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»Wir warten«, befahl Natascha.

Wir suchten uns einen Platz hinter den Sträuchern, warteten und aßen dabei unser Eis auf. Natascha schaute die ganze Zeit auf die Uhr, dann nahm sie sie ab und legte sie vor sich hin. Lion schien am ruhigsten zu sein — schmatzend schleckte er das cremige Eis. Er aß länger als wir und schaute nicht auf die Uhr.

»Halten wir uns bereit«, sagte Natascha mit angespannter Stimme. »Minus eine Minute.«

Lion schluckte mit einem Mal den ganzen Rest hinunter, zerknüllte die Hülle, warf sie in den Bach und wusch sich die Hände. Er ging in Startposition.

»Minus zwanzig Sekunden.« Natascha fuhr sich über die Haare, sah uns an und bekreuzigte sich. Ihre Wangen waren gerötet wie vom Frost.

Ich war nicht aufgeregt. Überhaupt nicht. Ich war davon überzeugt, dass wir gleich verhaftet würden und damit alles vorbei wäre.

»Los!« Natascha sprang auf und rannte zum Zaun.

Aber Lion überholte sie. Am Zaun ging er in die Knie und stützte seine Hände gegen die Betonplatte. Natascha verstand, stieg auf seinen Rücken, zog sich hoch und sprang über den Zaun. Ich folgte ihr, Lion ächzte unter meinen Beinen, und ich sprang nicht hinüber, sondern legte mich flach auf die Oberkante, hielt mich mit den Beinen daran fest und streckte Lion meine Hand hin. Er ergriff sie, zog sich hoch und wir sprangen gemeinsam auf die andere Seite.

Wir befanden uns in einer anderen Welt!

Während hinter dem Zaun ein verwilderter Park im warmen Herbstwind lag, kamen wir auf der anderen Seite wieder in den Sommer. Der Park war licht, gepflegt, durchzogen von sauberen Wegen. Sogar das Bächlein, das durch ein Gitter im Zaun floss, rauschte nicht mehr, sondern plätscherte melodisch. Es war sehr warm, fast schon heiß, Schmetterlinge flatterten über den Blumenbeeten, wenn auch nicht so große und grelle wie innerhalb der Kuppel, aber immerhin… Hier gab es bestimmt eine lokale Klimatisation — eine sehr kostspielige Angelegenheit, aber seit wann kümmerte sich eine Regierung um die Kosten?

Natascha schaute sich um und flüsterte: »Vorwärts! Lauft!«

Wir stürzten nach vorn, ohne einen bestimmten Weg zu nehmen, mal über Wege, die mit rauen Steinplatten gepflastert waren, mal einfach zwischen den Bäumen hindurch. Mir schien es, als ob wir die hundert Meter in einer halben Minute hinter uns gebracht hätten, aber ein Springbrunnen war nicht zu sehen. Endlich zeigte Lion nach rechts und schrie:

»Dorthin!«

Ja, diesen Springbrunnen konnte man tatsächlich schwer übersehen. Er war riesig: Das Becken hatte einen Durchmesser von rund zwanzig Metern und war bis zum Rand mit Wasser gefüllt. Inmitten des Beckens stand eine Skulpturengruppe. Diese erschien recht sonderbar: Ein bronzener Gigant in einem altmodischen Raumanzug kämpfte sich durch das Wasser, mit einer Hand schützte er sein Gesicht vor den herunterfallenden Spritzern, in der anderen hielt er schussbereit einen Strahlenwerfer. Hinter ihm, aus einem Steinhaufen, folgte eine Menschenmenge, hauptsächlich Frauen und Kinder. Einige von ihnen waren vollständig, andere teilweise aus dem Stein heraustretend gestaltet. Der Wasserstrahl an sich war nicht sehr hoch, vielleicht drei Meter, und kam aus ziemlich krummen Rohren. Klatschend schlug das Wasser gegen die Felsen.

»So ein Kitsch!«, rief Lion begeistert aus.

»Ins Wasserbecken!«, befahl Natascha. Wir wateten durch das Wasser und standen bald zwischen den mit Moos bewachsenen, kühlen Bronzefiguren, die nass vom Wassernebel waren.

Natascha entschied: »Hier warten wir.«

Es war lustig, zwischen den Skulpturen zu stehen. Ich berührte die Hand eines Bronzemädchens, das voller Hoffnung mit blinden Augenhöhlen auf den Riesen schaute.

Ich fragte: »Was sind das denn für Figuren?«

Natascha winkte ab, aber nach einer Minute antwortete sie doch: »Das ist zum Gedenken an die erste Landung. Eines der Landeboote zerschellte damals im Dschungel, aber ein unverletzt gebliebener Pilot brachte fast alle Passagiere in die Zivilisation zurück.«

»Aha, das bedeutet, der Wasserstrahl versinnbildlicht den Brennstoff, der aus den Tanks strömt«, kicherte Lion. Die Skulpturen gefielen ihm ganz offensichtlich nicht.

»Leise!«, zischte Natascha und drückte sich an die Steine. Wir verstummten und drängten uns tiefer zwischen die Bronzefiguren. Nach einer Minute erschien die Patrouille auf dem Weg — zwei Männer und eine Frau.

Wenn mir der Bronzepilot wie ein Riese vorkam, dann standen ihm die Wachleute in nichts nach. Nur dass sie an Stelle des alten Raumanzuges eine leichte Kampfpanzerung aus Keramik trugen. Der Bildschirm an den Helmen war ausgeschaltet, die Waffe steckte im Halfter — augenscheinlich erwarteten sie keine Überraschungen.

Die Frau war ohne jegliche Panzerung und ohne Waffe, trug ein gewöhnliches Kleid und Sandalen und hielt eine kleine Plastikreisetasche in der Hand.

In unserem Versteck hörten wir einen Gesprächsfetzen: »Also werden wir weiter unterwegs sein. Solange die neue Linie nicht gelegt wird«, regte sich die Frau auf. Mir schien, dass sie nicht hirnamputiert war, sie hatte eine zu lebhafte Stimme.

»Er hat bloß Angst davor, ein überflüssiges Papier zu unterschreiben!«, wurde die Frau von einem der Wachmänner unterstützt. »Er hat Angst, dass man sich an ihn erinnert und ihn pensioniert.«

»Ich werde eine Meldung schreiben«, schimpfte die Frau weiter. »Wie lange soll das noch so weitergehen, jeden Tag Pannen…«

Sie unterhielten sich und liefen langsam in Richtung des Zaunes, über den wir gesprungen waren. Auf den Springbrunnen achteten sie nicht. Natascha wartete, bis die Gestalten zwischen den Bäumen verschwunden und die Stimmen ganz verklungen waren, danach wandte sie sich an uns:

»Los, an die Arbeit…«

Wir kletterten aus dem Wasserbecken und liefen zu dem Gebäude, das im Inneren des Parks zu sehen war, eine schöne Villa mit Säulen, Türmchen und einer Terrasse genau über dem Haupteingang, auf dem Dach. Ich hatte immer noch nicht die Hoffnung verloren, dass wir gefasst würden, aber eine andere Wache gab es nicht. Wir gingen natürlich nicht zum Haupteingang, sondern liefen um die Villa herum, und Natascha zeigte triumphierend auf eine kleine Holztür — sie war angelehnt.

»Hier!«

Ich glaubte, dass diese Tür absichtlich offen gelassen worden war. Und ich war mir sicher, dass diese junge Frau bei den Wachleuten dafür sowie für das Abschalten der Alarmanlage gesorgt hatte. Sicher war sie der Techniker und für das Alarmsystem verantwortlich.

»Tikkirej, was stehst du herum?«, rief mir Natascha zu, Lion und sie waren schon im Haus.

Ich schaute noch einmal auf den friedlichen Park und ging durch den Diensteingang der Villa in einen kleinen Vorraum. Natascha stieß mich erbost in den Korridor, der ins Innere des Gebäudes führte, beugte sich selbst nach unten und begann die nassen Fußabdrücke auf dem Boden mit irgendeinem Lappen wegzuwischen. Ich erblickte Lion, nackt bis zur Gürtellinie, der sehr ärgerlich schien, und mir war klar, dass dieser Lappen bis eben noch sein Hemd gewesen war.

»Daran hatten wir nicht gedacht«, sagte Natascha und bewegte sich schnell Richtung Korridor, wobei sie gekonnt den Lappen schwang. »Zieht eure Schuhe aus, wir gehen barfuß.«

Durch solche Kleinigkeiten platzen oft die raffiniertesten Pläne: Wenn uns unsere Fußspuren nicht aufgefallen wären, hätte uns auch nicht gerettet, dass die Bewegungsmelder ausgeschaltet waren. Unsere Spuren hätten uns verraten, ganz wie in den mittelalterlichen Überlieferungen über Grenzen und Spione. Diese Gefahr schien uns nicht zu drohen: Natascha blieb wachsam.

Wir liefen an einigen funktionell eingerichteten Zimmern vorbei. In einem befanden sich ein Rednerpult und einige große Bildschirme, in einem anderen Sessel und Sofa zum Ausruhen für die Wachleute. Danach erschien die Möblierung reicher, wenn auch nicht übertrieben. So besichtigten wir kleine Zimmer mit Betten und Schränken, ein Wohnzimmer mit Fernsehapparat und Sitzgarnitur. Die Küche dagegen war riesig und mit einer Menge verschiedener Haushaltsgeräte ausgerüstet. Dort standen Mikrowellen (im Ganzen zwei) und normaleHerdplatten,Wärmeschränke,Fritteusen, Küchenmaschinen und eine Menge Geräte, deren Namen ich nicht einmal kannte.

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