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Später gingen wir durch den honigfarbenen Sommernachmittag von Paris und blieben vor dem Fenster einer kleinen Couturière stehen. Wir hatten schon öfter davorgestanden. ›Du solltest ein neues Kleid haben‹, sagte ich.

›Jetzt noch?‹ fragte Helen. ›So kurz vor dem Kriege? Ist das nicht extravagant?‹

›Gerade jetzt noch. Und gerade, weil es extravagant ist.‹

Sie küßte mich. ›Gut!‹

Ich saß ruhig in einem Sessel neben der Tür zum Hinterzimmer, in dem probiert wurde. Die Couturière brachte die Kleider heran, und Helen war bald so interessiert, daß sie mich fast vergaß. Ich hörte die Stimmen der Frauen hin- und hergehen und sah die Kleider im Türausschnitt vorüberwehen und ab und zu Helens nackten braunen Rücken, und eine sanfte Müdigkeit, die etwas von schmerzlosem Sterben ohne den Begriff des Sterbens hatte, hüllte mich ein.

Ich wußte, etwas beschämt, warum ich das Kleid hatte kaufen wollen. Es war eine Auflehnung gegen den Tag, gegen Georg, gegen meine Hilflosigkeit – ein kindischer, ferner Versuch einer noch kindischeren Rechtfertigung.

Ich erwachte, als Helen plötzlich vor mir stand, in einem sehr weiten, bunten Rock mit einem schwarzen, kurzen und enganliegenden Sweater. ›Genau richtig!‹ erklärte ich. ›Das nehmen wir.‹

›Es ist sehr teuer‹, sagte Helen.

Die Couturière versicherte, es sei das Modell eines großen Hauses – eine charmante Lüge -, aber wir wurden einig und nahmen das Kleid gleich mit. Es war gut, etwas zu kaufen, was man sich nicht leisten konnte, dachte ich. Der damit verbundene Leichtsinn verscheuchte den letzten Schatten Georgs. Helen trug das Kleid am Abend und auch in der Nacht, als wir noch einmal aufstanden und im Fenster lehnten, um auf die Stadt im Mondlicht zu schauen – unersättlich, immer wieder, geizend mit dem Schlaf, wissend, daß es nur noch für kurze Zeit war.«

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»Was bleibt?«sagte Schwarz.»Schon jetzt läuft es zusammen wie ein Hemd, aus dem die Stärke gewaschen worden ist. Die Perspektive der Zeit ist bereits nicht mehr da; was eine Landschaft war, ist nun ein flaches Bild geworden, auf das wechselnde Lichter fallen. Es ist nicht einmal mehr ein Bild – es ist fließende Erinnerung, aus der sich lose Bilder heben – das Fenster des Hotels, eine nackte Schulter, geflüsterte Worte, geisterhaft weiterlebend, das Licht über den grünen Dächern, der nächtliche Geruch des Wassers, der Mond auf dem grauen Stein der Kathedrale, das hingegebene Gesicht, und wieder ein anderes in der Provence und in den Pyrenäen, und dann das starre, letzte, das man nie gekannt hatte und das plötzlich die andern verdrängen will, als wäre alles vorher nur ein Irrtum gewesen.«

Er hob den Kopf. Sein Gesicht hatte wieder den Ausdruck der Qual, in die er vergeblich ein Lächeln hineinzuzwingen versuchte.»Es ist nur noch hier«, sagte er und zeigte auf seinen Kopf.»Und selbst hier ist es so gefährdet wie ein Kleid in einem Schrank voll Motten. Deshalb erzähle ich es Ihnen. Sie werden es weiter bewahren, und bei Ihnen ist keine Gefahr. Ihre Erinnerung versucht nicht, es zu vertilgen, um Sie zu retten, wie meine. Bei mir ist es schlecht aufgehoben, schon jetzt wuchert das letzte starre Gesicht wie ein Krebs über die anderen, früheren -«seine Stimme hob sich,»- und die anderen waren es doch, sie waren wir, nicht das unbekannte, schreckliche, letzte -«

»Blieben Sie noch in Paris?«fragte ich.

»Georg kam noch einmal«, sagte Schwarz.»Er versuchte es mit Sentimentalität und Drohung. Ich war nicht da, als er kam. Ich sah ihn nur, als er das Hotel verließ. Er blieb vor mir stehen: ›Du Lump!‹ sagte er sehr leise. ›Du ruinierst meine Schwester! Aber warte nur! Wir werden dich bald erwischen! In ein paar Wochen haben wir euch beide! Und dann, mein Junge, werde ich mich selbst um dich kümmern! Du wirst noch auf den Knien vor mir liegen und mich anflehen, ein Ende mit dir zu machen – wenn du dann noch eine Stimme hast!‹

›Ich kann mir das gut vorstellen‹, erwiderte ich.

›Du kannst dir gar nichts vorstellen! Sonst hättest du dich so weit weggehalten, wie du kannst. Ich gebe dir noch eine Chance. Wenn meine Schwester in drei Tagen wieder zurück in Osnabrück ist, will ich einiges vergessen. In drei Tagen! Verstanden?‹

›Sie sind nicht schwer zu verstehen.‹

›Nein? Dann merk dir, daß meine Schwester zurück muß! Du weißt das doch auch, du verdammter Schuft! Oder willst du behaupten, du weißt nicht, daß sie krank ist? Komme mir nicht damit!‹

Ich starrte ihn an. Ich wußte nicht, ob er das jetzt erfand, ob es stimmte, oder ob es das war, was Helen ihm erzählt hatte, um in die Schweiz zu kommen. ›Nein‹, sagte ich. ›Das weiß ich nicht!‹

›Nein? Sieh einmal an! Unbequem, was? Sie muß zum Arzt, du Lügner! Sofort! Schreib an Martens und frage ihn. Der weiß es!‹

Ich sah zwei Leute dunkel durch den weißen Tag in die offene Haustür treten. ›In drei Tagen‹, flüsterte Georg. ›Oder du wirst deine verdammte Seele zentimeterweise auskotzen! Ich werde bald wieder hier sein! In Uniform!‹

Er schob sich zwischen den Männern, die jetzt im Vorraum standen, hindurch und marschierte hinaus. Die beiden Männer gingen um mich herum die Treppe hinauf. Ich folgte ihnen. Helen stand in ihrem Zimmer am Fenster. ›Hast du ihn noch getroffen?‹ fragte sie.

›Ja. Er sagte, du wärest krank und müßtest zurück!‹

Sie schüttelte den Kopf. ›Was dem auch alles einfällt!‹

›Bist du krank?‹ fragte ich.

›Unsinn!‹ sagte sie. ›Das war doch die Erfindung von mir, um wegzukommen.‹

›Er sagte, Martens wisse es auch.‹

Helen lachte. ›Natürlich weiß er es. Erinnerst du dich nicht? Er hat mir doch nach Ascona geschrieben. Ich habe das alles mit ihm abgemacht.‹

›Du bist also nicht krank, Helen?‹

›Sehe ich krank aus?‹

›Nein, aber das bedeutet nichts. Du bist nicht krank?‹

›Nein‹, erwiderte sie ungeduldig. ›Hat Georg sonst noch etwas gesagt?‹

›Das übliche. Drohungen. Was wollte er von dir?‹

›Dasselbe. Ich glaube nicht, daß er noch einmal kommt.‹

›Wozu ist er überhaupt gekommen?‹

Helen lächelte. Es war ein merkwürdiges Lächeln. ›Er glaubt, ich gehöre ihm. Ich müsse tun, was er wolle. Er war immer so. Schon in der Kindheit. Brüder sind oft so. Er denkt, er handle aus Familienrücksichten. Ich hasse ihn.‹

›Deshalb?‹

›Ich hasse ihn. Das ist genug. Und ich habe es ihm gesagt. Aber es gibt Krieg. Er weiß es.‹

Wir schwiegen. Der Lärm der Autos am Quai des Grands-Augustins schien lauter zu werden. Hinter der Conciergerie stach die Nadel der Sainte-Chapelle in den klaren Himmel. Man hörte die Schreie der Zeitungsrufer. Sie übertönten die Motoren wie Möwenschreie das Rauschen des Meeres.

›Ich werde dich nicht schützen können‹, sagte ich.

›Das weiß ich.‹

›Man wird dich internieren.‹

›Und dich?‹

Ich zuckte die Achseln. ›Mich wahrscheinlich auch. Es ist möglich, daß man uns trennt.‹

Sie nickte.

›Die Gefängnisse in Frankreich sind keine Sanatorien.‹

›Die in Deutschland auch nicht.‹

›In Deutschland würde man dich nicht einsperren.‹

Helen machte eine rasche Bewegung. ›Ich bleibe hier! Du hast deine Pflicht getan und mich gewarnt. Denk nicht mehr darüber nach. Ich bleibe. Es hat nichts mit dir zu tun. Ich gehe nicht zurück.‹

Ich sah sie an.

›Zum Teufel mit der Sicherheit!‹ sagte sie. ›Und zum Teufel mit der Vorsicht! Ich hatte sie lange genug.‹

Ich legte den Arm um ihre Schultern. ›Das sagt man leicht, Helen -‹

Sie stieß mich von sich. ›Dann geh du!‹ schrie sie plötzlich. ›Geh und du hast keine Verantwortung! Laß mich allein! Geh! Ich komme auch allein durch.‹

Sie blickte mich an, als wäre ich Georg. ›Sei keine Henne! Was weißt du denn? Ersticke mich nicht mit deiner Sorge und deiner Angst vor Verantwortung! Ich bin nicht deinetwegen weggegangen. Begreife das doch! Nicht deinetwegen! Meinetwegen!‹

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