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Sie lachte. ›Ich habe es im Lager gelernt. Wie das befreit! Ein Jahr Internierung ist plötzlich von meinen Schultern geglitten! Aber wo hast du gelernt, mit zerbrochenen Flaschen zu kämpfen und Leute zu Eunuchen zu treten?‹

›Im Kampf um die Menschenrechte‹, erwiderte ich. ›Wir leben im Zeitalter der Paradoxe. Zur Erhaltung des Friedens führen wir Krieg.‹

Es war fast so. Man war gezwungen, zu lügen und zu betrügen, um sich zu verteidigen und am Leben zu bleiben. In den nächsten Wochen stahl ich den Bauern Obst von den Bäumen und Milch aus den Kellern. Es war eine glückliche Zeit. Sie war gefährlich, lächerlich, manchmal trostlos und oft komisch – aber sie war nie bitter. Ich habe Ihnen soeben den Zwischenfall mit dem Wirt erzählt; ähnliche Situationen gab es bald mehr. Sie kennen das wahrscheinlich auch?«

Ich nickte.»Wenn man sie so auffassen konnte, waren sie oft komisch.«

»Ich lernte es«, erwiderte Schwarz.»Durch Helen. Sie war ein Mensch, in dem sich keine Vergangenheit mehr sammelte. Das, was ich nur manchmal gefühlt hatte, wurde in ihr strahlende Wirklichkeit. Die Vergangenheit brach bei ihr jeden Tag ab wie das Eis hinter dem Reiter über den Bodensee. Dafür drängte sich alles in die Gegenwart. Das, was sich bei anderen über ein Leben verteilt, konzentrierte sich bei ihr auf den Augenblick; aber es war keine starre Konzentration. Sie war völlig gelöst, heiter wie Mozart und unerbittlich wie der Tod. Die Begriffe Moral und Verantwortung, in ihrem dumpfen Sinne, existierten nicht mehr; höhere, fast ätherische Gesetze traten an ihre Stelle. Sie hatte keine Zeit mehr für etwas anderes. Wie ein Feuerwerk sprühte sie, aber ohne Asche. Sie wollte nicht gerettet werden; ich glaubte das damals noch nicht. Sie wußte, daß sie nicht zu retten war. Da ich aber darauf bestand, ließ sie es zu – und ich, Narr, schleppte sie den Kreuzweg entlang, alle zwölf Stationen, von Bordeaux nach Bayonne und dann den endlosen Weg nach Marseille und zurück bis hierher.

Als wir zu dem Schlößchen zurückkamen, war es besetzt. Wir sahen Uniformen, Soldaten, die hölzerne Werktische heranschleppten, und ein paar Offiziere, die in Fliegerbreeches und glänzenden, hohen Stiefeln wie fremdartige Pfauen umherstolzierten.

Wir beobachteten sie vom Park aus, hinter einer Buche und einer marmornen Göttin versteckt. Es war ein seidener später Nachmittag. ›Haben wir noch etwas drüben?‹ fragte ich.

›Die Äpfel an den Bäumen, die Luft, den goldenen Oktober und unsere Träume‹, sagte Helen.

›Die haben wir überall hinterlassen‹, erwiderte ich. ›Wie fliegende Spinnweben im Herbst.‹

Der Offizier auf der Terrasse gab ein paar scharfe Kommandos. ›Die Stimme des zwanzigsten Jahrhunderts‹, sagte Helen. ›Laß uns gehen. Wo schlafen wir heute nacht?‹

›Wir werden irgendwo im Heu schlafen‹, sagte ich. ›Vielleicht auch in einem Bett. Auf jeden Fall aber zusammen.‹«

16

»Erinnern Sie sich an den Platz vor dem Konsulat in Bayonne?«fragte Schwarz.»An die Viererreihen der Flüchtlinge, die sich dann lösten und in Panik den Eingang blockierten und verzweifelt stöhnten und weinten und um Platz kämpften?«

»Ich erinnere mich daran, daß es Platzzettel gab«, erwiderte ich.

»Sie gaben einem das Recht, draußen zu stehen. Trotzdem blockierte die Menge den Eingang. Wenn die Fenster geöffnet wurden, stieg das Stöhnen zum Schreien und Heulen an. Die Pässe mußten aus den Fenstern heruntergeworfen werden. Dieser Wald von ausgestreckten Händen!«

Die hübschere der beiden Frauen, die in der Kneipe noch auf waren, schlenderte heran und gähnte.»Ihr seid komisch«, sagte sie.»Redet und redet! Wir aber müssen jetzt schlafen. Wenn ihr noch anderswo sitzen wollt – alle Kneipen der Stadt sind wieder in Betrieb.«Sie öffnete die Tür. Weiß und kreischend brach der Morgen herein. Die Sonne schien. Sie schloß die Tür wieder. Ich sah auf die Uhr.

»Das Schiff geht nicht heute nachmittag«, erklärte Schwarz.»Es fährt erst morgen abend.«

Ich glaubte ihm nicht. Er sah es.»Gehen wir irgendwohin«, sagte er.

Der Lärm draußen nach der stillen Kneipe war im ersten Augenblick fast unerträglich. Schwarz blieb stehen.»Da rennt es und schreit es!«Er starrte auf eine Horde von Kindern, die in Körben Fische vorbeischleppten.»Immer weiter! Als ob niemand fehle!«

Wir gingen zum Hafen hinunter. Das Wasser war bewegt, der Wind war kühl und stark, die Sonne hart und ohne Wärme; Segel knatterten, und jeder war intensiv mit dem Morgen, der Arbeit und sich beschäftigt. Wir glitten durch all diese Geschäftigkeit wie ein paar welke Blätter.»Glauben Sie mir immer noch nicht, daß das Schiff erst morgen fahrt?«fragte Schwarz.

Er sah sehr müde und verfallen aus in dem unbarmherzigen Licht.

»Ich kann es nicht«, erwiderte ich.»Sie haben mir früher gesagt, es ginge heute. Lassen Sie uns nachfragen. Es ist zu wichtig für mich.«

»So wichtig war es auch für mich. Dann, auf einmal ist es nicht mehr wichtig.«

Ich antwortete nicht. Wir gingen weiter. Plötzlich war ich rasend ungeduldig geworden. Das schwappende, flatternde Leben rief. Die Nacht war vorbei. Wozu noch die Schattenbeschwörung?

Wir blieben vor einem Geschäft stehen, das mit Prospekten behängt war. Im Fenster lag ein weißes Schild, das anzeigte, daß die Abfahrt des Schiffes auf den nächsten Tag verschoben sei.

»Ich bin bald am Ende«, sagte Schwarz.

Ich hatte einen Tag gewonnen. Trotz des Schildes versuchte ich die Tür. Sie war noch geschlossen. Etwa zehn Leute beobachteten mich. Sie kamen von verschiedenen Seiten ein paar Schritte näher, als ich auf die Klinke drückte. Es waren Emigranten. Als sie sahen, daß die Tür noch verschlossen war, wendeten sie sich ab und taten wieder so, als betrachteten sie die Schaufenster.

»Sie sehen, daß Sie noch etwas Zeit haben«, sagte Schwarz und schlug vor, am Hafen Kaffee zu trinken.

Er trank hastig den heißen Kaffee und hielt seine Hände um die Tasse, als fröre ihn.»Wie spät ist es?«fragte er.

»Halb acht.«

»Eine Stunde«, murmelte er.»In einer Stunde kommen sie.«Er blickte auf»Ich will Ihnen keine Jeremiade erzählen. Hört es sich so an?«

»Nein.«

»Wie hört es sich an?«

Ich zögerte.»Wie die Geschichte einer Liebe.«

Sein Gesicht entspannte sich plötzlich.»Danke«, sagte er. Er sammelte sich.»In Biarritz begann das Verhängnis. Ich hatte gehört, von St. Jean de Luz solle ein kleines Boot abgehen. Es war nicht wahr. Als ich in die Pension zurückkehrte, sah ich Helen mit entstelltem Gesicht am Boden liegen. ›Ein Krampf‹, flüsterte sie. ›Er geht gleich vorbei. Laß mich!‹

›Ich hole sofort einen Arzt!‹

›Keinen Arzt‹, keuchte sie. ›Nicht nötig. Es ist gleich vorbei. Geh! Komm in fünf Minuten wieder. Laß mich allein! Tu, was ich sage! Keinen Arzt! So geh doch!‹ schrie sie. ›Ich weiß, was ich sage. Komm in zehn Minuten wieder. Dann kannst du -‹

Sie winkte, ich solle gehen. Sie konnte nicht mehr sprechen; aber ihre Augen waren so voll von einem entsetzlichen, unverständlichen Flehen, daß ich hinausging. Ich stand draußen und starrte auf die Straße.

Dann fragte ich nach einem Arzt. Man sagte mir, ein Doktor Dubois wohne nur ein paar Straßen weiter. Ich lief hin. Er zog sich an und kam mit mir.

Als wir zurückkamen, lag Helen auf dem Bett. Ihr Gesicht war feucht von Schweiß; aber sie war ruhiger. ›Du hast einen Arzt geholt‹, sagte sie so abweisend, als wäre ich ihr schlimmster Feind.

Doktor Dubois tänzelte heran. ›Ich bin nicht krank‹, sagte sie.

›Madame‹, erwiderte Dubois lächelnd, ›wollen Sie es nicht lieber einem Arzt überlassen, das festzustellen?‹ Er öffnete seine Tasche und holte Instrumente hervor. ›Laß uns allein‹, sagte Helen zu mir.

Ich verließ verwirrt das Zimmer. Mir fiel ein, was der Arzt im Lager gesagt hatte. Ich ging auf der Straße hin und her und starrte auf das Michelin-Schild der Garage gegenüber. Der fette Mann aus Gummischläuchen auf dem Schild wurde zu einem finsteren Symbol aus Eingeweiden und kriechenden weißen Würmern. Ich hörte das Hämmern aus der Garage, als hämmere jemand an einem blechernen Sarge, und ich wußte plötzlich, daß die Drohung schon lange hinter uns gestanden hatte, ein fahler Hintergrund, auf dem unser Leben schärfere Konturen angenommen hatte, wie ein Wald in der Sonne vor einer Gewitterwand.

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