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›Ich begreife es.‹

Sie kam zu mir zurück. ›Du mußt es glauben‹, sagte sie sanft. ›Auch wenn es nicht so aussieht! Ich wollte weg! Daß du kamst, war ein Zufall. Versteh das doch! Sicherheit ist nicht immer alles.‹

›Das ist wahr‹, erwiderte ich. ›Aber man will sie, wenn man jemand liebt. Für den anderen.‹

›Es gibt keine Sicherheit. Es gibt keine‹, wiederholte sie. ›Sage nichts. Ich weiß es! Besser als du! Ich habe alles dieses überdacht. Gott, wie lange ich es überdacht habe! Laß uns nicht mehr darüber sprechen, Liebster. Da draußen steht der Abend und wartet auf uns. Es werden nicht mehr viele sein in Paris.‹

›Kannst du nicht in die Schweiz gehen, wenn du nicht zurückwillst?‹

›Georg behauptet, die Nazis würden die Schweiz überrennen wie Belgien im ersten Kriege.‹

›Georg weiß nicht alles.‹

›Laß uns noch hierbleiben. Vielleicht hat er überhaupt gelogen. Woher soll er so genau vorauswissen, was passieren wird? Es hat schon einmal so ausgesehen, als ob es zum Krieg kommen würde. Dann kam München. Warum soll nicht ein zweites München kommen?‹

Ich wußte nicht, ob sie glaubte, was sie sagte, oder mich nur ablenken wollte. Man glaubt so leicht, wenn man liebt; ich tat es an diesem Abend. Wie konnte Frankreich in einen Krieg gehen? Es war nicht gerüstet. Es mußte nachgeben. Warum sollte es für Polen kämpfen? Es hatte nicht für die Tschechoslowakei gekämpft.

Zehn Tage später waren die Grenzen gesperrt. Der Krieg hatte begonnen.«

»Wurden Sie sofort verhaftet, Herr Schwarz?«fragte ich.

»Wir hatten noch eine Woche. Wir durften die Stadt nicht verlassen. Es war eine sonderbare Ironie: fünf Jahre lang wurde ich ausgewiesen – jetzt auf einmal wollte man mich nicht loslassen. Wo waren Sie?«

»In Paris«, sagte ich.

»Wurden Sie auch im Velodrome eingesperrt?«

»Natürlich.«

»Ich erinnere mich nicht an Ihr Gesicht.«

»Im Velodrome waren Scharen von Emigranten, Herr Schwarz.«

»Erinnern Sie sich an die letzten Tage vor dem Kriege, als Paris verdunkelt wurde?«

»Daran natürlich! Es war, als würde die Welt verdunkelt.«

»Die kleinen blauen Lichter, die erlaubt waren«, sagte Schwarz.»Sie glommen an den Ecken in der Nacht, als wären sie beleuchtete Gläser von Tuberkulosekranken. Die Stadt wurde nicht nur dunkel; sie wurde krank in dieser kalten blauen Dunkelheit, in der man fröstelte, obschon es Sommer war. Ich verkaufte in diesen Tagen eine der Zeichnungen, die ich vom toten Schwarz geerbt hatte. Ich wollte, daß wir mehr bares Geld bei uns hätten. Es war eine schlechte Zeit, zu verkaufen. Der Händler, zu dem ich ging, bot sehr wenig. Ich lehnte ab und verlangte die Zeichnung zurück. Schließlich verkaufte ich sie an einen reichen Filmemigranten, der Besitz für sicherer hielt als Geld. Die letzte Zeichnung hinterlegte ich beim Besitzer des Hotels. Dann kam die Polizei. Sie kam am Nachmittag, um mich zu holen. Es waren zwei Leute. Sie sagten mir, ich solle mich von Helen verabschieden. Sie stand vor mir, blaß, mit sprühenden Augen. ›Es ist nicht möglich‹, sagte sie.

›Doch‹, erwiderte ich. ›Es ist möglich. Sie werden dich später auch holen. Es ist besser, wenn wir unsere Pässe nicht wegwerfen, sondern sie behalten. Auch du deinen.‹

›Es ist wirklich besser‹, sagte einer der Polizisten in gutem Deutsch.

›Danke‹, erwiderte ich. ›Kann ich mich allein verabschieden.‹

Der Polizist sah nach der Tür.

›Wenn ich weglaufen wollte, hätte ich es seit Tagen tun können‹, sagte ich.

Er nickte. Ich ging mit Helen in ihr Zimmer. ›Es ist anders, wenn es passiert, als wenn man vorher darüber redet, wie?‹ sagte ich und nahm sie in die Arme.

Sie machte sich los. ›Wie kann ich dich erreichen?‹

Wir sprachen das Übliche. Wir hatten zwei Adressen: das Hotel und einen Franzosen. Der Polizist klopfte an die Tür. Ich öffnete sie. ›Nehmen Sie eine Decke mit‹, sagte er. ›Es ist nur für ein bis zwei Tage. Nehmen Sie trotzdem eine Decke mit und etwas zu essen.‹

›Ich habe keine Decke.‹

›Ich bringe dir eine‹, sagte Helen. Sie packte rasch zusammen, was zu essen da war. ›Ist es nur für ein bis zwei Tage?‹ fragte sie.

›Höchstens‹, erklärte der Polizist. ›Feststellung der Personalien und so etwas. C’est la guerre, Madame.‹

Wir sollten das noch oft hören.«

Schwarz holte eine Zigarre aus der Tasche und zündete sie an.»Sie kennen das ja selbst – das Warten auf der Polizeistation, die Ankunft anderer Emigranten, die aufgestöbert wurden, als wären sie gefährliche Nazis, die Fahrt im vergitterten Wagen zur Präfektur und das endlose Warten in der Präfektur. Waren Sie auch in der Salle Lepine?«

Ich nickte. Die Salle Lepine war ein großer Raum in der Präfektur, der gewöhnlich für Lehrfilme für die Polizei benutzt wurde. Er enthielt ein paar hundert Sitze und eine Filmleinwand.»Ich war zwei Tage da«, erwiderte ich.»Nachts wurden wir in einen großen Kohlenkeller geführt, in dem Bänke standen zum Schlafen. Wir sahen morgens aus wie die Schornsteinfeger.«

»Wir saßen tagelang in den Stuhlreihen«, sagte Schwarz.»Wir waren schmutzig und sahen bald wirklich aus wie die Verbrecher, für die wir gehalten wurden. Georg nahm hier eine späte, unbeabsichtigte Rache; er hatte unsere Adresse damals in der Präfektur erfahren. Jemand hatte dort für ihn nachgeforscht. Georg hatte kein Hehl daraus gemacht, daß er zur Partei gehöre – jetzt wurde ich dafür viermal am Tage verhört, als Nazispion über meine freundschaftlichen Beziehungen zu Georg und zur Nationalsozialistischen Partei. Ich lachte zuerst; es war zu absurd. Doch dann merkte ich, daß auch das Absurde gefährlich werden kann. Daß es in Deutschland so war, hatte die Existenz der Partei dort bewiesen – aber jetzt schien auch Frankreich, das Land der Vernunft, unter dem gemeinsamen Impakt von Bürokratie und Krieg nicht mehr sicher zu sein. Georg hatte, ohne es zu wissen, eine Zeitbombe zurückgelassen; im Krieg als Spion angesehen zu werden, ist kein Spaß.

Jeden Tag kamen neue Schübe von geängstigten Menschen herein. Noch war seit der Kriegserklärung kein Mensch an der Front getötet worden – es war la drôle de guerre, wie die Witzbolde diese Zeit bezeichneten -, aber schon hing über allem die gespenstische Atmosphäre des verminderten Respekts vor dem Leben und der Individualität, die der Krieg mit sich bringt wie die Pest.

Menschen waren nicht mehr Menschen – sie wurden klassifiziert nach militärischen Grundsätzen in Soldaten, Taugliche, Untaugliche und Feinde.

Ich saß erschöpft am dritten Tag in der Salle Lepine. Ein Teil von uns war abgeholt worden. Die übrigen unterhielten sich flüsternd, schliefen oder aßen; wir waren bereits reduziert auf ein Minimum an Existenz. Das störte nicht; verglichen mit einem deutschen Konzentrationslager war es ein komfortables Dasein. Wir erhielten höchstens Tritte oder Püffe, wenn wir nicht schnell genug beim Austreten waren; Macht ist Macht, und ein Polizist ist ein Polizist in jedem Lande der Welt.

Ich war sehr müde von den Verhören. Auf dem Podium, unter der Leinwand, saßen in einer Reihe, in Uniform, mit gespreizten Beinen und Waffen, unsere Wächter. Der halbdunkle Saal, die schmutzige, leere Filmleinwand, und wir unten – das schien ein trostloses Symbol des Lebens zu sein, in dem man nur Gefangener oder Wächter war und in dem es höchstens von einem selbst abhing, was für einen Film man auf der leeren Leinwand sehen wollte – einen Lehrfilm, eine Komödie oder eine Tragödie. Zum Schluß war doch immer nur wieder die leere Leinwand da, das hungrige Herz und die stupide Macht, die handelte, als wäre sie ewig und wäre das Recht, während längst alle Leinwände wieder leer waren. Es würde immer so sein, dachte ich, nichts würde sich ändern, und irgendwann würde man verschwinden, ohne daß jemand es merkte. Es war eine der Stunden, die Sie kennen – wenn die Hoffnung verlöscht.«

Ich nickte.»Die Stunde der stillen Selbstmorde. Man wehrt sich nicht mehr und tut fast zufällig und gedankenlos den letzten Schritt.«

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