»Vorläufig nicht.«Der Arzt sah nach den Instrumenten.»Können wir anfangen?«
Das Licht spiegelte sich in seiner Glatze. Die Tür wurde ausgehängt. Vier Männer trugen das Bett mit der leise wimmernden Frau über den Korridor herein. Die Frau hatte die Augen weit offen. Ihre farblosen Lippen bebten.
»Los! Anfassen!«schnauzte der Arzt.»Hochheben! Vorsichtig, verflucht noch mal!«
Die Frau war schwer. Kern standen die Schweißtropfen auf der Stirn. Sein Blick begegnete dem Ruths. Sie war blaß, aber ruhig und so verändert, daß er sie kaum wiedererkannte. Sie gehörte zu der blutenden Frau.
»So! ’raus alles, was nichts hier zu tun hat!«schnauzte der Arzt mit der Glatze. Er nahm die Hand der Frau.»Es tut nicht weh. Es ist ganz leicht.«Er hatte plötzlich die Stimme einer Mutter.
»Das Kind soll leben«, flüsterte die Frau.
»Beide, beide…«, erwiderte der Arzt sanft.
»Das Kind…«
»Wir drehen es nur ein bißchen um, aus der Schulterlage heraus. Dann kommt es wie der Blitz. Nur ruhig, ganz ruhig. Narkose!«
KERN STAND MIT Marill und ein paar anderen Leuten in dem verlassenen Zimmer der Frau. Sie warteten darauf, daß sie wieder gebraucht würden. Von nebenan klang gedämpft das Murmeln der Ärzte. Auf dem Boden verstreut lagen die rosa und blauen gestrickten Jäckchen.
»Eine Geburt«, sagte Marill zu Kern.»So ist das, wenn man auf die Welt kommt… Blut, Blut und Schreie! Verstehen Sie, Kern?«
»Ja.«
»Nein«, sagte Marill.»Sie nicht und ich nicht! Eine Frau, nur eine Frau! Fühlen Sie sich nicht wie ein Schwein?«
»Nein«, erwiderte Kern.
»So? Aber ich!«Marill wischte sich die Brille ab und betrachtete Kern.»Haben Sie schon mit einer Frau geschlafen? Nein! Sonst würden Sie sich auch wie ein Schwein fühlen. Gibt’s hier irgendwo eine Möglichkeit für einen Schnaps?«
Der Kellner trat aus dem Hintergrund des Zimmers hervor.»Bringen Sie eine halbe Flasche Kognak!«sagte Marill.»Jaja, ich habe Geld dafür! Bringen Sie nur!«
Der Kellner verschwand. Mit ihm der Wirt und zwei andere Gestalten. Die beiden blieben allein.»Setzen wir uns ans Fenster«, sagte Marill. Er zeigte auf das Abendrot.»Schön, was?«
Kern nickte.
»Ja«, sagte Marill,»alles nebeneinander. Ist das Flieder, da unten im Garten?«
»Ja.«
»Flieder und Äther. Blut und Kognak. Na, prost!«
»Ich habe vier Gläser gebracht, Herr Marill«, sagte der Kellner und stellte das Tablett auf den Tisch.»Ich dachte, vielleicht…«Er wies mit dem Kopf nach nebenan.
»Gut.«
Marill schenkte zwei Gläser voll.»Trinken Sie, Kern?«
»Wenig.«
»Ein jüdisches Laster, Abstinenz. Dafür verstehen sie mehr von Frauen. Aber Frauen wollen gar nicht verstanden sein. Prost!«
»Prost!«
Kern trank sein Glas leer. Er fühlte sich besser danach.»Ist das nur eine Frühgeburt?«fragte er.»Oder noch mehr?«
»Ja. Vier Wochen zu früh. Überanstrengt. Deshalb: Reisen, Umsteigen, Aufregung, ’rumlaufen und so was, verstehen Sie? Sollte eine Frau nicht machen in dem Zustand.«
»Und warum?«
Marill schenkte neu ein.»Warum…«sagte er.»Weil sie wollte, daß ihr Kind Tscheche würde. Weil sie nicht wollte, daß man es in der Schule schon anspucken und Dreckjude schimpfen sollte.«
»Ich verstehe«, sagte Kern.»Ist der Mann nicht mit ’rausgekommen?«
»Den Mann hat man vor ein paar Jahren eingelocht. Warum? Weil er ein Geschäft hatte und tüchtiger und fleißiger war als sein Konkurrent an der nächsten Ecke. Was macht man dann als Konkurrent? Man geht hin und zeigt den Fleißigen an – staatsverräterische Reden, geschimpft, oder kommunistische Ideen. Irgendwas. Darauf wird er eingelocht – und man übernimmt die Kunden. Kapiert?«
»Das kenne ich«, sagte Kern.
Marill trank sein Glas aus.»Ein rauhes Zeitalter. Der Frieden wird mit Kanonen und Bombenflugzeugen stabilisiert, die Menschlichkeit mit Konzentrationslagern und Pogromen. Wir leben in einer Umkehrung aller Werte, Kern. Der Angreifer ist heute der Hüter des Friedens, der Verprügelte und Gehetzte der Störenfried der Welt. Und es gibt ganze Völkerstämme, die das glauben!«
Eine halbe Stunde später hörten sie ein dünnes, quäkendes Schreien von nebenan.
»Verdammt!«sagte Marill.»Sie haben es geschafft! Ein Tscheche mehr auf der Welt! Darauf wollen wir einen heben! Los, Kern! Auf das große Mysterium der Welt! Die Geburt! Wissen Sie, warum es ein Mysterium ist? Weil man hinterher wieder stirbt. Prost.«
Die Tür öffnete sich. Der zweite Arzt kam herein. Er war blutbespritzt und schwitzte. In den Händen hielt er ein krebsrotes Etwas, das quäkte und dem er auf den Rücken patschte.
»Es lebt!«knurrte er.»Gibt’s hier irgendwas…«er griff nach einem Pack Tücher…»na, zur Not… Fräulein!«
Er übergab Ruth das Kind und die Tücher.»Baden und einwikkeln – nicht zu fest – die Alte drinnen weiß Bescheid, die Wirtin – aber ’raus aus dem Äther, lassen Sie es im Badezimmer…«
Ruth nahm das Kind. Ihre Augen schienen Kern doppelt so groß wie sonst. Der Arzt setzte sich an den Tisch.»Gibt’s hier Kognak?«
Marill goß ihm ein Glas ein.»Wie ist einem Arzt eigentlich zumute«, fragte er,»wenn er sieht, daß täglich neue Bombenflugzeuge und Kanonen gebaut werden, aber keine Hospitäler? Die einen sind doch nur dazu da, um die andern zu füllen.«
Der Arzt schaute auf.»Beschissen«, sagte er,»beschissen! Schöne Aufgabe: man flickt sie mit der größten Kunst zusammen, damit sie mit der größten Barbarei wieder in Stücke gerissen werden. Warum nicht gleich die Kinder totschlagen! Ist doch viel einfacher.«
»Mein Lieber«, erwiderte der Reichstagsabgeordnete Marill,»Kinder töten ist Mord. Erwachsene töten ist eine Angelegenheit nationaler Ehre.«
»Im nächsten Krieg werden auch genug Frauenbund Kinder dabei sein«, brummte der Arzt.»Die Cholera rotten wir aus – dabei ist das eine harmlose Krankheit gegen ein bißchen Krieg.«
»Braun!«rief der Arzt aus dem Nebenzimmer.»Rasch.«
»Ich komme!«
»Verdammt! Scheint nicht alles glatt zu gehen«, sagte Marill.
NACH EINIGER ZEIT kam Braun zurück. Er sah verfallen aus.»Riß im Gebärmutterhals«, sagte er.»Nichts zu machen. Die Frau verblutet.«
»Nichts zu machen?«
»Nichts. Haben alles versucht. Hört nicht auf zu bluten.«
»Können Sie keine Blutübertragung machen?«fragte Ruth, die in der Tür stand.»Sie können es von mir nehmen.«
Der Arzt schüttelte den Kopf.»Hilft nichts, Kindchen. Wenn’s nicht aufhört…«
Er ging zurück. Die Tür blieb offen. Das helle Viereck wirkte gespenstisch. Die drei saßen und schwiegen. Der Kellner tappte herein. -»Soll ich abräumen?«
»Nein.«
»Wollen Sie etwas trinken?«fragte Marill Ruth.
Sie schüttelte den Kopf.
»Doch, nehmen Sie was. Es ist besser.«Er goß ihr ein halbes Glas ein.
Es war dunkel geworden. Am Horizont über den Dächern schimmerte nur noch schwachgrün und orangefarben das letzte Licht. Darin schwamm der bleiche Mond, zerfressen von Löchern wie eine alte Messingmünze. Von der Straße her hörte man Stimmen. Sie waren laut, vergnügt und nichtsahnend. Kern erinnerte sich plötzlich an Steiner und das, was er gesagt hatte. Wenn neben dir jemand stirbt: du spürst es nicht. Das ist das Unglück der Welt. Mitleid ist kein Schmerz. Mitleid ist eine versteckte Schadenfreude. Ein Aufatmen, daß man es nicht selber ist oder einer, den man liebt. Er blickte zu Ruth hinüber. Er konnte ihr Gesicht nicht mehr sehen.
Marill horchte auf.»Was ist denn das?«
Ein langer, voller Geigenton schwang durch die anbrechende Nacht. Er verhallte, schwoll wieder an, stieg empor, sieghaft, trotzig – und dann begannen Läufe zu perlen, zarter und zarter, und eine Melodie löste sich los, einfach und traurig wie der versinkende Abend.
»Es ist hier im Hotel«, sagte Marill und spähte durchs Fenster.»Über uns in der vierten Etage.«
»Ich glaube, ich kenne ihn«, erwiderte Kern.»Es ist ein Geiger, den ich schon einmal gehört habe. Ich wußte nicht, daß er auch hier wohnt.«