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Ich verließ den Schutz der Bahnhöfe zum erstenmal in München und zwang mich, eine Stunde spazierenzugehen. Da ich die Stadt nicht kannte, war ich sicher, daß auch mich niemand kennen würde. Ich aß im Franziskanerbräu. Das Lokal war voll. Ich saß an einem Tisch allein und horchte. Nach ein paar Minuten setzte sich ein schwitzender, dicker Mann zu mir. Er bestellte ein Bier und ein Rindfleisch und las eine Zeitung. Ich war bisher noch nicht darauf gekommen, deutsche Zeitungen zu lesen, und kaufte mir zwei. Es war Jahre her, daß ich Deutsch gelesen hatte, und ich mußte mich immer noch daran gewöhnen, daß jeder um mich herum es sprach.

Die Leitartikel der Zeitungen waren entsetzlich. Sie waren verlogen, blutrünstig und arrogant. Die Welt außerhalb Deutschlands erschien ihnen degeneriert, heimtückisch, dumm und zu nichts anderem nütze, als von Deutschland übernommen zu werden. Die beiden Zeitungen war keine Lokalblätter, sie hatten früher einmal einen guten Namen gehabt. Nicht nur ihr Inhalt, auch ihr Stil war unglaublich.

Ich betrachtete den Zeitungsleser neben mir. Er aß, trank und las mit Genuß. Ich blickte mich um. Nirgendwo sah ich unter den Lesern Zeichen des Abscheus; sie waren an ihre tägliche geistige Kost gewöhnt wie an das Bier.

Ich las weiter, bis ich unter den kleinen Nachrichten eine über Osnabrück fand. Ein Haus an der Lotterstraße war abgebrannt. Ich sah die Straße vor mir. Man kam über die Wälle zum Hegertor und von da zur Lotterstraße, die hinaus aus der Stadt führte. Ich legte die Zeitung zusammen. Ich fühlte mich plötzlich einsamer als je zuvor außerhalb Deutschlands.

Langsam gewöhnte ich mich daran, daß Schock und fatalistische Apathie abwechselten. Ich gewöhnte mich auch daran, mich sicherer zu wähnen als bisher. Die Gefahr würde größer werden, wenn ich mich Osnabrück näherte, das wußte ich. Dort gab es Leute, die mich von früher kannten.

Ich kaufte mir einen billigen Koffer und etwas Wäsche und die Dinge, die für eine kurze Reise notwendig sind, um in Hotels nicht aufzufallen. Dann fuhr ich weiter. Ich wußte noch nicht, wie ich mich meiner Frau nähern sollte, und änderte meine Pläne jede Stunde. Ich mußte es auf den Zufall ankommen lassen; ich wußte ja nicht einmal, ob sie nicht ihrer Familie nachgegeben hatte – die stramm für das Regime war – und jemand anderen geheiratet hatte. Nachdem ich die Zeitungen gelesen hatte, war ich nicht mehr sicher, daß jemand lange brauchen würde, um das zu glauben, was er las, besonders dann, wenn er keine Möglichkeit zum Vergleich hatte. Ausländische Blätter waren in Deutschland unter strenger Zensur.

In Münster ging ich in ein mittleres Hotel. Ich konnte nicht immer nachts aufbleiben und tagsüber irgendwo schlafen; ich mußte riskieren, von einem Hotel in Deutschland bei der Polizei angemeldet zu werden. Kennen Sie Münster?«

»Flüchtig«, erwiderte ich.»Ist es nicht eine alte Stadt mit vielen Kirchen, in der der Westfälische Friede geschlossen wurde?«

Schwarz nickte.»In Münster und Osnabrück, 1648. Nach dreißig Jahren Krieg. Wer weiß, wie lange dieser dauern wird!«

»Wenn er so weitergeht, nicht lange. Die Deutschen haben vier Wochen gebraucht, Frankreich zu erobern.«

Der Kellner kam und erklärte, das Lokal würde geschlossen. Wir wären die letzten Gäste.»Gibt es kein anderes, das noch offen ist?«fragte Schwarz.

Der Kellner erklärte, Lissabon sei keine Stadt für viel Nachtleben. Als Schwarz ihm ein Trinkgeld gab, wußte er ein Lokal, ein geheimes, sagte er, einen russischen Nachtklub.»Sehr elegant«, erklärte er.

»Wird man uns hineinlassen?«fragte ich.

»Natürlich, mein Herr. Ich wollte nur sagen, daß es elegante Frauen dort gibt. Alle Nationen. Deutsche auch.«

»Wie lange ist der Klub offen?«

»Solange Gäste da sind. Jetzt sind immer Gäste da. Viele Deutsche jetzt, mein Herr.«

»Was für Deutsche?«

»Deutsche.«

»Mit Geld?«

»Natürlich, mit Geld.«Der Kellner lachte.»Das Lokal ist nicht billig. Aber sehr unterhaltend. Könnten Sie sagen, daß Manuel von hier Sie geschickt hat? Sie brauchen dann weiter nichts anzugeben.«

»Muß man denn irgend etwas angeben?«

»Nichts. Der Portier schreibt einen Phantasienamen für Sie als Mitglied ein. Nur eine Formsache.«

»Gut.«

Schwarz zahlte die Rechnung. Wir gingen langsam die Straße mit den Treppen hinunter. Die blassen Häuser schliefen aneinandergelehnt. Aus den Fenstern hörte man das Seufzen, Schnarchen und Atmen von Leuten, die keine Paßsorgen hatten. Unsere Schritte klangen lauter als am Tage.»Das Licht«, sagte Schwarz.»Überrascht es Sie auch so?«

»Ja. Man ist noch an das verdunkelte Europa gewöhnt. Hier glaubt man, jemand habe vergessen, es abzuschalten, und im nächsten Augenblick müsse ein Fliegerangriff kommen.«

Schwarz blieb stehen.»Wir haben es geschenkt bekommen, weil in uns etwas von Gott ist«, sagte er plötzlich pathetisch.»Und jetzt verbergen wir’s, weil wir das bißchen Gott in uns morden.«

»Soviel ich in der Sage Bescheid weiß, bekamen wir das Feuer nicht geschenkt, sondern Prometheus hat es gestohlen«, erwiderte ich.»Dafür vermachten die Götter ihm dann eine chronische Leberzirrhose. Das scheint mir auch besser zu unserm Charakter zu passen.«

Schwarz sah mich an.»Ich habe das Spotten längst aufgegeben. Die Angst vor großen Worten auch. Solange man spottet und Angst hat, versucht man, die Dinge auf ein kleineres Maß zu bringen als das, was sie haben.«

»Vielleicht«, sagte ich.»Aber soll man immerfort auf das Unmögliche starren und sagen: es ist unmöglich? Ist es nicht besser, es zu verkleinern und damit einen Streifen von Hoffnung hereinzulassen?«

»Sie haben recht! Verzeihen Sie mir. Ich vergaß, daß Sie auf der Flucht sind. Wer hat da Zeit, an Proportionen zu denken?«

»Sind Sie nicht auch auf der Flucht?«

Schwarz schüttelte den Kopf.»Nicht mehr. Ich gehe zum zweiten Male zurück.«

»Wohin?«fragte ich erstaunt. Ich konnte nicht glauben, daß er noch einmal nach Deutschland wollte.

»Zurück«, erwiderte er.»Ich werde es Ihnen erklären.«

3

Der Nachtklub war eines der typischen Lokale, geleitet von weißrussischen Emigranten, wie es sie nach der Revolution 1917 überall in Europa gibt, von Berlin bis Lissabon. Sie haben alle dieselben Kellner, die ehemals Aristokraten gewesen sind, dieselben Sängerchöre aus früheren Gardeoffizieren, dieselben hohen Preise und dieselbe melancholische Stimmung. Sie haben auch dieselbe matte Beleuchtung, auf die ich rechnete. Die Deutschen hier, von denen der Kellner gesprochen hatte, waren bestimmt keine Emigranten. Sie waren wahrscheinlich Spione, Mitglieder der Botschaft oder Angestellte deutscher Firmen.

»Die Russen haben sich besser etabliert als wir«, sagte Schwarz.»Sie waren uns in der Emigration allerdings auch um fünfzehn Jahre voraus. Und fünfzehn Jahre Unglück sind lang und geben eine Menge Erfahrung.«

»Sie waren die erste Welle der Emigration«, erwiderte ich.»Man hatte noch Mitleid mit ihnen. Man gab ihnen Erlaubnis zu arbeiten und Papiere. Nansenpässe. Als wir kamen, war das Mitleid der Welt längst aufgebraucht. Wir waren lästig wie Termiten, und fast niemand war da, der für uns noch seine Stimme erhob. Wir dürfen nicht arbeiten, nicht existieren und haben immer noch keine Papiere.«

Ich war nervös, seit wir hier saßen. Es lag wahrscheinlich an dem geschlossenen Raum mit den vielen Vorhängen, dem Bewußtsein, daß Deutsche hier sein sollten, und der Tatsache, daß ich zu weit von der Tür weg saß, um entkommen zu können; – ich war daran gewöhnt, überall nahe beim Ausgang zu sitzen. Ich war auch nervös, weil ich das Schiff nicht mehr sah. Wer wußte, ob es nicht nachts noch die Anker lichtete, früher als angesagt war, wegen irgendeiner Warnung.

Schwarz schien es zu spüren. Er griff in die Tasche und legte die beiden Fahrscheinhefte vor mich hin.

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