Die einander überlappenden Marssegel und die flatternden Flaggen erweckten den Eindruck, als käme ein riesiges Ungeheuer über die Kimm gekrochen, um ihnen Tod und Verderben zu bringen.
Er gab das Glas zurück. Über das Schiff an der Spitze gab es keinen Zweifel. Es war Lequillers Flaggschiff, der gewaltige Dreidek-ker Tornade. Sie war erst zwei Jahre alt und mit einhundert Kanonen bewaffnet. Besser, sich an sie zu erinnern, wie sie damals vor Anker lag und die unglücklichen Gefangenen an ihrer Großrah baumelten, als jetzt über die Verheerungen nachzudenken, die ihre gewaltige Artillerie anrichten konnten.
Ohne dieses Schiff wäre das Kräfteverhältnis annehmbar, wenn auch nicht ganz fair gewesen. Fünf gegen drei. Aber die überragende Feuerkraft der Tornade verschob das Kräfteverhältnis ganz gewaltig zu ihren Ungunsten.
Er preßte den Mund zu einer dünnen Linie zusammen.
«Der Wind flaut etwas ab, Sir«, meldete Gossett verdrießlich.»Das ist die typische Bosheit der Biskaya.»
Bolitho nickte. Wenn der Wind ganz aufhörte, würde das ihr erstes Scharmützel noch verheerender machen und ihre Aussichten, Lequillers Schiffe so zu beschädigen, daß er seinen Plan verschieben oder aufgeben mußte, noch unwahrscheinlicher.
Unterhalb der Reling hörte Bolitho leise Stimmen, und als er hinunterschaute, sah er einige Seeleute, die sich an den Laufbrücken hochgezogen hatten und die näherkommenden Schiffe beobachteten, wobei sie wohl die Stärke des Feindes erkannten.
Das war schlecht. Auf die Annäherung des Feindes zu warten, war immer der schlimmste Teil des Gefechts. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, und während der ganzen Zeit konnte man nichts anderes tun, als beobachten und überlegen; dabei ging leicht die Zuversicht verloren und machte Verzweiflung Platz.
Bolitho winkte einem der Spielleute.»Komm her, mein Junge. «Der Trommelbube schaute ängstlich unter seinem Tschako zu ihm hoch.»Kannst du auch Querpfeife spielen?«Er bemühte sich, ihm zuzulächeln, und spürte, wie sich dabei die Haut an seinen Mundwinkeln schmerzhaft verzog.
«Jawoll, Sir!«Der Knabe zuckte aufgeregt mit den Wimpern und zog die Pfeife aus seiner Bandeliere.
In diesem Augenblick, als Bolitho versuchte, sich eine Melodie oder einen Shanty einfallen zu lassen, mit dem er die Aufmerksamkeit der Männer vom Feind ablenken konnte, ertönte aus dem Achterschiff ein schrecklicher Schrei. Er hielt auf gleicher Tonhöhe immer noch an, als die Männer an den Kanonen auf den dunklen Gang hinter dem Steuerrad starrten, der zur Kajüte führte. Ein Rudergänger löste sogar den Griff um die Radspeichen und sah sich entsetzt um.
Der schreckliche Schrei brach ab, sein Echo schien aber noch lange in der Luft zu hängen. Bolitho biß die Zähne zusammen und versuchte, nicht an den fetten, nackten, auf dem Tisch festgehaltenen Leib zu denken, in den das Messer des Schiffsarztes den ersten tiefen Einschnitt getan hatte.
Er fragte scharf:»Also?»
Der Trommelbube hob die Pfeife, aber seine kleinen rauhen Hände zitterten, als er sie an die Lippen führte.
Gossett sagte barsch:»Wie wär's mit dem Mädel aus Ports-mouth«. Er warf den Kanonieren und den reglos dastehenden Seesoldaten einen drohenden Blick zu.»Los, singt, ihr Waschlappen, oder ich fahre gleich zwischen euch!»
Als ein neuer schrecklicher Schrei die Luft zerriß, wurden die schwachen Pfeifentöne von den Matrosen auf dem Achterdeck aufgenommen, dann — zunächst langsam — von den Bedienungen der Zwölfpfünder und sogar von einigen Leuten oben auf den Gefechtsständen der Masten.
Bolitho ging auf die Luvseite und hielt das Gesicht in den Wind. Die Stimmen der Männer, die lauter wurden und sich über den Wind erhoben, das geistige Bild von Pelham-Martins Qualen, alles war Teil der Unwirklichkeit um ihn herum. Aber fast am schlimmsten waren die Worte des Liedes, das Gossett so eilig vorgeschlagen hatte, um die Schreie aus der Kajüte zu übertönen.
«Ich kannte ein Mädel in Portsmouth Town.»
Es war der gleiche Shanty, den sie gesungen hatten, als die Hyperion sich an jenem bitterkalten Wintermorgen aus dem Plymouth-Sund freigearbeitet hatte.
Er wandte den Kopf, als einer von Trudgeons Gehilfen mit einem Leinenbündel aus der Hütte trat. Der Mann hielt einen Augenblick inne und lauscht dem Gesang, bevor er das blutbefleckte Bündel über die Leereling warf.
Bolitho fragte:»Wie ging es?»
Der Sanitätsmaat zog eine Grimasse.»Ein kleiner Splitter, Sir, nicht größer als meine Fingerspitze. «Zornig zuckte er die Achseln.»Aber Eiter und Dreck für zehn Männer!»
«Verstehe. «Es war sinnlos, weitere Fragen zu stellen. Der Maat war nur eine Verlängerung von Trudgeons Armen, mit denen ein Opfer festgehalten wurde; die Schrecken seines Berufs hatten ihn so abgehärtet, daß er für Gefühle kein Organ mehr besaß.
Bolitho ließ ihn stehen und hob wieder das Teleskop. Wie schnell die französischen Schiffe eine Kiellinie gebildet hatten und wie unzerstörbar sie aussahen! Unter gerefften Segeln, die Rümpfe in dem eigenartigen Licht matt glänzend, schienen sie sich wie an einer unsichtbaren Schnur zu bewegen, und zwar auf einem Kurs, der mit dem der drei englischen Schiffe zusammenlief. In weiter Ferne, und durch ihr hohes Achterschiff gerade noch hinter der dräuenden Schlachtlinie erkennbar, sah er die San Leandro, auf der Perez und seine Ratgeber zweifellos warteten, daß ihm der Weg für seine Heimkehr zu Macht und Reichtum geöffnet wurde.
De Block hatte erzählt, daß der Gouverneur von Las Mercedes schon über siebzig Jahre alt sei. Es war unwahrscheinlich, daß er lange genug lebte, um sich seiner Heimat längere Zeit zu erfreuen, selbst wenn die Franzosen es ihm erlaubten.
Er warf das Teleskop in seine Halterung. Nun war er schon so weit, daß er ihre Niederlage in seine Gedankenkette einbaute. Nein, Lequiller würde nicht siegen, und Perez würde die Vernichtung seiner Verbündeten noch erleben.
Knapp drei Meilen trennten die beiden Geschwader, aber immer noch ließ sich nicht sagen, welche Schiffe die Luvposition einnehmen würden. Es war besser, den augenblicklichen vorsichtigen Annäherungskurs beizubehalten, als die Schlachtordnung durch ein Manöver in letzter Minute zu gefährden.
Das Singen hatte aufgehört, und als Bolitho das Schiff entlang blickte, sah er, daß die Männer an ihren Kanonen standen und nach achtern, auf ihn, schauten.
Er nickte.»Sie können jetzt laden und ausrennen lassen, Mr. Inch. Es wird Zeit, daß wir ihnen die Zähne zeigen.»
Inch grinste und eilte davon. Minuten später klappten die Deckel der Stückpforten hoch und rumpelten die Kanonen auf quietschenden Rollwagenlafetten an die Verschanzung. Die Geschützführer griffen nach den Abzugsleinen und gaben leise letzte Anweisungen.
Midshipman Pascoe kam aus dem Hauptluk gerannt und meldete vom Fuß der Leiter zum Achterdeck:»Untere Batterie geladen und fertig, Sir!«Er drehte sich um und wollte zurückrennen, als Bolitho ihn anhielt.»Kommen Sie her, Mr. Pascoe!»
Der Junge stieg aufs Achterdeck und legte die Hand an den Hut. Seine Augen strahlten, und seine sonst bleichen Wangen hatten vor Eifer Farbe bekommen.
Bolitho sagte ruhig:»Schauen Sie mal da hinüber!«Er wartete, bis der Junge auf einen Poller geklettert war, um über die Hängemattsnetze hinwegsehen zu können.
Pascoe starrte eine volle Minute auf die große Ansammlung von Segeln, die sich von Steuerbord voraus bedrohlich auf sie zu bewegte. Dann sprang er wieder herunter und sagte:»Das sind 'ne ganze Menge, Sir. «Er hob das Kinn, und als er ihn ansah, meinte Bolitho, daß dieses Gesicht gut in die Ahnengalerie des nun leerstehenden Hauses in Falmouth passen würde. Impulsiv streckte er die Hand aus und faßte Pascoe am Arm.»Passen Sie auf sich auf, Mr. Pascoe. Keine Tollheiten heute, ja?«Er griff in seine Tasche und zog das kleine geschnitzte Schiff heraus, das de Block ihm geschenkt hatte.»Hier, nehmen Sie das als Erinnerung an Ihre erste Fahrt.»