Литмир - Электронная Библиотека
A
A

»Glaubten Sie das wirklich?«fragte ich.

»Nein«, erwiderte Schwarz.»Ich mußte es mir von Stunde zu Stunde neu einhämmern. Es war die kleine Ungerechtigkeit, über die man sich am schwierigsten hinwegtäuschen konnte. Nicht die große. Man mußte sich immer wieder über die kleine, alltägliche, die um das kleinere Stück Brot, die schwerere Arbeit, hinwegsetzen, um in der Erbitterung darüber nicht die große zu verlieren.«

»Sie lebten also wie ein geschicktes Tier?«

»Ich lebte so, bis der erste Brief von Helen kam«, sagte Schwarz.»Er kam nach zwei Monaten über die Adresse unseres Hoteliers in Paris. Das war so, als ob in einem stickigen dunklen Raum ein Fenster aufgerissen wird. Das Leben ist zwar auf der anderen Seite, aber es ist wieder da. Die Briefe kamen unregelmäßig; manchmal keine für Wochen. Es war sonderbar, wie sie das Bild Helens veränderten und bestätigten. Sie schrieb, daß es ihr gut gehe, daß sie endlich in ein Lager eingewiesen sei und in der Küche und später in der Kantine beschäftigt wäre. Sie brachte es fertig, mir zweimal ein Paket mit Lebensmitteln zu schicken, wie und durch welche Tricks und Bestechungen, weiß ich nicht. Gleichzeitig begann aus den Briefen ein anderes Gesicht mich anzusehen. Wieviel davon der Abwesenheit, meinen eigenen Wünschen und der Fälschung durch die Phantasie zuzuschreiben war, weiß ich nicht. Sie wissen, wie alles sich vergrößert, fast ins Unwirkliche, wenn man gefangen ist und nichts hat als ein paar Briefe. Ein unbeabsichtigter Satz, der nichts bedeutet, wenn er unter anderen Umständen geschrieben wird, kann zum Blitz werden, der einem das Dasein zerstört; und ebenso kann ein zweiter einem für Wochen Wärme geben, obschon er ebenso unbeabsichtigt war wie der erste. Man grübelt über Dinge für Monate, die der andere schon vergessen hatte, als er den Brief zuklebte. Irgendwann kam auch eine Fotografie; Helen stand vor ihrer Baracke mit einer anderen Frau und einem Mann. Sie schrieb, es seien Franzosen, die zur Lageraufsicht gehörten.«

Schwarz blickte auf.»Wie ich das Gesicht des Mannes studiert habe! Ich lieh mir ein Vergrößerungsglas von einem Uhrmacher aus. Ich verstand nicht, warum Helen das Bild geschickt hatte. Sie selbst hatte sich wahrscheinlich nichts dabei gedacht. Oder doch? Ich weiß es nicht. Kennen Sie so etwas?«

»Jeder kennt es«, erwiderte ich.»Gefangenenpsychose ist kein Einzelfall.«

Der Besitzer der Kneipe kam mit der Rechnung. Wir waren die letzten Gäste.»Können wir anderswo noch sitzen?«fragte Schwarz. Der Besitzer nannte uns ein Lokal.»Es sind auch Frauen da«, sagte er.

»Schöne, dicke. Nicht teuer.«

»Gibt es nichts anderes?«

»Ich weiß nichts anderes um diese Zeit.«Der Mann zog seine Jacke an.»Wenn Sie wollen, begleite ich Sie. Ich bin jetzt frei. Die Frauen sind schlau dort. Ich könnte aufpassen, daß Sie nicht betrogen werden.«

»Kann man auch ohne Frauen da sitzen?«

»Ohne Frauen?«Der Besitzer sah uns Verständnislos an. Dann ging ein rasches Grinsen über sein Gesicht.»Ohne Frauen, ich verstehe! Natürlich, meine Herren, natürlich. Aber es sind nur Frauen da.«

Er sah uns nach, als wir auf die Straße traten. Es war jetzt herrlicher, sehr früher Morgen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Salzgeruch war stärker geworden. Katzen strichen durch die Straßen, und aus einigen Fenstern kam schon der Geruch von Kaffee, vermischt mit dem Geruch des Schlafes. Alle Lichter waren jetzt verlöscht. Ein Karren rumpelte unsichtbar, einige Gassen entfernt, Fischerboote blühten wie gelbe und rote Wasserrosen auf dem unruhigen Tejo, und unten lag, bleich und still jetzt und ohne künstliches Licht, das Schiff, die Arche, die letzte Hoffnung, und wir stiegen weiter hinab zu ihr.

Das Bordell war eine ziemlich trostlose Bude. Ein paar schlampige und fette Frauen spielten Karten und rauchten. Sie machten einen lustlosen Versuch und ließen uns dann in Ruhe. Ich sah auf die Uhr. Schwarz bemerkte es.»Es dauert nicht mehr lange«, sagte er.

»Und die Konsulate öffnen nicht vor neun.«

Ich wußte das ebenso wie er. Aber er wußte nicht, daß Zuhören und Erzählen nicht dasselbe sind.

»Ein Jahr scheint eine endlose Zeit zu sein«, sagte Schwarz.»Und dann plötzlich erscheint es nicht mehr lang. Ich versuchte, im Januar zu fliehen, als wir auf Außenarbeit geschickt wurden. Ich wurde nach zwei Tagen gefunden, von dem berüchtigten Leutnant C. mit der Reitpeitsche ins Gesicht geschlagen und für drei Wochen in Einzelhaft bei Wasser und Brot gesteckt. Bei einem zweiten Versuch wurde ich sofort erwischt. Dann gab ich es auf; es war ohnehin fast unmöglich, ohne Lebensmittelkarten und Ausweise durchzukommen. Jeder Gendarm konnte einen schnappen. Und bis zu Helens Lager war es ein weiter Weg.

Das änderte sich, als der Krieg im Mai wirklich begann und vier Wochen später endete. Wir waren in der unbesetzten Zone, aber es hieß, daß eine Kommission der Armee oder sogar der Gestapo das Lager kontrollieren würde. Sie kennen die Panik, die dann ausbrach?«

»Ja«, sagte ich.»Die Panik, die Selbstmorde, die Petitionen, uns vorher freizulassen, und die Schlamperei der Bürokratie, die es oft fast verhinderte. Nicht immer. Es gab Lager, in denen der Kommandant vernünftig war und auf eigene Verantwortung die Emigranten laufen ließ. Manche von ihnen wurden dann allerdings später trotzdem in Marseille und an der Grenze gefaßt.«

»In Marseille! Da hatten Helen und ich bereits das Gift«, erwiderte Schwarz.»Die kleinen Kapseln. Sie gaben einem die fatalistische Ruhe. Ein Apotheker in meinem Lager verkaufte sie mir. Zwei Kapseln. Ich weiß nicht, was es genau war, aber ich glaubte ihm, daß man schnell und fast schmerzlos stürbe, wenn man sie schluckte. Er behauptete, das Gift reiche für zwei Personen. Er verkaufte es mir, weil er fürchtete, er würde es selbst nehmen, gegen Morgen, in der Stunde der Verzweiflung, bevor es hell wird.

Wir waren aufgereiht wie Tauben zum Abschießen. Die Niederlage war zu überraschend gekommen. Niemand hatte sie so schnell erwartet. Wir wußten noch nicht, daß England keinen Frieden schließen würde. Wir sahen nur, daß alles verloren war«- Schwarz machte eine müde Bewegung -»und auch jetzt wissen wir ja noch nicht, ob nicht alles verloren ist. Wir sind bis zur Küste abgedrängt worden. Vor uns ist nur noch das Meer.«

Das Meer, dachte ich. Und Schiffe, die es immer noch überqueren.

In der Tür erschien der Besitzer der letzten Kneipe, in der wir gesessen hatten. Er grüßte uns spöttisch mit einer Art militärischem Salut. Dann flüsterte er den dicken Huren etwas zu. Eine von ihnen, eine Frau mit mächtigem Busen kam zu uns heran.»Wie macht ihr das eigentlich?«fragte sie.

»Was?«

»Es muß doch scheußlich wehtun.«

»Was?«fragte Schwarz zerstreut.

»Die Liebe der Matrosen auf hoher See«, schrie der Patron von der Tür her und schien vor Lachen alle seine Zähne ausspucken zu wollen.

»Der schlichte Denker da drüben hat Sie belogen«, sagte ich zu der Frau, die einen gesunden Geruch nach Olivenöl, Knoblauch, Zwiebeln, Schweiß und Leben mitgebracht hatte.»Wir sind keine Homosexuellen. Wir waren beide im abessinischen Krieg und sind von den Eingeborenen kastriert worden.«

»Ihr seid Italiener?«

»Wir waren es«, erwiderte ich.»Wenn man kastriert ist, gehört man keiner Nation mehr an. Man ist Kosmopolit.«

Sie dachte eine Zeitlang darüber nach.»Tu es comique«, sagte sie dann ernsthaft und ging mit wiegendem Riesenhintern zurück zur Tür, wo sie sofort handgreiflich vom Patron gewürdigt wurde.

»Es ist sonderbar mit der Hoffnungslosigkeit«, sagte Schwarz.»Wie zähe hängt doch das in uns, was nicht einmal mehr Ich sagt, sondern nur noch Lebenwollen, am Da-Sein, dem Nur-Da-Sein! Man gerät da manchmal in das, was die Schiffer bei einem Taifun beschreiben: in eine völlige Windstille, mitten im Kern des Wirbels. Man gibt auf – man ist wie ein Käfer, der sich tot stellt -, aber man ist nicht tot. Man hat nur jede andere Anstrengung als das bloße Überleben aufgegeben, um zu überleben. Man ist wache, konzentrierte, äußerste Passivität. Man hat nichts mehr zu verschwenden. Windstille, während der Taifun wie eine runde Mauer darum herum tobt. Es gibt plötzlich keine Angst mehr; keine Verzweiflung – auch sie wären ein Luxus, den man sich nicht mehr erlauben kann. Die Anstrengung, die man an sie verschwenden müßte, würde der Essenz des Überlebens entnommen werden müssen und sie schwächen – deshalb wird sie ausgeschaltet. Man ist nichts mehr als Auge und gelöste, ganz passive Bereitschaft. Eine merkwürdige, gelassene Klarheit kommt über einen. Ich hatte manchmal in diesen Tagen das Gefühl, daß es ähnlich dem eines indischen Yogis sein müsse, der auch alles, was mit dem bewußten Ich zu tun hat, wegläßt, um -«Schwarz stockte.

36
{"b":"117136","o":1}