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Die Kleinen liefen ihrem Vater ins Badezimmer nach.

Ich setzte mich neben Lion an den Tisch, der mit einer schönen, grünen Tischdecke bedeckt war. Lion wirkte durcheinander und trübsinnig. Da endlich fiel mir ein, woran mich das alles erinnerte!

An eine Fernsehserie! Familienunterhaltung der Art »Vater, Mutter und wir« oder »Komödien und Dramen auf Edem«. In ihnen gab es immer kleine Geheimnisse und nichtige Konflikte, gehorsame kleine Kinder und aufsässige Jugendliche. Ständig lief jemand von zu Hause weg oder ging verloren und bei dessen Rückkehr nach verschiedenen Abenteuern freute man sich auf ihn, las ihm ein wenig die Leviten und setzte sich letztendlich an einen festlich gedeckten Tisch.

Sowohl Mister Edgar als auch Missis Anabell benahmen sich wie die Helden dieser Fernsehserien.

»Ich glaube, dass man den Jungs auch ein Tröpfchen Wein eingießen kann!«, meinte Mister Edgar.

Lion erzitterte kaum merklich. Spät am Abend gingen wir in Lions Zimmer schlafen. Es gab dort nur ein Bett, ich schlief davor auf dem Boden. Das war annehmbar.

Lion jedoch war innerlich zutiefst verletzt und schwieg. Erst als wir das Licht ausgemacht hatten, fragte er leise: »Hör mal, Tikkirej, was ist mit ihnen los? Was soll ich jetzt machen?«

Ich hob die Schultern. »Haben sie sich früher nicht so benommen?«

Lion schüttelte energisch den Kopf.

»Na ja… Sie sind ja nicht schlechter geworden, stimmt’s? Sie lieben dich. Und…«

»Sie haben sich verändert!«, flüsterte Lion und neigte sich von seinem Bett zu mir herunter. »Du Idiot, sie sind ganz anders!«

»Wie im Film«, schlug ich vor, um ihn nicht zu beleidigen.

»Ja! Aber ich will nicht in einer Seifenoper leben! Wenn du solche Eltern hättest…«

Er verstummte und sah mich erschrocken an.

Ich legte mich auf den Rücken und schaute zur Decke.

Nein, ich nahm es ihm nicht übel. Ich dachte darüber nach, was eigentlich schlimmer war: Wenn die Eltern sterben, damit sich in deinem Leben nichts verändert, oder wenn sie sich selbst so verändern, dass man am liebsten tot sein möchte.

Es ist bestimmt trotz allem besser, wenn sie leben!

»Tikkirej…«

»Es ist besser, solche zu haben«, sagte ich. »Ehrenwort.«

»Verzeih mir.«

»Ja… Aber sag das nie wieder, Lion!«

Er schluchzte schuldbewusst auf und warf sich unruhig hin und her. Dann sagte er: »Sie jagen mich doch noch aus dem Haus!«

»Lüg nicht«, erwiderte ich. »Sie werfen dich überhaupt nicht raus.«

Aber eigentlich hatte Lion Recht. Als wir am Tisch saßen, hatten die Eltern ein Gespräch mit Lion begonnen. Dass sie noch »eine gewisse Zeit« in dem Motel wohnen würden, weil viele Migranten vom Inej gekommen waren und der Wohnraum nicht ausreiche. Dass es aber unbequem für Lion wäre, jeden Tag von der Stadt zum Motel zu fahren. Deshalb wäre es das Beste, wenn Lion in Agrabad zur Schule gehen würde, in ein College für Bauern- und Waisenkinder. An den Wochenenden könnte er dann seine Eltern besuchen. Das widersprach ihrem ganzen Verhalten dermaßen, dass Lion zu geschockt war, um widersprechen zu können, obwohl ich an seiner Stelle auf alle Fälle diskutiert hätte. Denn Mister Edgar fuhr ja so oder so jeden Tag nach Agrabad zur Arbeit, er hatte eine Beschäftigung in einem Betrieb für kosmische Antriebe gefunden. Was würde es ihm da ausmachen, Lion in die Schule zu bringen und wieder abzuholen?

»Sie wollen mich weghaben«, meinte Lion starrköpfig. »Und weißt du, warum?«

»Warum denn?«

»Das ist alles wegen des Programms. Weil sie zu Zombies geworden sind! Warum haben denn Eltern Angst, ihre Kinder aus dem Haus zu lassen, besonders für längere Zeit? Sie glauben immer, dass ihre Kinder noch klein sind, dass ihnen etwas passieren könnte.«

»Genau das sagt auch deine Mama…«

»Genau das denkt sie nicht!«, stieß Lion hervor und senkte seine Stimme. »Sie hat mich schon großgezogen, verstehst du das? Und meine Enkel hat sie erzogen. Sie ist schon daran gewöhnt, dass ich erwachsen bin!«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, also in meinem Traum…«

»Also das war ja in deinem. Woher willst du wissen, was deine Mutter geträumt hat? Sie erinnert sich ja an nichts, hat alles vergessen.«

»Vom Verstand her — hat sie es vergessen. Aber sie hatte auch einen Traum. Dass sie in der Föderation des Inej wohnen würde. Dass ich erwachsen war, sie in einem Rüstungsbetrieb arbeitete, dass Sascha im Krieg gefallen war… oder ich… Danach hat sie natürlich alles vergessen. Aber im Unterbewusstsein sind diese Erinnerungen wach. Deshalb macht es ihr überhaupt keine Probleme, mich wegzuschicken.«

Vielleicht war es wirklich so. Ich schwieg und Lion fuhr hitzig fort: »Verstehst du, was dieser Inej anrichtet? Er zwingt die Leute, ein fremdes Leben zu führen, so wie es Inej wünscht. Und wenn man einen Menschen das ganze Leben lang zwingt, etwas zu tun, gewöhnt er sich daran, es wird zu einem Reflex. So ist das nämlich…«

»Vorhin warst du nicht der Meinung, dass das schlecht wäre«, warf ich ein.

»Weil ich blöd war«, nuschelte Lion. »Ich möchte, dass sie wieder wie früher werden! Selbst wenn ich dann was abkriegen sollte, aber sie würden sich nicht freuen, dass ich in eine ›gute Schule‹ komme.«

»Lass uns lieber darüber nachdenken, was aus Tien wird!«

Lion rutschte unruhig hin und her. »Wenn wir zum alten Semetzki Verbindung aufnehmen könnten…«

»Und dann? Können etwa zwanzig Mädchen Tien befreien?«

»Können es denn zwei Jungs?«

»Ich habe die Peitsche!«, erinnerte ich ihn.

»Ha!«, stieß Lion verächtlich aus. »Er hat einen Peitsche! Ohne Energie…«

»Für kurze Zeit kann man eine beliebige Batterie einsetzen. Sogar eine vom Fotoapparat.«

Lion schwieg. Dann dachte er laut:

»Sogar wenn du eine richtige Peitsche hättest und ich eine Neutronenkanone, würden wir nichts machen können. Der Platz vor dem Sultanspalast ist im Stadtzentrum. Ringsherum werden Wachen stehen. Und dazu noch die Menschenmasse. Und in der Menge sind alle Zombies. Sie werden sich in deine Peitsche werfen, um für Inej zu sterben.«

»Und wenn diese — Herrscherin bei der Urteilsverkündung anwesend sein wird? Man könnte sie als Geisel nehmen…«

»Sie kann nicht getötet werden«, wandte Lion ruhig ein. »Das weiß ich genau. Sie ist überall und unsterblich.«

»Wer ist sie denn, etwa Gott? Das ist doch alles Propaganda!«

»Vielleicht ist es Propaganda, aber das wird nicht funktionieren«, erwiderte Lion ruhig. »Ich erinnere mich an einen derartigen Vorfall… Also, im Traum… Die Soldaten des Imperiums nahmen die Herrscherin gefangen, um Inej zu besiegen. Sie aber lachte ihnen ins Gesicht und befahl, auf ihr Raumschiff zu schießen… Kurz gesagt, das Raumschiff mit ihr und den Soldaten des Imperiums explodierte. Am nächsten Tag trat die Herrscherin im Fernsehen auf und verkündete, dass alles in Ordnung sei und auch in Zukunft so verfahren werden würde.«

»Aber das kann doch nicht sein!«, stieß ich hervor.

Lion holte nur tief Luft.

So kamen wir zu keinem Entschluss. Und schliefen ein.

Am Morgen ging es wirklich nach Agrabad. MisterEdgarsAutowareineverschlissene, stromlinienförmige, geglättete »Plastikmühle«. Diese Autos wurden gar nicht richtig repariert; wenn etwas kaputtging, wurden sofort ganze Blocks ausgewechselt: der Motorblock, der Navigationsblock, der Block mit den Vordersitzen, der Räderblock…

»Ein sehr sparsames Auto«, erklärte uns Mister Edgar und setzte sich auf den Fahrersitz. »Habt ihr Platz? Ist es euch nicht zu eng?«

»Ist okay«, sagte Lion. Im Auto war es sehr ungemütlich, sogar wir stießen mit den Knien an die Vordersitze, aber eine entsprechende Bemerkung war sinnlos. Solche Autos wurden auf Inej produziert. Und das bedeutete automatisch, dass sie gut waren.

»Lern fleißig!«, gab Missis Anabell Lion mit auf den Weg. »Du hast viel verpasst, du musst aufholen. Fang keine Schlägerei an, wenn es nicht unbedingt notwendig ist. Halte dich an Tikkirej, er ist ein starker Junge und kann dich verteidigen. Achtet eure Freundschaft, helft euch und steht füreinander ein! Das sind die heiligsten Werte, die es gibt. Wasch dich auf alle Fälle zweimal am Tag, du weißt ja, dass auf dem Planeten aller mögliche Schmutz herumfliegt.«

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