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Lion nickte und wurde knallrot. Er schämte sich für seine Mutter, aber es war nicht zu ändern.

»Bring mir einen Strahlenwerfer mit«, wurde Lion von seinem Bruder gebeten.

Bei Sascha explodierte Lion dann endlich. Er gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf und fauchte: »Spiel mit Bauklötzen!«

Unerwartet bekam er Unterstützung von seiner Mutter: »Sascha, sag keine Dummheiten! Lion ist doch noch kein Soldat, er fährt in die Schule, um zu lernen. Er wird dir ein Buch mitbringen. Lion, bring ihm ein Buch mit, okay?«

»Über Spione«, konkretisierte Sascha wichtigtuerisch. Und erst danach erinnerte er sich an den Klaps und begann zu wimmern.

Nur Lions Schwester schien wirklich darunter zu leiden, dass der gerade zurückgekehrte Bruder sie schon wieder verließ. Sie stand da, zog die Stirn in Falten und bohrte mit der Fußspitze Löcher in den Sand des Weges. Deshalb schaute ich lieber nur auf Polina. Aber dann fiel mir ein, dass das auch eine vom Inej aufgezwungene Rolle sein könnte: Die Eltern müssen ihre heranwachsenden Kinder fröhlich ins Erwachsenenleben verabschieden, die Jungs darum bitten, eine Waffe oder Bücher über Spione mitgebracht zu bekommen, und die Mädchen einfach traurig sein.

Aber es sind doch nicht alle so! Semetzki sagte, dass etwa fünfzehn Prozent normal geblieben waren! Wo steckten sie nur?

»Meine Liebe, wir fahren jetzt!« Edgar lehnte sich leicht aus dem Autofenster, Anabell lächelte breit und küsste ihn schnell und akkurat auf die Wange.

Lion wandte sich ab.

Als wir auf den Ausgang des Geländes zufuhren, erinnerte ich mich an den Brief aus dem Ministerium für Migration.

»Mister Edgar, halten Sie kurz an«, bat ich. »Ich muss einen Brief abholen — wegen der Staatsbürgerschaft.«

Er schaute unwillig, fuhr aber an den Straßenrand und hielt an.

»Ich beeile mich«, sagte ich schuldbewusst. »Bin gleich wieder da.« Und ich lief schnell zum Verwaltungsgebäude.

Anna arbeitete auch heute. Ich grüßte sie, und sie griff, ohne zu fragen, in den kleinen Wandsafe, um den Brief zu holen.

»Gleich, Tikkirej, irgendwo hier muss er sein…«, murmelte sie. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, der Safe war weit oben angebracht.

Ich wusste nicht, warum es aus mir herausdrängte, als ich bemerkte: »Aber Sie sind normal.«

Das Mädchen hörte für einen Augenblick auf, im Safe herumzukramen. Dann fand sie den Umschlag und reichte ihn mir:

»Und du bist auch nicht hirnamputiert, Tikkirej.«

»Hirnamputiert?«

Sie nickte. »So nennen wir die, die in der Nacht des Überfalls eingeschlafen sind. Hirnamputierte…«

Ich erstarrte. Ich stand da und blickte Anna an. Sie sah nicht wie ein feindlicher Agent aus. Aber auch nicht wie eine Untergrundkämpferin. Endlich fragte ich: »Wer ist das: Wir?«

»Die, die nicht eingeschlafen sind. Ungefähr jeder Zehnte«, erläuterte Anna. »Der Besitzer des Motels, Mister Parkins, ist auch kein Hirnamputierter. Und unser Elektriker…«

»Also, Sie…« Ich war ganz durcheinander. »Und was machen Sie alle?«

»Wir leben.« Sie lächelte. »Tikkirej, hab keine Angst. Hier passiert nichts Schlimmes. Nur dass der größte Teil der Leute Untertanen des Inej geworden sind. Na und?«

»Wie ›Na und‹?«, regte ich mich auf. »Sie sind doch jetzt alle ganz anders!«

Anna holte Luft und zeigte mit ihren Augen auf das Sofa. Ich nahm Platz und sie setzte sich neben mich.

»Tikkirej, vielen hat es gutgetan. Ich habe zum Beispiel einen Freund, er… Na ja, früher haben wir uns oft gestritten. Wegen jeder Kleinigkeit…« Sie wirkte unsicher. »Dafür ist jetzt bei uns alles in Butter. Viel besser als früher! Und meine Eltern wollten sich scheiden lassen, Vater wollte eine zweite Frau nehmen, Mutter war dagegen. Jetzt verstehen sie sich wieder.«

»Deine Mutter ist nicht mehr dagegen?«, fragte ich bösartig. Es war mir unverständlich, woher meine Wut kam.

Nun wurde es Anna zu viel: »Tikkirej! Wie kannst du nur!?«

»Entschuldigen Sie«, murmelte ich.

»Die Vielweiberei wurde bei uns abgeschafft«, erläuterte Anna. »Und überhaupt lieben sich jetzt alle: Die Ehemänner lieben ihre Ehefrauen und die Ehefrauen ihre Ehemänner. Die Säufer haben aufgehört zu trinken. Die Kinder schwänzen nicht mehr die Schule. Derjenige, der Bestechungsgelder nahm, hat sich dazu bekannt; wer keine Steuern gezahlt hat, hat dem Staat seine Schulden überwiesen.«

»Aber das ist doch alles aufgezwungen!«, schrie ich fast. »Die Leute haben eine Gehirnwäsche erhalten, verstehen Sie das denn nicht?«

»Das war irgendeine Waffe«, stimmte Anna zu, »die auf Inej entwickelt wurde. Sicherlich! Na und? Ist das nicht egal? Ist es nicht egal, Tikkirej, wer bei den Menschen der Höchststehende ist, der Imperator oder Inna Snow? Also mir ist das völlig egal. Hauptsache, mein Freund nimmt keine Drogen. Und Vater und Mutter streiten sich nicht. Und die Menschen achten sich gegenseitig!«

»Wenn es eurer Inna Snow morgen einfallen sollte, dass alle auf den Händen laufen und Spinnen essen müssen, wären Sie dann auch einverstanden?«

Anna lachte nur: »Tikkirej, ihr habt euch im Wald Schauergeschichten ausgedacht. Inna Snow ist eine intelligente Frau. Niemand macht etwas Schlechtes. Das Imperium dagegen…«

»Es wird also Krieg gegen das Imperium geben, oder ist das auch eine Schauergeschichte?«, wollte ich wissen.

»Es wird überhaupt keinen Krieg geben«, erwiderte Anna überzeugt. »Alle Planeten werden sich Inej anschließen. Nach und nach. Wir werden eine Herrscherin an Stelle des Imperators haben. Die Menschen werden sich besser zueinander verhalten. Und mehr nicht. Wenn es doch einen Krieg geben sollte, dann wird es ein gewaltloser.«

Ich neigte zweifelnd meinen Kopf. Sie verstand gar nichts. Niemand sah sich mehr die hinterhältigen Fernsehserien vom Inej an. Die Radioshunts waren jetzt bei allen blockiert. Die Wissenschaftler suchten nach einem Weg, um die »Hirnamputierten« zu heilen. Also wird es Krieg geben.

»Tikkirej, warum schaust du so beleidigt?« Anna tätschelte meinen Kopf. »Wenn du in die Stadt fährst, wirst du selbst sehen, wie positiv sich alle verändert haben.«

»Sie können mich ruhig verpfeifen«, sagte ich, »aber es war trotzdem ein hinterhältiger Überfall!«

»Ich habe nicht vor, dich anzuschwärzen«, meinte Anna wieder ganz fröhlich. »Ich bin ja nicht hirnamputiert. Obwohl denen eigentlich alles egal ist. Benimm dich normal — und du wirst keine Schwierigkeiten bekommen.«

Die Tür wurde geöffnet.

»Tikkirej!«, rief Lion ärgerlich. »Papa ist sowieso schon spät dran!«

Wie ich mich über sein Erscheinen freute!

»Entschuldigen Sie bitte, ich muss los.« Ich sprang auf und drückte den Briefumschlag an mich. »Auf Wiedersehen.«

»Viel Erfolg, Tikkirej«, erwiderte Anna freundlich. »Denk nicht so viel nach! Alles wird gut!«

Mit diesen Begleitworten rannten wir zum Auto.

»Wovon hat sie gesprochen?«, fragte Lion unterwegs. »Mein Vater ist ganz nervös.«

»Ich erzähl es dir später«, sagte ich kurz. »Mister Edgar, entschuldigen Sie, wir konnten das Schreiben nicht finden.«

Mister Edgar schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. Wir hatten noch nicht die Türen geschlossen, als das Auto schon losfuhr.

»Na, was ist drin?« Lion griff nach dem Briefumschlag.

Ich riss das feste Papier auf. Im Innern fand ich ein Schreiben mit schöner Unterschrift, Siegel und eine kleine Plastikkarte. Auf der Suche nach der Hauptaussage fing ich schnell an zu lesen: »›Sehr geehrter… auf Ihren Antrag… entsprechend dem Einwanderungsgesetz‹ … Hurra!«

»Genehmigt?«, fragte Lion.

Eigenartig. Was interessierte mich jetzt noch die Staatsbürgerschaft von Neu-Kuweit? Ich hatte ja bereits die Staatsbürgerschaft des Avalon, eine der prestigeträchtigsten, besser war nur die der Erde oder des Edem. Zumal Neu-Kuweit von Inej erobert war, dessen Staatsbürgerschaft in der Galaxis wenig geschätzt wurde.

Aber trotzdem war ich zufrieden. Sehr zufrieden. Denn diese Staatsbürgerschaft verdankte ich mir selber. Ihretwegen hatte ich Karijer als Modul verlassen. Ich hatte riskiert und gewonnen. Wenn es Inej nicht gäbe, wie glücklich wäre ich jetzt! »Mister Edgar, schauen Sie nur!« Ich zeigte ihm meine Karte. Darauf waren mein Foto, der Name, der Biodetektorchip und ein langer Strichcode.

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