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›Ich dachte, ich hätte dich verloren‹, sagte ich und hielt sie fest.

›Du verlierst mich nie‹, flüsterte sie durch ihre schmale Maske. ›Und weißt du, warum nicht? Weil du mich nie festhalten wolltest wie ein Bauer seinen Acker. Der glänzendste Mann ist langweilig dagegen.‹

›Ich bin bestimmt kein glänzender Mann‹, sagte ich überrascht.

Wir standen auf dem Treppenabsatz. Durch die ein wenig geöffnete Tür des Schlafzimmers fiel ein Streifen des flackernden Kaminlichtes auf die Bronzeornamente des Geländers und Helens Schultern und Mund.

›Du weißt nicht, was du bist‹, murmelte sie und sah mich mit glitzernden Augen an, die, wie die einer Schlange, durch die Maske kein Weiß zeigten, sondern nur starr und glänzend waren. ›Aber du solltest wissen, wie trostlos all diese Don Juans sind! Wie Kleider, die man einmal trägt. Aber du – du bist das Herz.‹

Vielleicht waren es die Kostüme, die wir trugen, die es uns leichter machten, solche Worte zu gebrauchen. Ich hatte ebenso wie sie einen Domino angezogen, etwas gegen meinen Willen, aber meine übrigen Sachen waren, wie die ihren, noch naß vom Tage und trockneten neben dem Kamin. Die ungewohnten Kleider in der geisterhaften Umgebung der Belle époque veränderten uns und öffneten unsere Lippen zu andern Worten als sonst. Treue und Untreue verloren ihre bürgerliche Schwere und ihre Einseitigkeit; das eine konnte das andere sein, es gab nicht nur das eine oder das andere, sondern viele Schattierungen, und die Namen verloren ihre Bedeutung.

›Wir sind Tote‹, flüsterte Helen. ›Beide. Wir haben keine Gesetze mehr. Du bist tot, mit einem toten Paß, und ich bin heute im Krankenhaus gestorben. Sieh unsere Kleider an! Wie bunte und goldene Fledermäuse huschen wir in einem gestorbenen Jahrhundert umher. Man nannte es das schöne Jahrhundert, und das war es auch mit seinen Menuetten, seiner Grazie und seinem Rokokohimmel – aber an seinem Ende stand die Guillotine, so wie sie immer überall steht, nach jedem Fest im kühlen Morgen, blitzend und unerbittlich. Wo wird unsere stehen, Liebster?‹

›Laß das, Helen‹, sagte ich.

›Sie wird nirgendwo stehen‹, flüsterte sie. ›Wo ist für Tote eine Guillotine? Sie kann uns nicht mehr zerschneiden, man kann das Licht nicht zerschneiden und nicht den Schatten, aber hat man nicht unsere Arme zerbrechen wollen, immer wieder? Halte mich, hier in dieser Verzauberung und dem goldenen Dunkel, und vielleicht wird etwas davon in uns bleiben und die arme Stunde unseres letzten Atems erleuchten.‹

›Sprich nicht so, Helen‹, sagte ich und fühlte einen leichten Schauder.

›Erinnere dich immer so an mich wie jetzt‹, flüsterte sie, ohne auf mich zu hören. ›Wer weiß, was aus uns noch wird -‹

›Wir werden nach Amerika gehen, und der Krieg wird einmal zu Ende sein‹, sagte ich.

›Ich klage nicht‹, erwiderte sie dicht an meinem Gesicht. ›Wie könnten wir klagen? Was wäre sonst aus uns geworden? Ein mittelmäßiges, langweiliges Paar, das in Osnabrück ein mittelmäßiges, langweiliges Leben geführt hätte mit mittelmäßigen Gefühlen und einer Urlaubsreise im Jahr -‹

Ich mußte lachen. ›So kann man es auch auffassen.‹

Sie war sehr heiter an diesem Abend und feierte ihn wie ein Fest. Mit einer Kerze und goldenen Pantöffelchen, die sie in Paris gekauft und über alles hinweg gerettet hatte, lief sie in den Keller und brachte eine neue Flasche Wein herauf. Ich stand oben an der Treppe und sah sie durch das Dunkel heraufsteigen, das beleuchtete, zu mir gehobene Gesicht vor den vielfältigen Schatten. Ich war glücklich, wenn man Glück einen Spiegel nennen kann, der ein geliebtes Gesicht spiegelt, rein und vollkommen vor vielen Schatten.

Das Feuer erlosch langsam. Sie schlief unter den bunten Sachen ein. Es war eine seltsame Nacht. Erst spät hörte ich das Dröhnen von Flugzeugen, unter dem die Rokokospiegel leise klirrten.

Wir blieben vier Tage allein. Dann mußte ich ins nächste Dorf, um einzukaufen. Ich hörte dort, daß von Bordeaux zwei Schiffe abgehen sollten. ›Sind die Deutschen noch nicht da?‹ fragte ich.

›Sie sind da, und sie sind nicht da‹, antwortete man mir. ›Es kommt darauf an, wer Sie sind.‹

Ich besprach es mit Helen. Sie war zu meinem Erstaunen ziemlich gleichgültig. ›Schiffe, Helen!‹ sagte ich aufgeregt. ›Fort von hier! Nach Afrika. Nach Lissabon. Irgendwohin. Von da kann man weiter.‹

›Warum bleiben wir nicht hier?‹ erwiderte sie. ›Im Garten gibt es Obst und Gemüse. Ich kann es kochen, solange wir Holz haben. Brot bekommen wir im Dorf. Haben wir noch Geld?‹

›Wir haben noch etwas. Und ich habe noch eine Zeichnung. Ich kann sie in Bordeaux verkaufen, damit wir Reisegeld haben.‹

›Wer kauft jetzt Zeichnungen?‹

›Leute, die ihr Geld anlegen wollen.‹

Sie lachte. ›Dann verkaufe sie und laß uns hierbleiben.‹

›Ich wollte, wir könnten es!‹

Sie hatte sich in das Haus verliebt. Auf der einen Seite lag ein kleiner Park, dahinter der Obst- und Gemüsegarten. Sogar ein Teich und eine Sonnenuhr waren da. Helen liebte das Haus, und das Haus schien sie zu lieben. Es war ein Rahmen, der zu ihr paßte, und wir waren zum ersten Mal nicht in Hotels oder Baracken. Das Leben in den Maskenkostümen und der Atmosphäre von heiterer Vergangenheit gab auch mir eine verzauberte Hoffnung – manchmal sogar einen Glauben an ein Leben nach dem Tode -, als hätten wir bereits eine erste Bühnenprobe dafür hinter uns. Es wäre auch mir recht gewesen, wenn wir einige hundert Jahre so hätten leben können.

Trotzdem aber dachte ich weiter an die Schiffe in Bordeaux. Es schien mir unwahrscheinlich, daß sie auslaufen könnten, wenn die Stadt schon teilweise besetzt war – aber dies war die Zeit des Zwielichtkrieges. Frankreich hatte einen Waffenstillstand, aber noch keinen Frieden, es hatte angeblich eine Okkupationszone und eine freie Zone, aber es hatte keine Macht, Abmachungen zu verteidigen, und außerdem war da die deutsche Armee und die Gestapo, und beide arbeiteten nicht immer Hand in Hand.

›Ich muß es herausfinden‹, sagte ich. ›Du bleibst hier, und ich versuche, nach Bordeaux zu kommen.‹

Helen schüttelte den Kopf. ›Ich bleibe nicht allein hier. Ich gehe mit dir.‹

Ich verstand sie. Es gab keine abgetrennten gefährlichen und ungefährlichen Gebiete mehr. Man konnte lebendig aus einem feindlichen Hauptquartier entkommen und auf einer entlegenen Insel von Gestapoagenten gefaßt werden; alle Maßstäbe von früher hatten sich verschoben.

Wir kamen auf die zufällige Weise hin, die Sie wahrscheinlich kennen«, sagte Schwarz.»Wenn man hinterher darüber nachdenkt, begreift man nicht, wie sie möglich war. Zu Fuß, in einem Lastwagen – einmal ritten wir sogar eine Strecke auf zwei breiten, gutmütigen Ackerpferden, die ein Knecht zum Verkauf fortbrachte.

Es waren bereits Truppen in Bordeaux. Die Stadt war nicht besetzt, aber es waren Truppen da. Der Schock war stark; man erwartete, jede Minute festgenommen zu werden. Helen trug ein unauffälliges Kostüm; es war außer dem Abendkleid, einem Paar Hosen und zwei Sweatern ungefähr alles, was sie an Garderobe besaß. Ich hatte den Monteuranzug. Einen zweiten Anzug hatte ich im Rucksack.

Wir ließen die Sachen in einer Kneipe. Es war überall auffällig, Gepäck zu haben, obschon auch zahlreiche Franzosen mit Koffern unterwegs waren. ›Wir werden zu einem Reisebüro gehen und nach den Schiffen fragen‹, sagte ich. Wir kannten niemand in der Stadt.

Es existierte tatsächlich noch ein Büro. In den Fenstern hingen alte Plakate: ›Verbringt den Herbst in Lissabon‹ – ›Algier, die Perle Afrikas‹ – ›Ferien in Florida‹ – ›Sonniges Granada‹. Die meisten waren ausgebleicht, aber die von Lissabon und Granada leuchteten noch prachtvoll farbig.

Wir brauchten nicht zu warten, bis wir zum Schalter kamen. Ein vierzehnjähriger Experte informierte uns. Es stimmte nicht mit den Schiffen. Gerüchte dieser Art hätten seit Wochen umhergeschwirrt. Tatsache sei, daß lange vor der Besetzung ein englisches Schiff dagewesen sei, um Polen und Emigranten abzuholen, die sich zur polnischen Legion gemeldet hatten, einer Truppe von Freiwilligen, die in England zusammengestellt wurde. Zur Zeit ginge kein Schiff. Ich fragte, was alle die Leute im Raum dann wollten.

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