›Nein‹, sagte Helen.
›Ich brauche eine‹, erwiderte die Concierge. ›Sonderbar, wie es einen aufregt, was? Dabei müssen wir doch alle sterben.‹
›Ja‹, sagte Helen. ›Aber keiner will es glauben.‹
Nachts erwachte ich. Sie saß im Bett und schien zu horchen. ›Riechst du es auch?‹ fragte sie.
›Was?‹
›Die Tote. Man riecht sie. Schließ das Fenster.‹
›Man riecht nichts, Helen. Das geht nicht so schnell.‹
›Man riecht es.‹
›Es sind vielleicht die Zweige.‹ Die Emigranten hatten gesammelt und ein paar Lorbeerzweige und eine Kerze zu der Toten hineingestellt.
›Wozu haben sie die Zweige hineingestellt? Sie wird morgen zerstückelt, und dann werfen sie die Stücke in einen Eimer und verkaufen sie als Abfallfleisch für Tiere.‹
›Sie verkaufen sie nicht. Sie lassen die sezierte Leiche verbrennen oder begraben‹, erklärte ich und legte den Arm um Helen. Sie wich aus. ›Ich will nicht zerstückelt werden‹, sagte sie.
›Warum solltest du denn zerstückelt werden?‹
›Versprich mir das‹, sagte sie, ohne mich zu hören.
›Das kann ich dir leicht versprechen.‹
›Schließ das Fenster. Ich rieche es wieder.‹
Ich stand auf und schloß das Fenster. Draußen stand ein heller Mond, und die Katze hockte neben dem Fenster. Sie fauchte und sprang weg, als der Flügel des Fensters sie streifte. ›Was war das?‹ fragte Helen hinter mir.
›Die Katze.‹
›Sie spürt es auch, siehst du?‹
Ich drehte mich um. ›Sie sitzt hier jede Nacht und wartet, daß der Kanarienvogel aus seinem Käfig herauskommen soll. Schlaf weiter, Helen. Du hast geträumt. Man riecht wirklich nichts vom andern Zimmer her.‹
›Dann bin ich es, die riecht?‹
Ich starrte sie an. ›Niemand riecht hier, Helen, du hast geträumt.‹
›Wenn sie es nicht ist, muß ich es sein. Laß das Lügen!‹ erwiderte sie plötzlich scharf.
›Mein Gott, Helen, niemand riecht! Wenn es nach irgend etwas riechen könnte, dann nach Knoblauch aus dem Restaurant unten. Hier!‹ Ich nahm eine kleine Flasche Eau de Cologne – etwas, mit dem ich damals gerade schwarzhandelte – und spritzte ein paar Tropfen umher. ›So, jetzt ist die Luft frisch.‹
Sie saß noch immer aufrecht im Bett. ›Du gibst es also zu‹, sagte sie. ›Sonst hättest du das Eau de Cologne nicht gebraucht.‹
›Da ist nichts zuzugeben. Ich wollte dich nur beruhigen.‹
›Ich weiß, daß du es glaubst‹, erwiderte sie. ›Du glaubst, ich rieche. So wie die nebenan. Lüg nicht! Ich sehe es an deinen Blicken, ich sehe es schon lange! Meinst du, ich spürte nicht, wie du mich ansiehst, wenn du glaubst, ich sähe es nicht! Ich weiß, daß du dich vor mir ekelst, ich weiß es, ich sehe es, ich fühle es jeden Tag. Ich weiß, was du glaubst! Du glaubst nicht an das, was die Ärzte sagen! Du glaubst an etwas anderes, und du denkst, du kannst es riechen, und du ekelst dich vor mir! Warum bist du nicht ehrlich und sagst es?‹
Ich stand eine Weile sehr still. Wenn sie noch mehr zu sagen hatte, sollte sie es sagen. Aber sie schwieg. Ich spürte, wie sie zitterte. Sie saß im Bett, ein undeutlicher, blasser, vorgeneigter Bogen, aufgestützt auf die Arme, mit Augen, die zu groß in den Höhlen lagen, und dem stark geschminkten Mund – sie schminkte ihn seit Tagen auch vor dem Schlafengehen – und starrte mich an – wie ein verwundetes Tier, das mich anspringen wollte.
Es dauerte lange, bis sie sich beruhigte. Schließlich klopfte ich bei Baum im ersten Stock an die Tür und kaufte eine Taschenflasche Kognak von ihm. Wir saßen auf dem Bett und tranken sie und warteten auf den Morgen. Die Männer, die die Leiche abholten, kamen früh. Sie trampelten mit schweren Schuhen die Treppen herauf. Ihre Bahre stieß an die Mauern des schmalen Korridors. Man hörte ihre Witze dumpf durch die dünne Wand. Eine Stunde später kamen die neuen Mieter.«
17
»Ich handelte einige Tage mit Küchenutensilien, Reiben aus Blech, Messern, Gemüseschneidern und kleinen Sachen, für die man keinen verdächtigen Koffer brauchte. Zweimal kam ich früher als sonst in unser Zimmer zurück und fand Helen nicht vor. Ich wartete und wurde unruhig; aber die Concierge erklärte mir, daß niemand sie geholt habe. Sie sei vor einigen Stunden fortgegangen. Das passiere öfter.
Sie kam spät abends zurück. Ihr Gesicht war verschlossen. Sie sah mich nicht an. Ich wußte nicht, was zu tun, aber sie nicht zu fragen, wäre noch sonderbarer gewesen, als sie zu fragen. ›Wo warst du, Helen?‹ fragte ich deshalb doch.
›Spazieren‹, erwiderte sie.
›Bei dem Wetter?‹
›Ja, bei dem Wetter. Kontrolliere mich nicht!‹
›Ich kontrolliere dich nicht‹, sagte ich. ›Ich hatte nur Sorge, daß die Polizei dich gefaßt hätte.‹
Sie lachte hart. ›Die Polizei faßt mich nicht mehr.‹
›Ich wollte, ich könnte das glauben.‹
Sie starrte mich an. ›Wenn du weiter fragst, gehe ich wieder. Ich kann nicht ertragen, immer beobachtet zu werden, verstehst du das nicht? Die Häuser draußen beobachten mich nicht! Ich bin ihnen gleichgültig. Ich bin den Menschen gleichgültig, die an mir vorbeigehen. Sie fragen mich nicht und beobachten mich nicht.‹
Es wurde mir klar, was sie meinte. Draußen wußte niemand von ihrer Krankheit. Dort war sie kein Patient; sie war eine Frau. Und sie wollte eine Frau bleiben. Sie wollte leben; aber ein Patient zu sein, hieß für sie, langsam zu sterben.
Nachts weinte sie im Schlaf. Am Morgen hatte sie alles vergessen. Es war das Zwielicht, das sie nicht ertragen konnte. Es legte sich wie ein vergiftetes Spinnennetz auf ihr geängstigtes Herz. Ich sah, daß sie mehr und mehr Betäubungsmittel brauchte. Ich fragte Lewisohn, der früher Arzt gewesen war und jetzt mit Horoskopen handelte. Er sagte mir, daß es längst zu spät sei für irgend etwas anderes. Es war dasselbe, was Dubois gesagt hatte.
Von nun an kam sie öfter spät nach Hause. Sie fürchtete sich davor, daß ich sie fragen würde. Ich tat es nicht. Einmal kam ein Strauß Rosen an, als ich allein da war. Ich ging fort, und als ich zurückkam, war er verschwunden. Sie begann zu trinken. Ein paar Leute hielten es für nötig, mir mitzuteilen, daß sie sie in Bars gesehen hätten, nicht allein. Ich klammerte mich an das amerikanische Konsulat. Ich hatte nun die Erlaubnis erhalten, im Vorraum zu warten; aber die Tage vergingen, und nichts ereignete sich.
Dann fing man mich. Zwanzig Meter vom Konsulat entfernt riegelte Polizei plötzlich die Zugänge ab. Ich versuchte, das Konsulat zu erreichen, aber das machte mich verdächtig. Wer im Konsulat war, war gerettet. Ich sah Lachmann in der Tür verschwinden, riß mich los, brach durch und fiel über den vorgesetzten Fuß eines Gendarmen. ›Den Burschen auf alle Fälle!‹ sagte ein lächelnder Mann in Zivil. ›Er hat’s merkwürdig eilig.‹ Unsere Papiere wurden kontrolliert. Sechs von uns wurden festgehalten. Die Polizei zog sich zurück. Eine Anzahl Zivilisten umgab uns plötzlich. Wir wurden abgedrängt, in einen geschlossenen Lastwagen verladen und zu einem Hause in der Vorstadt gebracht, das ziemlich einsam in einem Garten lag. Das klingt wie ein schlechter Film«, sagte Schwarz.»Aber waren nicht die letzten neun Jahre alle ein kitschiger, blutiger Film?«
»War es die Gestapo?«fragte ich.
Schwarz nickte.»Es scheint mir heute wie ein Wunder, daß sie mich nicht vorher gefaßt hatten. Ich wußte, daß Georg nicht aufhören würde, uns zu suchen. Der lächelnde junge Mann erklärte mir das, als man mir meine Papiere abnahm. Unglücklicherweise war Helens Paß auch dabei; ich hatte ihn zum Konsulat mitgenommen. ›Endlich haben wir eines unserer Fischlein‹, sagte der junge Mann. ›Da wird das andere auch bald kommen.‹ Er lächelte und schlug mir ins Gesicht. ›Meinen Sie nicht auch, Schwarz?‹
Ich wischte mir das Blut ab, das die Ringe aus meiner Lippe springen ließen. Es waren noch zwei andere Männer in Zivil im Zimmer.
›Oder wollen Sie uns die Adresse nicht lieber selbst mitteilen?‹ fragte der lächelnde junge Mann.