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Ich hatte es nicht geschafft. Ich konnte Ada Schnee nicht töten. Stasj war verhaftet oder gefallen. Inej würde weiter gegen das Imperium kämpfen und wahrscheinlich gewinnen.

Vielleicht sollte es so sein?

Vielleicht hatte Ada Schnee Recht und die Föderation des Inej würde besser als das alte Imperium?

Ich bemühte mich, nicht daran zu denken.

Dann musste ich aufstehen, ich konnte mich wieder selbständig bewegen. Ich bekam Kleidung, einen etwas zu großen Schlafanzug und Hausschuhe und wurde durch Korridore geführt. Danach fehlte ein Stück Gedächtnis, vielleicht wurde ich unter dem Einfluss von Wahrheitsdrogen verhört, vielleicht war ich auch einfach nur in Ohnmacht gefallen.

Die neue Erinnerung kam unerwartet, ähnelte eher einem Traum als der Wirklichkeit: ein kleines Zimmerchen mit Doppelstockbetten, Stasj, Lion und Natascha. Ich wurde ins Bett gelegt und war eingeschlafen, kaum dass mein Gesicht das Kopfkissen berührte.

Ich erwachte durch eine gedämpfte Unterhaltung.

Stasj sprach, und zwar mit seiner normalen Stimme: »Realistisch gesehen hatte ich keine Chance. Die Gegenspionage war daran interessiert, die Handlungen zu beobachten, aber ihnen war klar, dass es zu riskant war, uns in den Kosmos fliegen zu lassen. Ehrlich gesagt, hatte ich lediglich darauf gesetzt, dass das Raumschiff startbereit war.«

»Und man konnte es nicht von Hand starten?«, fragte Lion.

»Es lag nicht am blockierten Computer. Wenn ich es richtig verstehe, wurde der Reaktor abgeschaltet. Daher fehlten dem Raumschiff augenblicklich Geschwindigkeit, Feuerkraft und die Möglichkeit der Selbstvernichtung.«

»Aber das hast du doch nicht vorab gewusst?«, fragte Lion.

»Nein, das wusste ich nicht. Sonst hätte ich den Navigationsraum gar nicht erst erobert. Niemand braucht überflüssige Opfer.«

»Aber du hast ihnen Feuer unter dem Hintern gemacht«, wurde Stasj von Lion gelobt. »Sie wissen jetzt, was ein Phag ist.«

Stasj lachte: »Das wissen sie auch so. Aber es gibt immer Grenzen, hinter denen Widerstand dumm und unnötig wird. Sieh lieber nach, wie es Tikkirej geht. Sein Atemrhythmus hat sich verändert.«

»Ich schlafe nicht«, sagte ich und setzte mich im Bett auf.

Es war doch eine Gefängniszelle. Sehr sauber, akkurat, fast gemütlich. Aber eine Zelle. Mit drei Doppelstockbetten, einem am Fußboden angeschraubten Tisch und einer Toilette in der Ecke hinter einer niedrigen Abtrennung.

Und hier fanden sich alle wieder: Stasj, immer noch mit einem gewaltigen Bauch, aber Gesicht und Hände waren seine eigenen; Lion, der auf dem Bett neben ihm saß; Alex — er lag oben und schien zu schlafen, und außerdem Natascha und… der alte Semetzki! Sie unterhielten sich leise über persönliche Dinge, Natascha nickte mir lediglich zu und wandte sich ab, um ihre verweinten Augen zu verbergen. Der alte Semetzki lächelte ermutigend. Der Invalide hatte keinen Rollstuhl, seine Beine waren in eine dünne rote Decke mit einer Inventarnummer auf einem weißen Pad gewickelt.

»Wie geht es dir, Tikkirej?«, erkundigte sich Stasj.

»Gut.« Ich wedelte mit den Armen. Der Körper bewegte sich normal, als ob ich niemals ein unbeweglicher Holzklotz gewesen wäre. »Habe ich lange geschlafen?«

»Ungefähr zwei Stunden. Es scheint ganz so, als ob du eine gehörige Portion von den Paralysatoren abbekommen hättest.«

»Ja.« Ich schaute Stasj in die Augen. »Ich habe versucht, Ada Schnee zu töten.«

»Wer ist Ada Schnee?«

War ihm dieser Name vielleicht wirklich unbekannt?

»Die Matrize«, antwortete ich kurz.

Stasj reagierte sofort. »Die Matrize von Inna Snow?«

»Ja. Stasj, hast du gewusst, dass Frau Präsidentin Snow nur eine der Klone ist?«

»Wir gingen davon aus«, sagte Stasj und nickte. Ich wandte meinen Blick nicht von ihm, und er fuhr unwillig fort: »Ja, ich wusste es, ich wusste es. Einer der von uns gefangenen Klone war nur fünf Jahre jünger als Inna Snow. Es ist kaum möglich, dass sich ein fünfjähriges Mädchen selbst klonen kann.«

»Ada Schnee ist die Matrize von Inna Snow«, erklärte ich. »Sie hat zweitausend Klone. Sie regieren gemeinsam. Viele teilen ein gemeinsames Bewusstsein, aber einige haben es abgelehnt.«

Stasj nickte. Ich berichtete ihm nichts Neues.

»Stasj, wusstest du, dass ich auch ein Klon bin?«, fragte ich ohne Umschweife.

Lion entgleiste das Gesicht. Natascha schrie erstaunt auf und drängte sich an den Urgroßvater. Alex wälzte sich herum, beugte sich vom oberen Bett herab und schaute mich aufmerksam an, dann lachte er auf und legte sich wieder hin. Sein ganzes Gesicht war zerschrammt und voller blauer Flecken, als ob er geschlagen wurde, aber nicht vor kurzem, sondern schon vor ein paar Tagen. Einem Mädchen ähnelte der junge Phag mittlerweile kein bisschen mehr.

»Ich wusste es«, antwortete Stasj.

»Von Anfang an?«, wollte ich wissen. Wenn er »Ja« sagte, dann wäre das die letzte Frage, die ich ihm je gestellt hätte.

»Nein. Ich habe es erst auf dem Avalon erfahren. Und auch das nicht sofort… Ich wurde selbst gründlich wegen eines möglichen Seitenwechsels überprüft.« Er schwieg, dann meinte er: »Jetzt ist auch klar, warum wir alle zusammengesteckt wurden. Inna Snow lechzt nach der Fortsetzung der Show… Frag, Tikkirej. Ich werde auf alle deine Fragen antworten.«

»Ehrlich antworten?«, hakte ich nach.

»Ja. Wenn ich keine ehrliche Antwort geben kann, werde ich schweigen.«

»Wie ist es dazu gekommen, dass ich nach Neu-Kuweit kam und dich getroffen habe? War es die Einmischung der Phagen oder des Geheimdienstes des Inej?«

»Soweit ich weiß, war es Zufall«, antwortete Stasj bestimmt. »Ein Zufall, wie er bei jeder komplizierten Unternehmung passieren kann. Wir befragten die Mannschaft der Kljasma, ich flog auf deinen Planeten und überprüfte die Umstände… des Todes deiner Eltern. Es war Zufall, Tikkirej. Inna Snow wusste nichts von deiner Existenz. Es war nicht möglich, das Schicksal aller Klone zu verfolgen. Du kamst völlig zufällig auf Neu-Kuweit. Deine Eltern haben sich wirklich für dich aufgeopfert. Die Mannschaft der Kljasma hatte wirklich Mitleid mit dir und erlaubte dir deshalb, von Bord zu gehen. Dubistnichtdurchdiestandardmäßige Einwanderungskontrolle bei Verlassen des Raumschiffes gegangen, die Agenten des Inej haben zu spät von dir erfahren.«

»Wenn ich also das Raumschiff wie üblich verlassen hätte…«

»Hätte dich sofort der Resident des Inej aufgespürt und mit allen Ehren an einen sicheren Ort gebracht. Ich denke, dass du dich nicht auf die Übernahme eines fremden Bewusstseins eingelassen hättest. Aber man hätte dich überredet, auf der Seite des Inej zu stehen! Bestimmt!«

»Das ist nicht wahr!«, rief Natascha erbost aus. Aber ich wusste, dass Stasj Recht hatte. Als ob ich, gerade dem Raumschiff entflohen, fröhlich, naiv und lebensfroh wie ein Welpe, auf Hilfe von irgendeiner Seite verzichtet hätte! Als ob ich mich nicht über Tausende »Brüder« und »Schwestern« gefreut hätte!

Vielleicht wäre ich sogar mit dem fremden Bewusstsein einverstanden gewesen.

»Warum haben uns die Phagen nach Neu-Kuweit geschickt?«, fragte ich.

»Um die Reaktion der Gegenspionage des Inej zu beobachten. Und die Matrize zu finden.«

»Und du hast mir nichts gesagt…«, flüsterte ich.

Stasj rieb sich die Stirn. Zerstreut schaute er nach oben — vielleicht suchte er die Überwachungsapparaturen an der Decke, vielleicht die passenden Worte.

»Ich weiß nicht, ob du mich verstehen wirst, Tikkirej.«

»Versuch es!«, erwiderte ich. »Ich bin sehr verständnisvoll.«

»Weißt du Tikkirej, es gibt verschiedene Arten der Zuneigung. Ein Vater schickt seinen Sohn in den Krieg und wünscht ihm Sieg und Ehre. Ein anderer nimmt ihn am Schlafittchen, versteckt ihn im Untergrund und ist bereit, in den Tod zu gehen, um seinen Sohn vor dem kleinsten Übel zu bewahren. Es steht mir nicht an, zu urteilen, wer von den beiden Recht hat. Und du bist mir kein Sohn. Und für den Krieg bist du noch zu jung. Aus alldem folgt, dass ich dich einfach benutzt habe. Hintergangen. Aber dem ist nicht so. Ich konnte nicht gegen dein Schicksal handeln.«

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