»Ja. Ebenso wie dem Tod.«
»Ich weiß es nicht. Bist du noch nie geflogen?«
»In einem Flugzeug?«
»Flugzeug«, sagt Isabelle mit leichter Verachtung.»Das kann jeder. Im Traum.«
»Ja. Aber kann das nicht auch jeder?«
»Nein.«
»Ich glaube, jeder Mensch träumt einmal, daß er fliegt. Es ist einer der häufigsten Träume, die es gibt.«
»Siehst du!«sagt Isabelle.»Und du traust der Schwerkraft. Wenn sie nun eines Tages aufhört? Was dann? Dann fliegen wir herum wie Seifenblasen! Wer ist dann Kaiser? Der, der am meisten Blei an die Füße gebunden hat, oder der mit den längsten Armen? Und wie kommt man von einem Baum herunter?«
»Das weiß ich nicht. Aber selbst Blei hülfe nicht. Es wäre dann auch leicht wie Luft.«
Sie ist plötzlich ganz spielerisch. Der Mond scheint in ihre Augen, als brenne hinter ihnen ein bleiches Feuer. Sie wirft das Haar zurück, das in dem kalten Licht aussieht, als hätte es keine Farbe.
»Du siehst aus wie eine Hexe«, sage ich.»Eine junge und gefährliche Hexe!«
Sie lacht.»Eine Hexe«, flüstert sie.»Hast du es endlich erkannt? Wie lange das gedauert hat!«
Mit einem Ruck reißt sie den blauen weiten Rock auf, der um ihre Hüften schwingt, läßt ihn fallen und steigt heraus. Sie trägt nichts als Schuhe und eine kurze weiße Bluse, die sich öffnet. Schmal und weiß steht sie in der Dunkelheit, mehr Knabe als Frau, mit fahlem Haar und fahlen Augen.»Komm«, flüstert sie.
Ich sehe mich um. Verdammt, denke ich, wenn Bodendiek jetzt käme! Oder Wernicke oder eine der Schwestern, und ich ärgere mich, daß ich es denke. Isabelle würde es nie denken. Sie steht vor mir wie ein Luftgeist, der einen Körper angenommen hat, bereit, wegzufliegen.
»Du mußt dich anziehen«, sage ich.
Sie lacht.»Muß ich das, Rudolf?«fragt sie spöttisch und hat keine Schwerkraft, ich aber habe alle Schwerkraft der Welt.
Langsam kommt sie näher. Sie greift nach meiner Krawatte und zerrt sie los. Ihre Lippen sind ohne Farbe, graublau im Mond, ihre Zähne sind kalkweiß, und selbst ihre Stimme hat ihre Farbe verloren.»Nimm das weg!«flüstert sie und reißt mir den Kragen und das Hemd auf. Ich fühle ihre Hände kühl auf meiner nackten Brust. Sie sind nicht weich; sie sind schmal und hart und greifen mich fest an. Ein Schauer läuft über meine Haut. Etwas, was ich nie in Isabelle vermutet habe, bricht plötzlich aus ihr heraus, ich spüre es wie einen heftigen Wind und einen Stoß, es kommt von weit her und hat sich in ihr zusammengedrängt, wie der sanfte Wind weiter Ebenen in einem Engpaß zu einem jähen Sturm. Ich versuche ihre Hände festzuhalten und sehe mich um. Sie stößt meine Hände beiseite. Sie lacht nicht mehr; in ihr ist auf einmal der tödliche Ernst der Kreatur, für die Liebe überflüssiges Beiwerk ist, die nur ein Ziel kennt und der es nicht zuviel erscheint, zu sterben, um es zu erreichen.
Ich kann sie nicht weghalten. Von irgendwo ist ihr eine Stärke zugeweht, gegen die ich nur Gewalt anwenden könnte, um sie abzuwehren. Um es zu vermeiden, ziehe ich sie an mich. Sie ist so hilfloser, aber sie ist jetzt näher bei mir, ihre Brüste drängen sich gegen meine Brust, ich fühle ihren Körper in meinen Armen und ich spüre, wie ich sie dichter an mich ziehe. Es geht nicht, denke ich, sie ist krank, es ist Vergewaltigung, aber ist nicht alles Vergewaltigung, immer? Ihre Augen sind dicht vor mir, leer und ohne Erkennen, starr und durchsichtig.»Angst«, flüstert sie.»Immer hast du Angst!«
»Ich habe keine Angst«, murmele ich.
»Wovor? Wovor hast du Angst?«
Ich antworte nicht. Es ist plötzlich keine Angst mehr da. Isabelles graublaue Lippen pressen sich gegen mein Gesicht, kühl, nichts an ihr ist heiß, ich aber fröstle von einer kalten Hitze, meine Haut zieht sich zusammen, nur mein Kopf glüht, ich spüre Isabelles Zähne, sie ist ein schmales, aufgerichtetes Tier, sie ist ein Schemen, ein Geist aus Mondlicht und Gier, eine Tote, eine lebende, auferstandene Tote, ihre Haut und ihre Lippen sind kalt, Grauen und eine verbotene Lust wirbeln durcheinander, ich reiße mich mit Gewalt los und stoße sie zurück, daß sie fällt -
Sie steht nicht auf. Sie kauert am Boden, eine weiße Eidechse, und zischt Flüche gegen mich, Beleidigungen, einen Strom von geflüsterten Fuhrmannsflüchen, Soldatenflüchen, Hurenflüchen, Flüchen, die ich nicht einmal alle kenne, Beleidigungen, die treffen wie Messer und Peitschenhiebe, Worte, die ich nie bei ihr vermutet hätte, Worte, auf die man nur mit den Fäusten antwortet.
»Sei ruhig«, sage ich.
Sie lacht.»Sei ruhig!«macht sie mich nach.»Das ist alles, was du weißt! Sei ruhigl Geh zum Teufel!«zischt sie plötzlich lauter.»Geh, du Jammerlappen, du Eunuch -«
»Halt den Mund«, sage ich aufgebracht.»Oder -«
»Was, oder? Versuch es doch!«Sie wölbt sich mir entgegen wie ein Bogen, auf dem Boden, die Hände rückwärts gestützt, in einer schamlosen Gebärde, den Mund geöffnet zu einer verächtlichen Grimasse.
Ich starre sie an. Sie sollte mich anwidern, aber sie widert mich nicht an. Sie hat selbst in dieser obszönen Stellung nichts mit Hurentum zu tun, trotz allem, was sie ausspeit und tut, es ist etwas Verzweifeltes und Wildes und Unschuldiges darin und in ihr, ich liebe sie, ich möchte sie hochnehmen und forttragen, aber ich weiß nicht wohin, ich hebe meine Hände, sie sind schwer, ich fühle mich trostlos und hilflos und kleinbürgerlich und provinziell.
»Scher dich weg!«flüstert Isabelle vom Boden her.»Geh! Geh! Und komm nie wieder! Wage nicht, wiederzukommen, du Greis, du Kirchendiener, du Plebejer, du Kastrat! Geh, du Tölpel, du Narr, du Krämerseele! Wage nicht wiederzukommen!«
Sie sieht mich an, auf den Knien jetzt, der Mund ist klein geworden, die Augen sind flach und schieferfarben und böse. Mit einem schwerelosen Satz springt sie auf, greift den weiten blauen Rock und geht davon, rasch und schwebend, sie tritt aus der Allee in das Mondlicht auf hohen Beinen, eine nackte Tänzerin, den blauen Rock wie eine Fahne schwenkend.
Ich will ihr nachlaufen, ihr zurufen, sich anzuziehen; aber ich bleibe stehen. Ich weiß nicht, was sie als nächstes tun wird – und mir fällt ein, daß es nicht das erstemal ist, daß jemand hier oben nackt an der Eingangstür erscheint. Besonders Frauen tun das oft.
Langsam gehe ich durch die Allee zurück. Ich ziehe mein Hemd zurecht und fühle mich schuldig, ich weiß nicht warum.
Spät höre ich Knopf kommen. Sein Schritt beweist, daß er ziemlich voll ist. Mir ist wahrhaftig nicht danach zumute, aber gerade deshalb begebe ich mich an das Regenrohr. Knopf bleibt in der Hoftür stehen und überblickt als alter Soldat zuerst einmal das Gelände. Alles ist still. Vorsichtig nähert er sich dem Obelisken. Ich habe nicht erwartet, daß der Feldwebel a. D. seine Gewohnheit schon nach einem einzigen Schreckschuß aufgeben würde. Er steht jetzt in Bereitschaftsstellung vor dem Grabstein und wartet wieder. Vorsichtig geht Knopf noch einmal umher. Darauf macht der gewiegte Taktiker ein Scheinmanöver; die Hände gehen herunter, aber es ist Bluff, er horcht nur. Dann, als wieder alles still bleibt, stellt er sich genießerisch hin, ein Lächeln des Triumphes um seinen Nietzscheschnurrbart, und läßt sich gehen.
»Knopf!«heule ich gedämpft durch die Dachröhre.»Du Schwein, bist du wieder da? Habe ich dich nicht gewarnt?«
Der Wechsel in Knopfs Gesicht ist nicht schlecht. Ich habe immer dem Ausdruck mißtraut, daß jemand vor Entsetzen die Augen aufreiße; ich dachte, man kniffe sie eher zu, um schärfer zu sehen; aber Knopf reißt sie tatsächlich auf wie ein erschrecktes Pferd bei einem schweren Granateinschlag. Er rollt sie sogar.
»Du bist nicht würdig, ein Feldwebel der Pioniere a. D. zu sein«, erklare ich hohl.»Hiermit degradiere ich dich! Ich degradiere dich zum Soldaten zweiter Klasse, du Pisser! Tritt ab!«
Ein heiseres Bellen entringt sich Knopfs Kehle.»Nein! Nein!«krächzt er und sucht die Stelle zu erkennen, von wo Gott spricht. Es ist die Ecke zwischen dem Tor und seiner Hauswand. Kein Fenster, ist dort, keine Öffnung, er begreift nicht, woher die Stimme kommt.