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»Ja, ich weiß. Aber geht es denn? Ich meine wegen der Leute, bei denen du wohnst?«

»Es ist niemand hier. Ich bin allein. Alle sind fort über das Wochenende. Komm!«

»Ja.«

Kern legte den Hörer auf. Er sah sich abwesend um. Es schien nicht mehr derselbe Laden zu sein wie vorher. Dann ging er zur Theke zurück.»Was kostet das Gespräch?«fragte er.

»Zehn Rappen.«

»Nur zehn Rappen?«

»Teuer genug.«Die Frau klaubte das Nickelstück auf.»Vergessen Sie Ihre Zigaretten nicht.«

»Ach so… ja…«

Kern trat auf die Straße. Ich will jetzt nicht laufen, dachte er. Wer läuft, ist verdächtig. Ich will mich zusammenhalten. Steiner würde auch nicht laufen. Ich will gehen. Niemand soll mir etwas anmerken. Aber ich kann schnell gehen. Ich kann sehr schnell gehen. Das ist ebenso rasch, als wenn ich laufe.

Ruth stand auf der Treppe. Es war dunkel, und Kern konnte sie nur undeutlich sehen.»Nimm dich in acht!«sagte er heiser und eilig,»ich bin schmutzig! Meine Sachen sind noch am Bahnhof. Ich konnte mich nicht waschen und umziehen!«

Sie erwiderte nichts. Sie stand vorgebeugt am Treppenabsatz und wartete auf ihn. Er lief die Stufen hinauf, und plötzlich war sie bei ihm, warm und wirklich, das Leben und mehr als das Leben.

Sie lag still in seinem Arm. Er hörte sie atmen und fühlte ihr Haar. Er stand regungslos, und die undeutliche Dunkelheit um ihn herum schien zu schwanken. Dann merkte er, daß sie weinte. Er machte eine Bewegung. Sie schüttelte den Kopf an seiner Schulter, ohne ihn loszulassen.»Laß mich nur. Ich bin gleich durch.«

Unten ging eine Tür. Kern drehte sich vorsichtig und fast unmerklich zur Seite, um die Treppe übersehen zu können. Er hörte Schritte. Dann klickte ein Schalter, und es wurde hell. Ruth schreckte auf.»Komm! Komm rasch herein!«Sie zog ihn zur Tür.

SIE SASSENIM Wohnzimmer der Familie Neumann. Es war das erstemal seit langer Zeit, daß Kern wieder in einer Wohnung war. Das Zimmer war bürgerlich und ohne viel Geschmack eingerichtet, mit gediegenen Mahagonimöbeln, einem modernen Perserteppich, ein paar mit Rips überzogenen Sesseln und einigen Lampen mit Schirmen aus farbiger Seide – aber Kern erschien es wie eine Vision des Friedens und eine Insel der Sicherheit.

»Seit wann ist dein Paß abgelaufen?«fragte er.

»Seit sieben Wochen, Ludwig.«Ruth nahm zwei Gläser und eine Flasche aus dem Büfett.

»Hast du eine Verlängerung beantragt?«

»Ja. Ich war auf dem Konsulat hier in Zürich. Sie haben es abgelehnt. Ich habe auch nichts anderes erwartet.«

»Ich eigentlich auch nicht. Obschon ich immer noch auf irgendein Wunder gehofft habe. Wir sind ja Staatsfeinde. Gefährliche Staatsfeinde. Sollten uns eigentlich wichtig damit vorkommen, was?«

»Mir ist es egal«, sagte Ruth und stellte die Gläser und die Flasche auf den Tisch.»Ich habe vor dir jetzt nichts mehr voraus, das ist auch etwas.«

Kern lachte. Er nahm sie um die Schultern und zeigte auf die Flasche.»Was ist denn das? Kognak?«

»Ja. Der beste Kognak der Familie Neumann. Ich will mit dir trinken, weil du wieder da bist. Es war eine schreckliche Zeit ohne dich. Und es war schrecklich zu wissen, daß du im Gefängnis warst. Sie haben dich geschlagen, diese Verbrecher! Und alles war meine Schuld!«

Sie sah ihn an. Sie lächelte, aber Kern merkte, daß sie erregt war. Ihre Stimme war fast zornig, und ihre Hand zitterte, als sie die Gläser vollschenkte.»Es war schrecklich!«sagte sie noch einmal und gab ihm sein Glas.»Aber jetzt bist du wieder da!«

Sie tranken.»Es war gar nicht schlimm«, sagte Kern.»Wirklich nicht!«

Ruth stellte ihr Glas weg. Sie hatte es mit einem Ruck ausgetrunken. Sie legte ihre Arme um Kerns Nacken und küßte ihn.»Jetzt lasse ich dich nicht wieder weg«, murmelte sie.»Nie!«

Kern sah sie an. Er hatte sie noch nie so gesehen. Sie war völlig verändert. Etwas Fremdes, das früher oft schattenhaft zwischen ihnen gestanden hatte, war gewichen. Sie war jetzt aufgeschlossen und ganz da, und er fühlte zum erstenmal, daß sie zu ihm gehörte. Er hatte es früher nie sicher gewußt.

»Ruth«, sagte er,»ich wollte, die Decke bräche auseinander und ein Flugzeug käme, und wir flögen zu einer Insel mit Palmen und Korallen, wo keiner weiß, was ein Paß und eine Aufenthaltserlaubnis ist!«

Sie küßte ihn wieder.»Ich fürchte, sie wissen es auch da, Ludwig. Unter Palmen und Korallen haben sie sicher Forts und Kanonen und Kriegsschiffe und passen noch mehr auf als in Zürich.«

»Ja, bestimmt! Laß uns noch ein Glas trinken.«Er nahm die Flasche und schenkte ein.»Aber Zürich ist auch schon gefährlich. Man kann sich hier nicht lange verstecken.«

»Dann laß uns weggehen!«

Kern sah auf das Zimmer, auf die Damastvorhänge, die Sessel und die gelbseidenen Lampen.»Ruth«, sagte er und machte eine Gebärde über das alles hin,»es ist wunderbar, mit dir zusammen wegzugehen, und ich habe mir auch nie etwas anderes vorstellen können. Aber dies hier gibt es dann nicht mehr, das mußt du wissen. Es gibt nur noch Verstecken und Landstraße und Heuschober und kleine jämmerliche Pensionszimmer mit Angst vor der Polizei, wenn wir Glück haben. Und Gefängnis.«

»Das weiß ich. Es ist mir egal. Und du brauchst dir keine Gedanken deswegen zu machen. Ich muß ohnehin hier fort. Ich kann nicht mehr bleiben. Die Leute haben Angst vor der Polizei, weil ich nicht angemeldet bin. Sie sind froh, wenn ich weg bin. Ich habe auch noch etwas Geld, Ludwig. Und ich werde dir handeln helfen. Ich werde nicht viel kosten. Ich glaube, ich bin ganz praktisch.«

»So«, sagte Kern,»etwas Geld hast du sogar, und verkaufen helfen willst du! Noch ein Wort mehr, und ich fange an zu heulen wie ein altes Weib. Hast du viele Sachen mitzunehmen?«

»Nicht viel. Was ich nicht brauche, lasse ich hier.«

»Gut. Was machen wir mit deinen Büchern? Besonders mit den dicken über Chemie? Lassen wir die vorläufig hier?«

»Meine Bücher habe ich verkauft. Ich habe den Rat befolgt, den du mir in Prag gegeben hast. Man soll nichts mitnehmen von früher. Nichts. Und man soll auch nicht zurückschauen, das macht nur müde und kaputt. Die Bücher haben uns Unglück gebracht. Ich habe sie verkauft. Sie wären auch viel zu schwer zu schleppen gewesen.«

Kern lächelte.»Du hast recht, du bist praktisch, Ruth. Ich denke, wir gehen zuerst nach Luzern. Georg Binder, ein Professional für die Schweiz, hat mir das geraten. Es sind viele Fremde da, man fällt deshalb nicht auf, und die Polizei ist nicht so scharf. Wann wollen wir los?«

»Übermorgen früh. Solange können wir hier bleiben.«

»Gut. Ich habe eine Bude zum Schlafen. Ich muß nur bis zwölf im Café Greif sein.«

»Du wirst nicht bis zwölf im Café Greif sein! Du bleibst hier, Ludwig! Wir gehen nicht vor übermorgen früh auf die Straße. Ich würde sonst umkommen vor Angst!«

Kern starrte sie an.»Geht denn das? Ist da nicht ein Dienstmädchen oder so was, das uns verraten kann?«

»Das Dienstmädchen hat Urlaub bis Montag mittag. Es kommt mit dem Zuge um elf Uhr vierzig zurück. Die andern um drei Uhr nachmittags. Solange haben wir Zeit.«

»Herr des Himmels«, sagte Kern.»So lange haben wir diese ganze Wohnung für uns?«

»Ja.«

»Und wir können darin leben, als wenn sie uns gehörte, mit diesem Salon und Schlafzimmern und einem eigenen Eßzimmer und einem blütenweißen Tischtuch und Porzellan und womöglich silbernen Gabeln und Messern und Extramessern für Äpfel und Kaffee aus kleinen Mokkatassen und einem Radio.«

»Mit allem! Und ich werde kochen und braten und ein Abendkleid von Sylvia Neumann für dich anziehen!«

»Und ich den Smoking des Herrn Neumann heute abend! Und wenn er noch so groß ist! Ich habe aus der ›Eleganten Welt‹ im Gefängnis gelernt, wie man sich zu kleiden hat!«

»Er wird dir sogar passen!«

»Großartig! Das müssen wir feiern!«Kern sprang begeistert auf.

»Dann kann ich ja auch ein heißes Bad mit viel Seife haben, was? Das habe ich lange entbehrt. Im Gefängnis gab’s nur so eine Art Lysolschauer.«

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