Er hatte den Mast nicht einmal fallen hören, denn seine Ohren waren taub von den Schreien und Flüchen und dem Klirren von Stahl auf Stahl, aber er sah die Gesichter und Blicke und die wilde Entschlossenheit, die seine Männer wie Wahnsinn gepackt hatte.
Doch es war alles vergeblich. Schritt um Schritt wurden sie gegen die Hütte zurückgedrängt, als weitere Leute von den Kanonen zur Unterstützung herbeirannten und andere vom Besanmast mitten in sie hineinschossen, ohne Rücksicht darauf, ob sie Freund oder Feind trafen.
Eine Gestalt schoß unter seinem erhobenen Arm hindurch: Pas-coe. Als er ihn aufhalten wollte, schlug ihm ein französischer Leutnant den Säbel aus der Hand und anschließend mit dem Griff so heftig gegen den Kopf, daß er auf die Knie ging. Wogende Körper, Stich- und Hiebwaffen im Kampf um ihn herum, und dann Pascoe, der ihm wieder auf die Beine helfen wollte; im selben Augenblick sah er einen französischen Unteroffizier, der ganz ruhig und deutlich vom Himmel abgehoben dastand und mit einer Pistole auf die Schultern des Jungen zielte.
Eine andere Gestalt warf sich dazwischen und wurde einen Augenblick vom Mündungsfeuer der Pistole hell beleuchtet. Als der Körper zu Bolithos Füßen niedersank, sah er, daß es sein Bruder war.
Nach Atem ringend, fischte er seinen Säbel unter den stampfenden Füßen heraus und rammte ihn im Hochkommen dem Unteroffizier ins Gesicht, so daß es vom Mund bis zum Ohr in ein klaffendes, blutrotes Loch verwandelt wurde. Als der Mann gurgelnd zurückfiel, hieb er den französischen Leutnant nieder und stieß den fallenden Körper mit dem Fuß zur Seite.
Er keuchte:»Sehen Sie nach ihm, Pascoe. Bringen Sie ihn nach achtern!»
Allday kämpfte neben ihm, sein schweres Entermesser sauste mit erbarmungsloser Präzision nach vorn und hinten, nach oben und unten. Männer schrien und starben, aber auf dem Achterdeck drängten sich nun so viele zusammen, daß es unmöglich war, die
Übersicht zu behalten. Pardon wurde nicht verlangt und nicht gegeben. Bolitho drängte noch einmal zum vorderen Teil des Decks, als er merkte, daß seine Leute wieder Boden gewannen. Er stach mit seinem Degen nach einem verzerrten Gesicht und anschließend zwischen die Schultern eines Offiziers, der gerade versuchte, sich zwischen seinen Leuten nach rückwärts durchzudrängen.
Längst hatte er seinen Hut verloren, und sein Körper kam ihm wie zerbrochen vor, als ob er hundertmal getroffen wäre. Aber mitten im Getümmel sah er nur seinen Bruder vor sich. Seine letzte heroische Geste, als er sich zum Schutz vor seinen Sohn — und vielleicht auch vor ihn — geworfen hatte.
Ein Mann in Kapitänsuniform, mit einer tiefen Wunde auf der Stirn, schrie ihm über die Köpfe der kämpfenden Leute etwas zu. Bolitho starrte ihn an und versuchte zu verstehen, was er rief.
Der französische Kapitän schrie:»Ergebt euch! Ihr seid geschlagen!«Dann sank er zu Boden, weil ein Seesoldat ihm das Bajonett in die Rippen gestoßen hatte.
«Geschlagen?«Bolitho schimpfte.»Streicht eure Flagge!«Er sah einen seiner Leute zur Flaggleine rennen und sie durchhauen, aber im gleichen Augenblick fällte ihn eine Musketenkugel. Langsam senkte sich die Trikolore als Leichentuch auf ihn herab.
Stepkyne arbeitete sich an die Seite von Allday vor. Sein Krummsäbel kreuzte sich mit einem französischen Degen. Er hob einen Arm und schrie auf, als ein Mann, der sich unbemerkt herangemacht hatte, ihm einen Dolch in den Magen stieß. Der Mann lief weiter, offenbar selber benommen und ohne bestimmtes Ziel. Einer von Bolithos Matrosen sah ihn vorbeiflitzen und schlug ihm das Entermesser in den Nacken. Sein Gesicht blieb dabei so ausdruckslos wie das eines Wildhüters beim Töten eines Kaninchens.
Bolitho taumelte gegen die Reling, der Schweiß rann ihm in die Augen, so daß er nichts mehr sehen konnte. Er war am Ende, es mußte das Ende sein, denn über dem Klirren aufeinandertreffenden Eisens und den schrecklichen Schreien glaubte er, Triumphrufe der Franzosen zu hören.
Allday schrie ihm ins Gesicht:»Kapitän Herrick, Sir!»
Bolitho sah ihn an. Allday hatte ihn noch nie, soweit er sich erinnerte, mir >Sir< angeredet.
Er schleppte sich an den immer noch kämpfenden und ineinander verbissenen Gestalten vorbei und blickte über sein Schiff hinweg auf die angebraßten Rahen und leicht getönten Segel eines anderen Schiffes, das gerade bei der Hyperion längsseit ging. Als dann Enterhaken in das zersplitterte Schanzkleid griffen, sah er Seeleute und Soldaten über die Hyperion wie über eine Brücke hinwegrennen, freudig begrüßt von den Verwundeten und den wenigen Leuten, die an den Kanonen ihres entmasteten Schiffs zurückgeblieben waren.
Kanonen wurden nicht mehr abgefeuert, und als weitere Männer sich ihren Weg durch Trümmer, Enternetze und Verteidiger bahnten, sah Bolitho die französische Admiralsflagge niedersinken und hörte die heiseren Rufe von Herricks Offizieren, mit denen sie die Franzosen aufforderten, sich zu ergeben und die Waffen niederzulegen.
Herrick selber kam nach achtern, den Degen in der Hand. Bolitho sah ihn stumm an. Das Kämpfen hatte aufgehört, und als der Wind die Segel ein wenig zur Seite wehte, sah er die Spartan nahe vorbeisegeln. Ihre Männer brachten ihm ein Hoch aus, trotz Tod und Zerstörung ringsum.
Herrick ergriff seine Hand.»Zwei weitere Schiffe haben sich ergeben. Und auch die San Leandro ist unser!»
Bolitho nickte.»Und der Rest?»
«Zwei sind nach Norden geflüchtet. «Er drückte ihm begeistert die Hand.»Mein Gott, was für ein Sieg!»
Bolitho befreite seine Hand und wandte sich zur Hütte. Er sah Pascoe neben Hugh knien; mit Herrick an seiner Seite bahnte er sich einen Weg durch die erschöpften und dennoch ausgelassen jubelnden Matrosen zu ihm. Bolitho kniete nieder, aber es war schon vorüber. Hughs Gesicht schien jünger, die tiefen Falten waren daraus verschwunden. Er drückte seinem Bruder die Augen zu und sagte:»Ein tapferer Mann. «Pascoe sah ihn an, und seine Augen schimmerten.»Er hat mir das Leben gerettet, Sir.»
«Das hat er. «Bolitho stand langsam auf und fühlte dabei, wie Schmerz und Erschöpfung ihn zu überwältigen drohten.»Ich hoffe, Sie werden sich immer seiner erinnern. «Er machte eine Pause.»So wie ich.»
Pascoe sah in forschend an, und ein paar Tränen rannen ihm dabei über die schmutzbedeckten Backen. Aber er sprach mit fester Stimme:»Ich werde ihn nie vergessen. Niemals!»
Allday meldete:»Man hat den französischen Admiral gefangen, Käpt'n.»
Bolitho drehte sich um; Jammer und Verzweiflung über die furchtbaren Verluste durchrannen ihn wie ein Feuerstrom. Erst die Jagd mit all ihren Enttäuschungen, und nun die vielen Toten. Aber Lequiller hatte überlebt!
Er musterte den kleinen Mann, der zwischen Leutnant Hicks und Tomlin stand. Er hielt sich krumm und trug einen Bart, ein dünnes Männchen, dessen beschmutzte Uniform ihm viel zu groß schien.
Bolitho mußte wegschauen, da es ihm unmöglich war, den Ausdruck ungläubigen Staunens auf Lequillers Gesicht zu ertragen. Er fühlte sich plötzlich beschämt. Im Kriege war es besser, wenn der Feind kein Gesicht hatte.
«Bringen Sie ihn unter Bewachung auf die Impulsive. «Er wandte sich zum Niedergang. Seine Leute jubelten ihm zu, Hände, manche davon blutbedeckt, streckten sich aus, um seine Schulter zu berühren, als er wortlos an ihnen vorbeiging.
Auf dem Achterdeck der Hyperion fand er Inch, der — einen Arm in der Schlinge und den zerschlitzten Rock wie ein Cape umgehängt — auf ihn wartete. Inchs Anblick trug mehr dazu bei, seine aufgewühlten Gefühle zu beruhigen, als er für möglich gehalten hätte.
Leise sagte er:»Ich hatte Ihnen doch wohl befohlen, nach unten zu gehen?»
Inch zeigte seine Pferdezähne in einem mühsamen Grinsen.»Ich dachte, es würde Sie interessieren, Sir: der Kommodore war während der ganzen Schlacht ohne Besinnung. Aber jetzt ist er wieder hellwach und verlangt Brandy!»