht die Familienzeitschrift von 1902 zum Lesen, sondern was Moderneres. Irgendwas von Hemingway möchte ich gerne mal lesen.«

Das Tor wurde immer heller und strahlender, je näher er kam. Was sie jetzt für Lichteffekte an den Grenzen haben, grübelte Moritz, man kann gar nicht mehr erkennen, wo man ist. Vielleicht haben sie neuerdings alles erleuchtet, um uns besser zu erwischen. Eine Verschwendung!

»Vater Moritz«, sagte der Türhüter,»weshalb versteckst du dich denn?«

»Auch ’ne Frage, dachte Moritz, wo er mich doch kennt und weiß, was mit mir los ist.

»Geh hinein«, sagte der Türwächter.

»Hören Se«, erwiderte Moritz,»bis jetzt bin ich meiner Ansicht nach noch nicht strafbar. Ich habe Ihre Grenzen noch nicht passiert. Oder gilt das hinter mir auch schon mit?«

»Es gilt schon mit«, sagte der Hüter.

Dann bin ich verloren, dachte Rosenthal. Es scheint ’ne Insel zu sein, vielleicht ist es Kuba, da wollen ja neuerdings so viele hin.

»Fürchte dich nicht«, sagte der Wächter,»es geschieht dir nichts. Geh ruhig hinein.«

»Hören Se«, erwiderte Moritz Rosenthal,»ich will Ihnen gleich die Wahrheit sagen: Ich habe keinen Paß.«

»Du hast keinen Paß?«

Sechs Monate, dachte Moritz, als er die Stimme grollen hörte, und schüttelte ergeben den Kopf.

Der Türhüter hob den Stab.»Dann brauchst du nicht erst zwanzig Millionen Lichtjahre im himmlischen Stehparterre zu bleiben. Du bekommst sofort einen gepolsterten Sessel mit Armlehnen und Flügelstützen.«

»Alles ganz schön«, erwiderte Vater Moritz,»aber es geht nicht. Ich habe nämlich auch keine Einreise- und keine Aufenthaltserlaubnis. Von Arbeitserlaubnis wollen wir gar nicht erst reden.«

»Keine Aufenthaltserlaubnis? Kein Visum? Keine Arbeitserlaubnis?«Der Wächter hob die Hand.»Dann bekommst du sogar eine Loge im ersten Rang, Mitte, mit vollem Blick auf die himmlischen Heerscharen.«

»Das wäre nicht schlecht«, sagte Moritz,»besonders, wo ich so gern ins Theater gehe. Aber jetzt kommt das, was alles kaputt macht, und eigentlich wundere ich mich, daß Sie nicht weiter draußen schon ein Schild haben, daß wir nicht ’reindürfen. Also ich bin ein Jude. Ausgebürgert aus Deutschland. Illegal seit Jahren.«

Der Türhüter hob beide Arme.»Jude? Ausgebürgert? Illegal seit Jahren? Dann bekommst du zwei Engel zu deiner persönlichen Bedienung und einen Posaunenbläser dazu.«Er rief in das Tor.»Der Engel der Heimatlosen!«Und eine große Gestalt in blauen Gewändern mit einem Gesicht wie alle Mütter der Welt trat hervor neben Vater Moritz.»Der Engel derer, die viel gelitten haben!«rief der Wächter aufs neue, und eine weißgekleidete Gestalt mit einem Krug Tränen auf der Schulter trat auf die andere Seite von Vater Moritz.

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