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›Ich werde vorsichtig sein. Laß uns nicht darüber sprechen. Man kann Vorsicht zerreden. Sie ist dann nicht mehr gut.‹

Sie legte ihre Hand auf meine Hand. ›Ich begreife erst jetzt, daß du gekommen bist! Jetzt, wo du wieder gehst! So spät!‹

›Ich auch‹, erwiderte ich. ›Es ist gut, daß wir es jetzt wissen.‹

›So spät‹, murmelte sie. ›Erst jetzt, wo du gehst.‹

›Nicht erst jetzt. Wir haben es immer gewußt. Wäre ich sonst gekommen, und hättest du auf mich gewartet? Wir können es uns nur jetzt zum erstenmal sagen.‹

›Ich habe nicht immer gewartet‹, sagte sie.

Ich schwieg. Ich hatte auch nicht gewartet, aber ich wußte, daß ich es ihr nie sagen durfte. Am wenigsten jetzt. Wir waren beide ganz offen und ohne jede Verteidigung. Wenn wir je zusammenleben würden, dann war es dieser Augenblick in einem lärmenden Restaurant in Münster, zu dem wir immer wieder und jeder für sich zurückkehren konnten, um Kraft und Bestätigung zu holen. Er würde ein Spiegel sein, in den wir blicken konnten, und er würde uns zwei Bilder zeigen: das, wie das Schicksal uns gewollt, und das, wozu es uns gemacht hatte – und das war viel; die Irrtümer kommen immer daher, daß man das erste Bild verloren hat.

›Du mußt jetzt gehen‹, sagte ich. ›Sei vorsichtig. Fahre nicht zu schnell.‹ Ihre Lippen zuckten. Ich merkte die Ironie erst, nachdem ich es gesagt hatte. Wir standen in der windigen Straße zwischen den alten Häusern. ›Sei du vorsichtig‹, flüsterte sie. ›Du brauchst es mehr.‹

Ich blieb eine Zeitlang in meinem Zimmer, dann hielt ich es nicht mehr aus. Ich ging zum Bahnhof, kaufte mir eine Fahrkarte nach München und schrieb mir die Züge auf Es gab einen, der noch am selben Abend fuhr. Ich beschloß, ihn zu nehmen.

Die Stadt war still. Ich kam am Domplatz vorbei und blieb stehen. Im Dunkel konnte ich nur einen Teil der alten Gebäude erkennen. Ich dachte an Helen und an das, was geschehen würde, aber es wurde so mächtig und undeutlich, wie die hohen Fenster im Schatten der Kirche; ich wußte plötzlich nicht mehr, ob es richtig war, sie zu holen, oder ob es zum Untergang fuhren würde und ob ich ein frivoles Verbrechen begangen oder eine unerhörte Gnade empfangen hatte, und vielleicht war es beides.

In der Nähe des Hotels hörte ich unterdrücktes Sprechen und Schritte. Zwei SS-Leute kamen aus einer Haustür und stießen einen Mann auf die Straße. Ich sah sein Gesicht im Schein einer Straßenlaterne. Es war schmal und wächsern, und von der rechten Seite des Mundes lief ein schwarzer Blutfaden über das Kinn. Der Kopf war kahl, aber über den Schläfen wuchs dunkles Haar. Die Augen waren weit aufgerissen und voll eines solchen Entsetzens, wie ich es lange nicht mehr gesehen hatte. Der Mann schwieg. Seine Begleiter stießen und zerrten ihn ungeduldig vorwärts. Sie waren nicht laut; die ganze Szene hatte etwas Unterdrücktes, Gespenstisches. Die SS-Leute blickten mich wütend und herausfordernd an, als sie an mir vorüberkamen, und der Gefangene starrte mit seinen paralysierten Augen auf mich und machte etwas wie eine Geste um Hilfe, und seine Lippen bewegten sich; aber kein Laut kam hervor. Es war die ewige Szene der Menschheit – die Knechte der Gewalt, das Opfer, und der ewige Dritte, der Zuschauer, der die Hände nicht hebt und das Opfer nicht verteidigt und nicht versucht, es zu befreien, weil er für seine eigene Sicherheit furchtet und dessen eigene Sicherheit eben deshalb immer in Gefahr ist.

Ich wußte, daß ich nichts für den Verhafteten hätte tun können. Die bewaffneten SS-Leute hätten mich mühelos überwältigt – ich erinnerte mich auch, wie mir jemand von einer ähnlichen Szene erzählt hatte. Er hatte gesehen, wie ein SS-Mann einen Juden verhaftete und verprügelte, und war ihm zu Hilfe gekommen; er hatte den SS-Mann bewußtlos geschlagen und dem Opfer zugerufen, zu fliehen. Aber der Verhaftete hatte seinen Befreier verflucht; er sei jetzt erst verloren, weil er nun in eine Situation gebracht worden sei, wo ihm auch dies aufgerechnet werde, und er war schluchzend Wasser holen gegangen, um den SS-Mann wieder zu Bewußtsein zu bringen, damit er von ihm zum Tode geführt werden konnte. Ich erinnerte mich an diese Erzählung, aber ich blieb trotzdem so verstört und in solch einem Widerstreit von Hilflosigkeit, Selbstverachtung, Angst und einem Gefühl fast von Frivolität, nach eigenem Glück auszublicken, während andere ermordet wurden, daß ich zum Hotel ging, meine Sachen holte und zum Bahnhof fuhr, obschon es noch zu früh dafür war. Es schien mir angepaßter, im Wartesaal zu sitzen, als mich im Hotelzimmer zu verbergen. Das kleine Risiko, das ich dadurch nahm, gab in einer kindischen Weise meinem Selbstgefühl wenigstens einen geringen Halt.«

8

»Ich fuhr die Nacht durch und den folgenden Tag und kam ohne Schwierigkeiten nach Österreich. Die Zeitungen waren voll von Forderungen, Beteuerungen und den üblichen Meldungen von Grenzzwischenfällen, die stets Kriegen vorangehen und bei denen es sonderbar ist, daß immer die schwachen Nationen von den starken der Aggressivität beschuldigt werden. Ich sah Züge mit Truppen; aber die meisten Leute, mit denen ich sprach, glaubten nicht an den Krieg. Sie erwarteten, daß ein neues München jedesmal dem vorjährigen folgen würde, und daß Europa viel zu schwach und dekadent sei, um einen Krieg mit Deutschland zu wagen. Es war ein scharfer Unterschied zu Frankreich, wo jeder wußte, daß der Krieg unausbleiblich war; aber der Bedrohte weiß ja immer mehr und weiß es früher als der Angreifer.

Ich kam nach Feldkirch und nahm ein Zimmer in einer kleinen Pension. Es war Sommer und die Zeit für Touristen; ich fiel nicht auf. Die beiden Koffer machten mich respektabel. Ich beschloß, sie im Stich zu lassen und nur so viel Gepäck mitzunehmen, wie mich nicht behinderte. Ich packte es in einen Rucksack, das war am unauffälligsten. Meine Zimmermiete zahlte ich auf eine Woche voraus.

Ich brach am nächsten Tage auf. Bis Mitternacht blieb ich in der Nähe der Grenze in einer Lichtung versteckt. Ich weiß noch, daß Mücken mich anfangs plagten und daß ich einen blauen Molch beobachtete, der im klaren Wasser eines Tümpels lebte. Er hatte einen Kamm und kam ab und zu hoch, um Luft zu schöpfen. Dann zeigte er einen gefleckten, gelbroten Bauch. Ich beobachtete ihn und dachte daran, daß für ihn die Welt in diesem Tümpel ihre Grenze hatte. Das kleine Wasserloch war die Schweiz, Deutschland, Frankreich, Afrika und Yokohama für ihn, alles in einem. Friedlich tauchte er auf und unter, völlig in Harmonie mit dem Abend.

Ich schlief ein paar Stunden und machte mich dann bereit. Ich war sehr zuversichtlich. Zehn Minuten später tauchte, wie aus der Erde gewachsen, ein Zollbeamter neben mir auf. ›Halt! Stehenbleiben! Was machen Sie hier?‹

Er mußte im Dunkeln seit langem gelauert haben. Meine Erklärung, daß ich ein harmloser Spaziergänger sei, beachtete er nicht. ›Sie können das alles auf der Zollstation vorbringen‹, sagte er und ließ mit entsicherter Waffe mich vor sich hergehen, zurück zum nächsten Ort.

Ich ging niedergeschmettert, dumpf und nur in einer kleinen Ecke meines Gehirns sehr wach – wie ich entkommen könnte. Aber es war nicht möglich; der Zollbeamte kannte seinen Dienst zu gut. Er war genau im richtigen Abstand hinter mir; ich konnte ihn nicht überraschend anfallen, und ich konnte keine fünf Schritte weit entkommen, ohne daß er nicht sofort gefeuert hätte.

In der Zollstation öffnete er ein kleines Zimmer. ›Gehen Sie hinein. Warten Sie hier.‹

›Wie lange?‹

›Bis Sie vernommen werden.‹

›Können Sie das nicht gleich tun? Ich habe nichts getan, um eingesperrt zu werden.‹

›Dann brauchen Sie ja keine Sorge zu haben.‹

›Ich habe keine Sorge‹, sagte ich und legte meinen Rucksack ab. ›Fangen wir also an.‹

›Wir fangen an, wenn wir hier dazu bereit sind‹, sagte der Beamte und zeigte ein außerordentlich gutes, weißes Gebiß. Er sah aus wie ein Jäger und wirkte auch so. ›Morgen früh kommt der zuständige Beamte. Auf dem Sessel da können Sie schlafen. Es ist nur noch ein paar Stunden. Heil Hitler!‹

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