»Einen Vorteil hat es, wenn man im Kasten war«, sagte er.»Alles nachher ist wunderbar.«
Steiner nickte.»Du möchtest am liebsten heute abend los, was?«fragte er.
Kern sah ihn an.»Ich möchte weg, und ich möchte hierbleiben. Ich wollte, wir könnten alle zusammen gehen.«
Steiner gab ihm eine Zigarette.»Bleib vorläufig mal zwei, drei Tage hier«, sagte er.»Du siehst erbärmlich aus. Der Gefängnisfraß hat dich ’runtergebracht. Futtere dich hier etwas heraus. Du brauchst Mark in den Knochen für die Landstraße. Besser, du wartest ein paar Tage, als daß du unterwegs zusammenklappst und geschnappt wirst. Die Schweiz ist kein Kinderspiel. Fremdes Land – da muß man gut beieinander sein.«»Kann ich hier denn irgend etwas tun?«
»Du kannst in der Schießbude helfen. Und abends beim Hellsehen. Dafür habe ich zwar schon jemand anders nehmen müssen; aber zwei sind immer besser.«
»Gut«, sagte Kern.»Du hast sicher recht. Ich muß mich wohl erst etwas zurechtfinden, bevor ich losgehe. Ich habe irgendwie einen entsetzlichen Hunger. Nicht nur im Magen – in den Augen, im Kopf, überall. Besser, ich werde erst einmal ein bißchen klarer.«
Steiner lachte.»Richtig! Da kommt Lilo mit heißen Piroggen. Iß gründlich, Baby. Ich gehe inzwischen Potzloch aufwecken.«
Lilo stellte die Platte vor Kern hin. Er begann aufs neue zu essen. Zwischendurch tastete er nach seinen Briefen.
»Bleiben Sie hier?«fragte Lilo in ihrem langsamem, etwas harten Deutsch.
Kern nickte.
»Keine Angst«, sagte Lilo.»Sie müssen keine Angst haben um Ruth. Sie kommt durch. Ich kenne Gesichter.«- Kern wollte ihr sagen, daß er deswegen keine Angst habe. Daß er nur Sorge habe, sie könne in Zürich gefaßt werden, bevor er ankäme… Doch ein Blick in das dunkle, von einer ungeheuren Trauer überschattete Gesicht der Russin ließ ihn verstummen. Alles war klein und belanglos dagegen. Aber sie schien trotzdem etwas gespürt zu haben.»Nicht schlimm«, sagte sie.»Solange anderer lebt, nie schlimm.«
ES WAR ZWEI Tage später, nachmittags. Ein paar Leute schlenderten auf die Schießbude zu. Lilo war mit einer Gruppe junger Burschen beschäftigt, und die Leute kamen zu Kern.»Los! Schießen wir einmal!«
Kern gab dem ersten eine Büchse. Die Leute schössen zunächst ein paarmal auf Figuren, die herunterrasselten, und auf dünne Glaskugeln, die im Strahl eines kleinen Springbrunnens tanzten. Dann begannen sie die Prämientafel zu studieren und forderten Scheiben, um sich Gewinne zu erschießen.
Die ersten beiden schössen vierunddreißig und vierundvierzig Punkte. Sie gewannen einen Plüschbären und ein versilbertes Zigarettenetui. Der dritte, ein untersetzter Mann mit hochstehenden Haaren und einer dichten, braunen Schnurrbartbürste, zielte lange und sorgfältig und kam auf 48 Ringe. Seine Freunde brüllten Beifall. Lilo warf einen kurzen Blick herüber.»Noch mal fünf Schuß!«forderte der Mann und schob den Hut zurück.»Mit demselben Gewehr.«
Kern lud. Der Mann machte mit drei Schuß 36 Ringe. Jedesmal eine Zwölf. Kern sah den silbernen Obstkorb mit den Bestecken, das Erb- und Familienstück, das ungewinnbar war, in Gefahr. Er nahm eine von Direktor Potzlochs Glückskugeln. Der nächste Schuß war eine Sechs.
»Holla!«Der Mann setzte das Gewehr ab.»Da stimmt was nicht. Ich bin tadellos abgekommen.«
»Vielleicht haben Sie doch etwas gezuckt«, sagte Kern.»Es ist ja dasselbe Gewehr.«
»Ich zucke nicht«, erwiderte der Mann gereizt.»Ein alter Polizeifeldwebel zuckt nicht. Ich weiß, wie ich schieße.«
Diesmal zuckte Kern. Ein Polizist, auch in Zivil, ging ihm auf die Nerven. Der Mann starrte ihn an.»Da stimmt was nicht, Sie!«sagte er drohend.
Kern erwiderte nichts. Er reichte ihm das geladene Gewehr wieder hin. Diesmal hatte er eine normale Kugel hineingegeben. Der Feldwebel sah ihn noch einmal an, ehe er zu zielen begann. Er schoß eine Zwölf und setzte das Gewehr ab.»Na?«
»Kommt vor«, sagte Kern.
»Kommt vor? Kommt nicht vor! Vier Zwölfer und einen Sechser! Das glauben Sie doch wohl selber nicht, was?«
Kern schwieg. Der Mann näherte ihm sein rotes Gesicht.»Ich kenne Sie doch irgendwoher…«
Seine Freunde unterbrachen ihn. Lärmend verlangten sie einen Freischuß. Der Sechser sei ungültig.»Ihr habt was mit den Kugeln, ihr Brüder!«schrien sie.
Lilo kam heran.»Was ist los?«fragte sie.»Kann ich Ihnen helfen? Der junge Mann ist noch neu hier.«
Die anderen redeten auf sie ein. Der Polizist sprach nicht mit. Er blickte Kern an und in seinem Kopf arbeitete es. Kern hielt den Blick aus. Er erinnerte sich an alle Lehren, die ihm sein unruhiges Leben gegeben hatte.»Ich will mit dem Direktor sprechen«, sagte er nachlässig.»Ich kann hier nichts entscheiden.«Er dachte daran, dem Polizisten einen Schuß frei zu geben. Aber er sah Potzloch bereits tosen, wenn das Erbstück der Familie seiner Frau zum Teufel ging. Er stand zwischen Skylla und Charybdis. Langsam holte er eine Zigarette hervor und zündete sie an. Er zwang sich eisern, daß seine Hände nicht zitterten. Dann drehte er sich um und schlenderte zu Lilos Platz hinüber.
Lilo blieb an seiner Stelle stehen. Sie schlug einen Vergleich vor. Der Polizist solle noch einmal fünf Schüsse machen. Umsonst natürlich. Die anderen wollten nicht. Lilo blickte zu Kern hinüber. Sie sah, daß er blaß war, und sie merkte, daß mehr los war als nur ein Streit um Potzlochs Zauberkugeln. Sie lächelte plötzlich und setzte sich auf den Tisch, dem Polizisten gegenüber.
»So ein fescher Mann wird auch zum zweitenmal gut schießen«, sagte sie.»Kommen Sie, probieren Sie es! Fünf Freischüsse für den Schützenkönig!«
Der Polizist reckte geschmeichelt den Kopf aus dem Kragen.»Wer so eine Hand hat, der hat keine Angst«, sagte Lilo und legte ihre schmale Hand auf die kräftige, rötlich behaarte des Feldwebels.
»Angst! Kennen wir nicht!«Der Polizist warf sich in die Brust und lachte hölzern.»Wäre ja noch schöner!«
»Das habe ich mir gedacht!«Lilo sah ihn bewundernd an und reichte ihm das Gewehr.
Der Polizist nahm es, zielte sorgfältig und schoß. Eine Zwölf. Befriedigt blickte er Lilo an. Sie lächelte und lud das Gewehr wieder. Der Polizist schoß 58 Ringe.
Lilo strahlte ihn an.»Sie sind der beste Schütze seit Jahren hier«, erklärte sie.»Ihre Frau braucht wahrhaftig keine Angst zu haben.«
»Hab’ noch keine Frau.«
Sie sah ihm in die Augen.»Wohl nur, weil Sie nicht wollen.«
Er schmunzelte. Seine Freunde lärmten. Lilo ging, ihm den Picknickkorb holen, den er gewonnen hatte. Er strich sich den Schnurrbart und sagte mit kleinen, kalten Augen plötzlich zu Kern:»Ich krieg’s schon ’raus mit Ihnen! Ich komme einmal in Uniform wieder!«
Dann nahm er grinsend seinen Korb und zog mit seinen Freunden weiter.
»Hat er Sie erkannt?«fragte Lilo rasch.
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Ich habe ihn nie gesehen. Aber vielleicht er mich irgendwann.«
»Gehen Sie vorläufig wieder weg. Besser, er sieht Sie nicht mehr. Sagen Sie es Steiner.«
DER POLIZIST KAM am selben Tag nicht wieder. Aber Kern beschloß, noch abends abzufahren.
»Ich muß weg«, sagte er zu Steiner.»Ich habe das Gefühl, daß sonst etwas passiert. Ich war jetzt zwei Tage hier. Ich bin wieder in Ordnung, glaube ich, meinst du nicht auch?«
Steiner nickte.»Fahr ab, Baby. Ich will in ein paar Wochen auch weiter. Mein Paß ist überall besser als hier. In Österreich wird es gefährlich. Ich habe so allerhand gehört in den letzten Tagen. Komm, wir gehen zu Potzloch.«
Direktor Potzloch war wütend wegen des Picknickkorbes.»Ein Wert von dreißig Schilling, junger Mann, netto, Einkauf en gros«, trompetete er.»Sie ruinieren mich!«
»Er geht ja«, sagte Steiner und erklärte ihm die Sachlage.»Es war reine Notwehr«, schloß er.»Ihr Familienerbstück wäre verloren gewesen.«
Potzloch erschrak nachträglich und verklärte sich dann.»Also gut, das ist was anderes.«Er zahlte Kern seine Gage aus und führte ihn darauf vor die Schießbude.»Junger Mann«, sagte er,»Sie sollen Leopold Potzloch kennenlernen, den letzten Menschenfreund! Suchen Sie sich hier von den Sachen was aus! Als Andenken. Zum Verkaufen natürlich. Ein ordentlicher Mensch behält keine Andenken. Verbittern nur das Leben. Sie werden doch etwas handeln, wie? Suchen Sie aus! A discrétion…«