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Er verschwand in der Richtung des Panoramas der Sensationen.»Tue es ruhig«, sagte Steiner.»Schund geht immer. Nimm kleine, leichte Sachen. Tue es rasch, ehe Potzloch es bereut.«

Aber Potzloch bereute nicht. Im Gegenteil: er gab auf die Aschbecher, Kämme und Würfel, die Kern sich ausgesucht hatte, freiwillig noch drei kleine nackte Göttinnen aus echtem Bronzeersatz hinzu.»Wird Ihr größter Erfolg sein in kleineren Städten«, erläuterte er und griff hohnlachend nach seinem Zwicker.»Der Mensch der Kleinstadt kennt die dumpfe Brunst. Kleinstadt ohne Bordell natürlich! Und nun Gott befohlen, Kern! Ich muß zu einer Konferenz gegen die hohe Lustbarkeitssteuer. Lustbarkeitssteuer! Typisch für dies Jahrhundert! Anstatt eine Prämie dafür auszusetzen!«

Kern packte seine Koffer. Er wusch seine Strümpfe und seine Hemden und hängte sie zum Trocknen auf. Dann aß er mit Lilo und Steiner zu Abend.

»Sei traurig, Kleiner«, sagte Steiner.»Es ist dein Recht. Die alten griechischen Helden weinten mehr als eine sentimentale Närrin unserer Tage. Sie wußten, daß man es nicht herunterfressen soll. Wir haben als Ideal die unbeugsame Courage einer Statue. Gar nicht nötig. Sei traurig, dann bist du es bald los.«

»Traurigkeit ist manchmal – letztes Glück«, sagte Lilo ruhig und gab Kern einen Teller Borschtsch mit Sahne.

Steiner lächelte und strich ihr übers Haar.»Letztes Glück für dich, kleiner Kosmopolit, soll vorläufig eine gute Mahlzeit sein. Die alte Soldatenweisheit. Und du bist ein Soldat, vergiß das nicht. Ein Vorposten. Eine Patrouille. Ein Pionier des Weltbürgertums. Zehn Zollgrenzen kannst du mit einem Flugzeug an einem Tage überfliegen; jede hat die andere nötig-und alle panzern sich mit Eisen und Pulver bis an den Hals gegeneinander. Das bleibt nicht. Du bist einer der ersten Europäer – vergiß das nicht. Sei stolz darauf.«

Kern lächelte.»Alles ganz schön. Ich bin auch stolz darauf. Aber was mache ich heute abend, wenn ich allein bin?«

ER FUHR MIT dem Nachtzuge ab. Er nahm die billigste Klasse und den billigsten Zug und kam auf Umwegen bis Innsbruck. Von da ging er zu Fuß weiter und wartete auf ein Auto, das ihn mitnehmen sollte. Er fand keins. Abends ging er in ein kleines Gasthaus und aß eine Portion Bratkartoffeln; das sättigte und kostete wenig. Nachts schlief er in einem Heustadel. Er wandte dabei die Technik an, die der Dieb im Gefängnis ihm beigebracht hatte. Sie war erstklassig. Am nächsten Morgen fand er ein Auto, das ihn bis Landeck mitnahm. Der Besitzer kaufte ihm für fünf Schilling eine der Göttinnen Direktor Potzlochs ab. Abends begann es zu regnen. Kern blieb in einem kleinen Gasthof und spielte Tarock mit ein paar Holzfällern. Dabei verlor er drei Schilling. Er ärgerte sich so darüber, daß er bis Mitternacht nicht einschlafen konnte. Aber dann fand er es noch ärgerlicher, daß er zwei Schilling für den Schlaf bezahlt hatte und auch noch darum kam; darüber schlief er ein. Morgens ging er weiter. Er hielt ein Auto an, aber der Fahrer verlangte fünf Schilling Fahrgeld von ihm. Es war ein Austro-Daimler im Werte von 15 000 Schilling. Kern verzichtete. Später nahm ihn ein Bauer ein Stück auf seinem Wagen mit und schenkte ihm ein großes Butterbrot. Abends schlief er im Heu. Es regnete, und er lauschte lange auf das monotone Geräusch und roch den herben und erregenden Duft des nassen, gärenden Heus. Am nächsten Tag erkletterte und überschritt er den Arlbergpaß. Er war sehr müde, als er oben von einem Gendarmen abgefaßt wurde. Trotzdem mußte er den Weg zurück neben dem Fahrrad des Gendarmen her bis St. Anton machen. Dort sperrte man ihn eine Nacht ein. Er schlief keine Minute, weil er fürchtete, man würde herausbekommen, daß er in Wien gewesen sei, und ihn zurückschicken und dort verurteilen. Aber man glaubte ihm, daß er über die Grenze wollte und ließ ihn am nächsten Morgen laufen. Er gab jetzt seinen Koffer als Frachtgut bis Feldkirch auf, weil der Gendarm ihn daran erkannt hätte. Einen Tag später war er in Feldkirch, holte seinen Koffer, wartete bis nachts, zog sich aus und überschritt den Rhein, Koffer und Kleider in den hoch erhobenen

Händen. Er war jetzt in der Schweiz. Er marschierte zwei Nächte, bis er die gefährliche Zone hinter sich hatte. Dann gab er seinen Koffer auf der Bahn auf und fand bald darauf ein Auto, das ihn bis Zürich mitnahm.

ES WAR NACHMITTAGS, als er am Hauptbahnhof ankam. Er ließ seinen Koffer an der Gepäckaufbewahrungsstelle. Er wußte Ruths Adresse; aber er wollte nicht tagsüber zu ihrer Wohnung gehen. Eine Zeitlang blieb er am Bahnhof; dann erkundigte er sich in einigen jüdischen Geschäften nach der Flüchtlingsfürsorge. In einer Strumpfwarenhandlung bekam er die Adresse der Kultusgemeinde und ging hin.

Ein junger Mensch empfing ihn. Kern erklärte ihm, daß er gestern über die Grenze gekommen sei.

»Legal?«fragte der junge Mann.

»Nein.«

»Haben Sie Papiere?«

Kern sah ihn erstaunt an.»Wenn ich Papiere hätte, wäre ich nicht hier.«

»Jude?«

»Nein. Halbjude.«

»Religion?«

»Evangelisch.«

»Evangelisch, ach so! Da können wir wenig für Sie tun. Unsere Mittel sind sehr beschränkt, und als religiöse Gemeinde sind unsere Hauptsorge natürlich die – Sie verstehen – Juden unseres Glaubens.«

»Ich verstehe«, sagte Kern.»Aus Deutschland bin ich ’rausgeflogen, weil ich einen jüdischen Vater habe. Sie hier können mir nicht helfen, weil ich eine christliche Mutter habe. Komische Welt!«

Der junge Mann zuckte die Achseln.»Es tut mir leid. Aber wir haben nur private Spenden zur Verfügung.«

»Können Sie mir wenigstens sagen, wo ich ein paar Tage unangemeldet wohnen kann?«fragte Kern.

»Leider nicht. Ich kann es nicht und darf es auch nicht. Die Vorschriften sind sehr streng, und wir haben uns genau daran zu halten. Sie müssen zur Polizei gehen und um eine Aufenthaltserlaubnis ersuchen.«

»Na«, sagte Kern,»darin habe ich schon eine gewisse Erfahrung.«

Der junge Mann sah ihn an.»Warten Sie doch bitte noch einen Augenblick.«Er ging in ein Büro im Hintergrunde und kam bald darauf wieder.»Wir können Ihnen ausnahmsweise mit zwanzig Franken helfen. Mehr können wir leider nicht für Sie tun.«

»Danke vielmals! So viel habe ich gar nicht erwartet!«

Kern faltete den Schein sehr sorgfältig zusammen und steckte ihn in seine Brieftasche. Es war das einzige Schweizer Geld, das er hatte.

Auf der Straße blieb er stehen. Er wußte nicht, wohin er gehen sollte.

»Nun, Herr Kern«, sagte da jemand hinter ihm etwas spöttisch.

Kern fuhr herum. Ein junger, ziemlich elegant angezogener Mensch, ungefähr in seinem Alter, stand hinter ihm. Er lächelte.»Erschrecken Sie nicht! Ich war auch eben dort oben.«Er wies auf die Tür der Kultusgemeinde.»Sie sind das erstemal in Zürich, wie?«

Kern sah ihn eine Sekunde mißtrauisch an.»Ja«, sagte er dann.»Ich bin sogar das erstemal in der Schweiz.«

»Das habe ich mir gedacht. Ihre Geschichte war so. Etwas ungeschickt – verzeihen Sie. Es war nicht notwendig, daß Sie sagten, Sie wären evangelisch. Aber Sie haben ja auch so eine Unterstützung bekommen. Wenn Sie wollen, kann ich Ihnen ein paar Aufklärungen geben. Ich heiße Binder. Wollen wir einen Kaffee trinken?«

»Ja, gern. Gibt es hier ein Emigrantencafé oder so etwas?«

»Mehrere. Wir gehen am besten ins Café Greif. Das ist nicht weit von hier, und die Polizei kennt es noch nicht so genau. Bis jetzt war wenigstens noch keine Razzia da.«

Sie gingen zum Café Greif. Es glich dem Café Sperler in Wien wie ein Ei dem andern.

»Woher kommen Sie?«fragte Binder.

»Aus Wien.«

»Da müssen Sie einiges umlernen. Passen Sie auf! Sie können natürlich bei der Polizei eine kurze Aufenthaltserlaubnis bekommen. Nur für ein paar Tage selbstverständlich, dann müssen Sie ’raus. Die Chance, ohne Papiere eine zu bekommen, ist augenblicklich keine zwei Prozent; die Chance, sofort ausgewiesen zu werden, etwa achtundneunzig. Wollen Sie das riskieren?«

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