Литмир - Электронная Библиотека
A
A

›Die meisten dasselbe wie Sie‹, erwiderte der Experte.

›Und Sie?‹ fragte ich.

›Ich habe aufgegeben wegzukommen‹, sagte er. ›Ich mache daraus meinen Broterwerb. Ich bin Dolmetscher, Ratgeber, Fachmann in Visa-Angelegenheiten, Experte in Unterkünften -‹

Ich wunderte mich nicht. Not macht frühreif, und Jugend kennt keine Trübung des Blickes durch Sentimentalität und Vorurteile. Wir gingen in ein Café, und der Experte gab mir einen Überblick über die Lage. Es war möglich, daß die Truppen abziehen würden; aber Bordeaux war für Aufenthaltserlaubnisse trotzdem schwierig; für Visa ganz schlecht. Bayonne wurde für spanische Visa als gut im Augenblick befunden, aber es war überfüllt. Am besten schien Marseille zu sein; aber das war ein langer Weg. Wir haben ihn alle gemacht, später. Sie auch?«fragte Schwarz.

»Ja«, sagte ich.»Den Kreuzweg.«

Schwarz nickte,»Ich versuchte natürlich das amerikanische Konsulat auf dem Wege. Aber Helen hatte einen gültigen deutschen Paß aus der Nazizeit; wie konnten wir da beweisen, daß wir in Todesgefahr waren? Die Juden, die ohne Papiere voll Angst vor den Türen lagen, schienen in größerer Gefahr zu sein. Unsere Pässe wurden Zeugen gegen uns, sogar der des toten Schwarz.

Wir beschlossen, zu unserem Schlößchen zurückzukehren. Zweimal hielten uns Gendarmen an; beide Male machte ich mir die Depression zunutze – ich schnauzte die Gendarmen an, hielt ihnen die Pässe unter die Nase und berief mich als Österreich-Deutscher auf die Militärverwaltung. Helen lachte, sie fand das alles komisch. Ich war das erste Mal auf die Idee gekommen, als ich in der Kneipe unser Gepäck zurückverlangt hatte. Der Wirt hatte erklärt, nie Gepäck von uns erhalten zu haben. ›Wenn Sie wollen, können Sie ja die Polizei rufen‹, sagte er und blinzelte mich lächelnd an. ›Aber das wollen Sie doch wohl nicht!‹

›Das brauche ich nicht‹, erwiderte ich. ›Geben Sie die Sachen her!‹

Der Wirt nickte dem Schankburschen zu. ›Henri, der Herr möchte gehen.‹

Henri kam mit aufgekrempelten Ärmeln heran. ›Ich würde mir das überlegen, Henri‹, sagte ich zu ihm. ›Oder brennen Sie darauf, zu sehen, wie ein deutsches Konzentrationslager von innen aussieht?‹

›Ta gueule‹, erwiderte Henri und hob die Arme nach mir.

›Schießen Sie, Sergeant!‹ sagte ich scharf und sah an seinem Kopf vorbei.

Henri fiel darauf herein. Er sah sich um, und da er die Arme noch halb erhoben hatte, trat ich ihm mit aller Kraft in seine Geschlechtsteile. Er brüllte auf und ging zu Boden. Der Wirt griff nach einer Flasche und kam um die Theke herum. Ich nahm eine Flasche Dubonnet, die auf dem Zinkbelag stand, schlug sie gegen eine Ecke und hielt den zackigen Rest in der Hand. Der Wirt blieb stehen. Hinter mir splitterte eine zweite Flasche. Ich sah mich nicht um; ich konnte den Wirt nicht aus den Augen lassen.

›Ich bin’s‹, sagte Helen und schrie den Wirt an: ›Salaud! Gib die Sachen heraus, oder du hast kein Gesicht mehr!‹

Sie kam um mich herum, ihre zerbrochene Flasche in der Hand, und ging gebückt auf den Wirt los. Ich hielt sie mit der freien Hand fest. Sie mußte eine Pernodflasche erwischt haben, denn alles roch plötzlich nach Anis. Ein Strom von Hafenflüchen ergoß sich über den Wirt. Helen zerrte, halb geduckt, an meiner Hand, um loszukommen. Der Wirt trat rasch hinter die Theke zurück.

›Was geht hier vor?‹ fragte jemand von der Tür her auf deutsch.

Der Wirt begann zu grinsen. Helen wandte sich um. Der deutsche Unteroffizier, den ich vorher für Henri erfunden hatte, stand jetzt wirklich da.

›Ist er verletzt?‹ fragte der Unteroffizier.

›Das Schwein da?‹ Helen zeigte auf Henri, der noch immer die Fäuste zwischen die Beine preßte und, die Knie angezogen, auf dem Boden hockte. ›Das ist kein Blut! Das ist Dubonnet!‹

›Sind Sie Deutsche?‹ fragte der Unteroffizier.

›Ja‹, erwiderte ich. ›Und wir sind bestohlen worden.‹

›Haben Sie Papiere?‹

Der Wirt grinste; er schien etwas Deutsch zu verstehen.

›Natürlich‹, fauchte Helen. ›Und ich bitte Sie, uns zu unserem Recht zu verhelfen!‹ Sie hielt ihren Paß hoch.

›Ich bin die Schwester des Obersturmbannführers Jürgens. Hier -‹, sie zeigte auf das Datum des Passes. ›Wir wohnen im Schloß -‹, sie nannte einen Namen, den ich nie gehört hatte – ›und sind auf einen Tag nach Bordeaux gefahren. Unsere Sachen haben wir hiergelassen, bei diesem Dieb. Jetzt behauptet er, er hätte sie nie bekommen. Helfen Sie uns, bitte!‹

Sie fuhr wieder auf den Wirt los. ›Ist das wahr?‹ fragte der Unteroffizier ihn.

›Natürlich ist es wahr! Die deutsche Frau lügt nicht!‹ zitierte Helen einen der idiotischen Aussprüche des Regimes.

›Und wer sind Sie?‹ fragte mich der Unteroffizier.

›Der Chauffeur‹, erklärte ich und zupfte an meinem Monteuranzug.

›Also los!‹ schrie der Unteroffizier den Wirt an.

Der Mann hinter der Theke hatte aufgehört zu grinsen.

›Sollen wir Ihnen die Bude schließen?‹ fragte der Unteroffizier. Helen übersetzte mit großem Genuß und fügte noch eine Anzahl ›salauds‹ und ›sales étrangers‹ hinzu. Das letzte entzückte mich besonders; einen Franzosen in seinem eigenen Land einen dreckigen Ausländer zu nennen, konnte nur von jemand voll genossen werden, der dasselbe oft genug selbst genannt worden war.

›Henri!‹ bellte der Wirt. ›Wo hast du die Sachen gelassen? Ich weiß von nichts‹, erklärte er dem Unteroffizier, ›der Bursche muß das getan haben.‹

›Er lügt‹, übersetzte Helen. ›Er schiebt die Schuld auf den Gorilla dort. Raus mit den Sachen‹, sagte sie zum Wirt. ›Sofort! Oder wir holen die Gestapo!‹

Der Wirt gab Henri einen Tritt. Er schlich davon. ›Entschuldigen Sie‹, sagte der Wirt zum Unteroffizier. ›Ein Mißverständnis. Ein Gläschen?‹

›Kognak‹, erwiderte Helen. ›Den besten.‹

Der Wirt stellte ein Glas auf den Schanktisch. Helen starrte ihn an. Er fügte zwei Gläser hinzu. ›Sie sind eine tapfere Frau‹, sagte der Unteroffizier.

›Die deutsche Frau fürchtet sich vor nichts‹, zitierte Helen die Nazi-Ideologie und legte die zerbrochene Pernodflasche weg.

›Was für einen Wagen fahren Sie?‹ fragte mich der Unteroffizier.

Ich sah ihm fest in seine harmlosen grauen Augen. ›Mercedes, den Wagen des Führers, selbstverständlich!‹

Er nickte. ›Es ist schön hier, was? Nicht so wie zu Hause, aber doch schön, finden Sie nicht?‹

›Sehr schön. Nicht wie zu Hause, das ist klar.‹

Wir tranken. Der Kognak war hervorragend. Henri kam mit unseren Sachen und legte sie auf einen Stuhl. Ich kontrollierte den Rucksack. Es war alles da.

›In Ordnung‹, sagte ich zu dem Unteroffizier.

›Es war Schuld des Burschen‹, erklärte der Wirt. ›Du bist entlassen, Henri! Scher dich raus!‹

›Danke, Unteroffizier‹, sagte Helen. ›Sie sind ein deutscher Mann und ein Kavalier.‹

Der Unteroffizier salutierte. Er war unter fünfundzwanzig Jahre alt. ›Da wäre noch die Rechnung für den Dubonnet und die Flasche Pernod, die zerbrochen worden sind‹, sagte der Wirt, der wieder Mut gefaßt hatte. Helen übersetzte. ›Kein Kavalier‹, fügte sie hinzu. ›Es war Notwehr.‹

Der Unteroffizier nahm die nächste Flasche von der Theke. ›Erlauben Sie‹, meinte er galant. ›Schließlich sind wir nicht umsonst die Sieger!‹

›Madame trinkt keinen Cointreau‹, erklärte ich. ›Nehmen Sie den Kognak, Unteroffizier, auch wenn er schon angebrochen ist.‹

Der Unteroffizier präsentierte Helen mit der Flasche. Ich steckte sie in den Rucksack. Wir verabschiedeten uns vor der Tür. Ich hatte Sorge, daß der Soldat uns bis zu unserm Mercedes begleiten wolle; aber Helen machte das ausgezeichnet. ›So was kann bei uns nicht passieren‹, sagte der junge Mann stolz beim Abschied. ›Bei uns herrscht Ordnung.‹

Ich sah ihm nach. Ordnung, dachte ich. Mit Foltern, Genickschüssen und Massenmord! Gib mir lieber hunderttausend kleine Betrüger wie diesen Wirt!

›Wie fühlst du dich?‹ fragte Helen.

›Gut. Ich wußte nicht, daß du so fluchen kannst.‹

46
{"b":"117136","o":1}