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Ich erinnere mich genau an diese halbe Stunde. Ich erinnere mich sogar daran, daß ich erstaunt war, mich selbst so klinisch zu spüren. Es war, als stünde ich in einem Raum, in dem Spiegel sich gegenüber an den Wänden hingen; sie warfen sich mein Bild bis in eine leere Unendlichkeit zu, und hinter jedem Spiegelbild konnte ich ein anderes entdecken, das dem ersten über die Schulter sah. Mir schien, als wären es alte, dunkel gewordene Spiegel, und ich konnte nicht sehen, ob der Ausdruck fragend, traurig oder voll Hoffnung war. Sie verdämmerten alle in silbrigem Dunkel.

Eine Frau setzte sich neben mich. Ich wußte nicht, was sie wollte, und es war mir unbekannt, ob das Regime der Barbaren nicht längst auch diese Dinge schon zu militärischen Übungen degradiert hatte. Ich erhob mich deshalb und ging. Ich hörte die Frau hinter mir lachen und habe es nie vergessen – das leise, etwas verächtliche und mitleidige Lachen dieser unbekannten Frau am Herrenteichswall in Osnabrück.«

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»Das Wartezimmer war leer. Pflanzen mit langen, ledrigen Blättern standen auf einer Etagere am Fenster. Auf dem Tisch lagen Magazine, deren Titelblätter Bonzen des Regimes, Soldaten und eine Abteilung Hitlerjugend beim Marsch zeigten. Dann hörte ich rasche Schritte. Martens stand in der Tür. Er starrte mich an, nahm die Brille ab und blinzelte. Das Licht im Wartezimmer war schwach. Er erkannte mich nicht sofort, wahrscheinlich wegen des Schnurrbartes.

›Ich bin es, Rudolf‹, sagte ich.

›Josef.‹

Er hob die Hand, ich solle schweigen. ›Wo kommst du her?‹ flüsterte er.

Ich hob die Schultern. Wozu war das wichtig? ›Ich bin hier‹, sagte ich. ›Du mußt mir helfen.‹

Er blickte mich an. Seine kurzsichtigen Augen in dem schwachen Licht wirkten wie die eines Fisches hinter einem dicken Aquariumglas. ›Hast du Erlaubnis, hier zu sein?‹

›Nur von mir selbst.‹

›Wie bist du über die Grenze gekommen?‹

›Das ist doch gleichgültig. Ich bin hierhergekommen, um Helen zu sehen.‹

Er starrte mich an. ›Dazu bist du gekommen?‹

›Ja‹, sagte ich.

Ich fühlte mich plötzlich ruhig. Ich war es nicht gewesen, solange ich allein war. Jetzt war auf einmal alle Erregung geschwunden, weil ich überlegte, wie ich den überraschten Menschen vor mir beruhigen konnte.

›Dazu?‹ fragte er noch einmal.

›Ja, dazu. Und du mußt mir helfen.‹

›Mein Gott!‹ sagte er.

›Ist sie tot?‹ fragte ich.

›Nein, sie ist nicht tot.‹

›Ist sie hier?‹

›Ja. Sie war hier. Wenigstens noch vor einer Woche.‹

›Können wir hier sprechen?‹ fragte ich.

Martens nickte. ›Ich habe die Empfangsschwester weggeschickt. Wenn Patienten kommen, kann ich sie auch wegschicken. Ich kann dich nicht in meine Wohnung nehmen. Ich habe geheiratet. Vor zwei Jahren. Du verstehst -‹

Ich verstand. Man konnte seit langem im Tausendjährigen Reich auch seinen Verwandten nicht mehr trauen. Denunziationen wurden täglich von den Rettern Deutschlands als nationale Tugend herausgeschrien. Ich kannte das selbst. Der Bruder meiner Frau hatte mich denunziert.

›Meine Frau gehört nicht zur Partei‹, sagte Martens hastig. ›Aber wir haben nie über einen Fall -‹ er blickte mich verwirrt an ›- gesprochen, wie diesen jetzt hier. Ich weiß nicht genau, wie sie darüber denken würde. Komm hier herein.‹

Er öffnete die Tür zu seinem Sprechzimmer und verschloß sie hinter uns. ›Laß sie offen‹, sagte ich. ›Ein verschlossenes Sprechzimmer ist verdächtiger, als wenn man uns sehen würde.‹

Er drehte den Schlüssel zurück und sah mich an. ›Josef, um Gottes willen, was machst du hier? Bist du heimlich gekommen?‹

›Ja. Und du brauchst mich nicht zu verbergen. Ich wohne in einem Hotel außerhalb der Stadt. Ich bin nur zu dir gekommen, weil ich niemand andern wußte, um Helen zu benachrichtigen, daß ich hier bin. Ich habe seit fünf Jahren nichts von ihr gehört. Ich weiß nicht, was mit ihr geschehen ist. Ich weiß nicht, ob sie wieder verheiratet ist. Wenn sie wieder verheiratet ist -‹

›Und deshalb kommst du hierher?‹

›Ja‹, erwiderte ich erstaunt. ›Warum sonst?‹

›Wir müssen dich verstecken‹, sagte er. ›Du kannst die Nacht über hier im Sprechzimmer auf dem Sofa schlafen. Ich werde dich vor sieben wecken. Um sieben kommt das Mädchen, um sauberzumachen. Nach acht kannst du wieder herein. Vor elf kommen keine Patienten.‹

›Ist sie verheiratet?‹ fragte ich.

›Helen?‹ Er schüttelte den Kopf. ›Ich glaube nicht einmal, daß sie von dir geschieden ist.‹

›Wo wohnt sie? In der alten Wohnung?‹

›Ich glaube schon.‹

›Wohnt jemand bei ihr?‹

›Ja.‹

›Wer? Ihre Mutter. Ihre Schwester. Ihr Bruder. Oder irgendein anderer Verwandter?‹

›Das weiß ich nicht genau.‹

›Du mußt es herausfinden.‹ sagte ich. ›Und du mußt ihr sagen, daß ich da bin.‹

›Warum sagst du es nicht selbst?‹ fragte Martens. ›Da ist das Telefon.‹

›Und wenn jemand bei ihr ist? Dieser Bruder, der mich schon einmal angezeigt hat?‹

›Du hast recht. Sie würde wahrscheinlich ebenso fassungslos sein wie ich. Das könnte sie verraten.‹

›Ich weiß nicht einmal, wie sie zu mir steht, Rudolf. Es ist fünf Jahre her, und vorher waren wir nur vier Jahre verheiratet. Fünf Jahre sind mehr als vier – und Abwesenheit ist zehnmal länger als Zusammensein.‹ Er nickte. ›Ich begreife dich nicht‹, sagte er.

›Das mag sein. Ich mich auch nicht. Wir führen verschiedene Leben.‹

›Warum hast du ihr nicht geschrieben?‹

›Das kann ich dir jetzt nicht erklären, Rudolf. Geh zu Helen. Sprich mit ihr. Finde heraus, was sie denkt. Wenn du es für richtig hältst, sage ihr, ich sei hier, und frage sie, wie ich sie treffen kann.‹

›Wann soll ich gehen?‹

›Sofort‹, sagte ich erstaunt. ›Wann sonst?‹

Er sah sich um. ›Wo bleibst du in der Zwischenzeit? Hier ist es unsicher. Das Dienstmädchen kann heruntergeschickt werden, wenn meine Frau nichts von mir hört. Sie ist gewöhnt, daß ich nach der Sprechstunde heraufkomme. Oder ich müßte dich einschließen, aber das würde auch auffallen.‹

›Ich will nicht eingeschlossen werden‹, erklärte ich.

›Kannst du deiner Frau nicht sagen, du müßtest einen Patienten besuchen?‹

›Ich werde ihr das nachher sagen. Das ist einfacher.‹ Ich sah einen Schein in seinen Augen und mir war, als kniffe er das linke für eine Sekunde etwas zu. Es erinnerte mich an unsere Knabenzeit. ›Ich werde solange in den Dom gehen‹, sagte ich. ›Kirchen sind heute fast noch so sicher wie im Mittelalter. Wann soll ich dich anrufen?‹

›In einer Stunde. Ruf an als Otto Sturm. Wie kann ich dich finden? Willst du nicht lieber irgendwohin gehen, wo ein Telefon ist?‹

›Wo ein Telefon ist, ist Gefahr.‹

›Ja, vielleicht.‹ Er stand einen Augenblick unentschlossen. ›Ja, vielleicht hast du recht. Wenn ich noch nicht zurück bin, rufe wieder an – oder hinterlasse, wo du bist.‹

›Gut.‹

Ich nahm meinen Hut. ›Josef‹, sagte er.

Ich wandte mich um.

›Wie ist es draußen?‹ fragte er. ›So – ohne alles -‹

›Ohne alles?‹ erwiderte ich. ›Ungefähr so: ohne alles. Nicht ganz. Und wie ist es hier? Mit allem und ohne das eine?‹

›Nicht gut‹, sagte er. ›Nicht gut Josef. Aber es sieht glänzend aus.‹

Ich ging durch die am wenigsten belebten Straßen zum Dom. Es war nicht weit. In der Krahnstraße kam eine Kompanie marschierender Soldaten an mir vorbei. Sie sangen ein Lied, das ich nicht kannte. Auf dem Domplatz sah ich wieder Soldaten. Etwas weiter fort, von den drei Kreuzen der kleinen Kirche standen etwa zwei- oder dreihundert Personen dicht beieinander. Fast alle waren in Parteiuniform. Ich hörte eine Stimme und suchte nach dem Redner, aber ich fand keinen. Nach einer Weile entdeckte ich auf einem Podium einen schwarzen Lautsprecher. Er stand dort, beleuchtet, kahl und allein, ein Automat, und schrie über das Recht der Wiedereroberung allen deutschen Bodens, das größere Deutschland, Rache und die Tatsache, daß der Frieden der Welt gesichert sei, wenn die Welt das täte, was Deutschland wolle, und das sei das Recht.

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