Литмир - Электронная Библиотека
A
A

›Alles ist ein Trost‹, erwiderte Helen und gähnte. ›Solange wir leben, ist alles ein Trost, weißt du das noch nicht? Glaubst du, daß sie uns als Spione erschießen werden?‹

›Nein. Sie werden uns einsperren.‹

›Sperren sie auch die Emigranten ein, die sie nicht für Spione halten?‹

›Ja. Sie werden alle einsperren, die sie finden. Die Männer haben sie ja schon geholt.‹

Helen richtete sich halb auf. ›Wo ist dann der Unterschied?‹

›Vielleicht kommen die andern leichter frei.‹

›Das weiß man noch nicht. Vielleicht wird man uns besser behandeln, gerade weil man glaubt, wir wären Spione.‹

›Das ist Unsinn, Helen.‹

Sie schüttelte den Kopf. ›Das ist kein Unsinn. Das ist Erfahrung. Weißt du noch nicht, daß Unschuld in unserem Jahrhundert ein Verbrechen ist, das immer am schwersten bestraft wird? Mußt du in zwei Ländern eingesperrt werden, um das zu begreifen? Ach, du Gerechtigkeitsträumer! Ist noch Kognak da?‹

›Kognak und Pastete.‹

›Gib mir beides‹, sagte Helen. ›Es ist ein ungewöhnliches Frühstück; aber ich furchte, wir haben noch ein abenteuerliches Leben vor uns!‹

›Gut, daß du es so auffaßt‹, erwiderte ich und gab ihr den Kognak.

›Es ist die einzige Art, es aufzufassen. Oder willst du an Verbitterung und Lebensversäuerung sterben? Wenn du den Begriff der Gerechtigkeit ausschaltest, ist es gar nicht so schwer, es als Abenteuer zu betrachten, findest du nicht?‹

Der herrliche Geruch des alten Kognaks und der guten Pastete umwehte Helen wie ein Gruß goldenen Daseins. Sie aß mit großem Genuß. ›Ich wußte nicht, daß es so einfach für dich sein würde‹, sagte ich.

›Mach dir um mich keine Sorgen‹, erwiderte sie und suchte in ihrem Korb nach weißem Brot. ›Ich komme schon durch. Frauen ist die Gerechtigkeit nicht ganz so wichtig wie euch.‹

›Was ist euch wichtig?‹

›Dies.‹ Sie zeigte auf das Brot und die Flasche und die Pastete. ›Iß, mein Geliebter! Wir werden uns schon durchschlagen. Und in zehn Jahren wird es ein großes Abenteuer sein, und wir werden abends unseren Gästen oft davon erzählen, daß es jeden langweilen wird. Futtere, Mann mit dem falschen Namen! Was wir jetzt essen, brauchen wir nachher nicht zu schleppen.‹

Ich will Ihnen nicht alle Einzelheiten erzählen«, sagte Schwarz.»Sie kennen ja den Weg der Emigranten. Ich blieb nur ein paar Tage im Stadion Colombes. Helen kam in das ›Petite Roquette‹. Am letzten Tag erschien der Wirt unseres Hotels im Stadion. Ich sah ihn nur von weitem; es war uns nicht erlaubt, mit Besuchern zu sprechen. Der Wirt hinterließ einen kleinen Kuchen und eine große Flasche Kognak. Im Kuchen fand ich einen Zettel: ›Madame ist gesund und guter Laune. Nicht in Gefahr. Erwartet irgendwann Transport in ein Frauenlager, das in den Pyrenäen eingerichtet wird. Briefe über Hotel. Madame est formidable!‹ Eingefaltet war ein sehr kleiner Zettel mit Helens Handschrift: ›Sorge dich nicht. Keine Gefahr mehr. Es bleibt ein Abenteuer. Auf bald. Liebe.‹

Sie hatte es fertiggebracht, die nachlässige Blockade zu durchbrechen. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie. Später erzählte sie mir, daß sie erklärt habe, Dokumente holen zu müssen, die ihr fehlten. Man hatte sie mit einem Polizisten zum Hotel geschickt. Sie hatte dem Wirt den Zettel zugesteckt und ihm zugeflüstert, wie er ihn mir schicken solle. Der Polizist, der für Liebe Verständnis zeigte, hatte das übersehen. Sie hatte keine Dokumente zurückgebracht, dafür aber Parfüm, Kognak und einen Korb mit Essen. Sie liebte zu essen. Wie sie dabei schlank blieb, ist mir immer unerklärlich geblieben. Wenn ich in der Zeit, als wir noch frei waren, aufwachte und sie nicht neben mir fand, brauchte ich nur dahin zu gehen, wo wir unsere Speisen aufhoben – sie hockte dort im Mondschein und nagte mit selbstvergessenem Lächeln an einem Schinkenknochen oder stopfte sich voll mit dem Dessert vom Abend vorher, das sie aufgehoben hatte. Dazu trank sie Wein aus der Flasche. Sie war wie eine Katze, die nachts hungrig wird. Sie erzählte mir, daß sie, als sie verhaftet wurde, den Polizisten warten lassen konnte, bis die Pastete, die der Wirt des Hotels gerade im Ofen hatte, fertig gebacken war. Es war ihre Lieblingspastete, und sie wollte sie mitnehmen. Der Polizist kapitulierte knurrend, da sie sich glatt weigerte, vorher zu gehen. Die Flics scheuten davor zurück, jemand mit Gewalt in den Polizeiwagen zu schleppen. Helen vergaß nicht einmal, ein Paket Papierservietten mitzunehmen.

Am folgenden Tag wurden wir verladen nach den Pyrenäen. Die trostlose und erregende Odyssee von Angst, Komik, Flucht, Bürokratie, Verzweiflung und Liebe begann.«

12

»Es mag sein, daß unsere Zeit einmal die der Ironie genannt wird«, sagte Schwarz.»Natürlich nicht die der geistvollen des achtzehnten Jahrhunderts, sondern die der unfreiwilligen und ebenfalls bösartigen oder dummen unseres plumpen Zeitalters des Fortschritts in der Technik und des Rückschritts in der Kultur. Hitler schreit es nicht nur in die Welt hinaus, sondern er glaubt es auch selbst, daß er ein Apostel des Friedens sei und daß die andern ihm den Krieg aufgezwungen haben. Mit ihm glauben das fünfzig Millionen Deutsche. Daß nur sie allein durch viele Jahre gerüstet haben, während keine andere Nation auf den Krieg vorbereitet war, ändert nichts an ihrer Auffassung. So war es auch nicht verwunderlich, daß wir, die den deutschen Lagern entkommen waren, nun in französischen landeten. Man konnte nicht einmal viel dagegen sagen – eine Nation, die um ihr Leben kämpft, hat Wichtigeres zu tun, als jedem Emigranten volle Gerechtigkeit zu erweisen. Wir wurden nicht gefoltert, nicht vergast und nicht erschossen, nur eingesperrt; was mehr konnten wir verlangen?«

»Wann haben Sie Ihre Frau wiedergetroffen?«fragte ich.

»Es dauerte lange. Waren Sie in Le Vernet?«

»Nein; aber ich weiß, daß es eines der schlimmsten französischen Lager war.«

Schwarz lächelte ironisch.»Das ist eine Sache von Graden. Kennen Sie die Geschichte von den Krebsen, die in einen Kessel mit kaltem Wasser geworfen wurden, um darin gekocht zu werden? Als das Wasser fünfzig Grad heiß war, schrien sie, es sei nicht zum Aushalten, und jammerten nach der schönen Zeit, als es nur vierzig Grad warm war; – als es sechzig war, jammerten sie nach der guten Zeit, als es nur fünfzig war, dann, bei siebzig, nach der von sechzig – und so fort. – Le Vernet war tausendmal besser als das beste deutsche Konzentrationslager; ebenso wie ein Konzentrationslager ohne Gaskammer besser ist als eines mit Giftgasanlagen – so kann man die Krebsparabel in unsere Zeit übertragen.«

Ich nickte.»Was geschah mit Ihnen?«

»Es wurde bald kalt. Wir hatten natürlich nicht genug Decken und keine Kohlen. Die übliche Schlamperei; aber Kummer ist schwerer zu ertragen, wenn man friert. Ich will Sie nicht langweilen mit der Schilderung des Winters im Lager. Ironie ist da billig. Hätten Helen und ich zugegeben, wir wären Nazis, so wäre es uns besser ergangen – wir wären in Speziallager gebracht worden. Während wir hungerten und froren und Diarrhöe hatten, sah ich in den Zeitungen Fotos der internierten deutschen Gefangenen, die keine Emigranten waren; sie hatten Messer und Gabeln, Stühle und Tische, Betten, Decken, ja sogar einen eigenen Eßraum. Die Zeitungen waren stolz darauf, wie anständig man die Feinde behandelte. Mit uns brauchte man nicht so vorsichtig zu sein; wir waren nicht gefährlich.

Ich lebte mich ein. Ich schaltete den Begriff Gerechtigkeit aus, so wie Helen es mir geraten hatte. Abend für Abend, nach der Arbeit, saß ich in meinem Teil der Baracke. Ich hatte etwas Stroh, einen Meter breit und zwei Meter lang, als meinen Platz zugewiesen bekommen und trainierte mich, diese Zeit als einen Übergang zu betrachten, der nichts mit meinem Selbst zu tun hatte. Dinge geschahen, und ich hatte wie ein geschicktes Tier darauf zu reagieren. Kummer konnte ebenso töten wie Dysenterie, und Gerechtigkeit war ein Luxus für ruhige Zeiten.«

35
{"b":"117136","o":1}