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»Man trinkt Sekt nicht, um vornehm zu sein; man trinkt ihn, um sich wichtig zu machen.«

Willy nimmt Eduard die Flasche aus der Hand und schüttelt sie. Der Pfropfen knallt wie ein Pistolenschuß. Im Lokal entsteht einen Augenblick Schweigen. Der borstige Schweinskopf reckt sich. Willy steht in voller Größe am Tisch, die Flasche in der Rechten, und schenkt Glas auf Glas ein. Der Sekt schäumt, Willys Haar leuchtet, und sein Gesicht strahlt. Er starrt auf Schimmel, unseren Direktor, und Schimmel starrt wie hypnotisiert zurück.

»Es funktioniert«, flüstert Willy.»Ich dachte schon, er würde uns ignorieren.«

»Er ist ein leidenschaftlicher Schulmann«, antworte ich.

»Er kann uns nicht ignorieren. Für ihn bleiben wir Schüler, auch wenn wir sechzig sind. Sieh nur, wie seine Nase arbeitet!«

»Benehmt euch nicht wie Zwölfjährige«, sagt Renée.

»Warum nicht?«fragt Willy.»Älter werden können wir immer noch.«

Renée hebt resigniert die Hände mit dem Amethystring.

»Und so was hat das Vaterland verteidigt!«

»Hat geglaubt, das Vaterland zu verteidigen«, sage ich.»Bis es herausfand, daß es nur den Teil des Vaterlandes verteidigte, der gern zum Teufel gehen konnte – darunter den nationalistischen Schweinskopf da drüben.«

Renée lacht.»Ihr habt das Land der Dichter und Denker verteidigt, vergeßt das nicht.«

»Das Land der Dichter und Denker braucht nie verteidigt zu werden – höchstens gegen den Schweinskopf drüben und seinesgleichen, die Dichter und Denker ins Gefängnis sperren, solange sie leben, und mit ihnen, wenn sie tot sind, Reklame für sich machen.«

Gerda reckt den Kopf.»Heute wird scharf geschossen, was?«

Sie stößt mich wieder unter dem Tisch an. Ich klettere vom Rednerpult herunter und sitze sofort aufs neue in der Schaukel, die über die Erde hinwegfliegt. Der Speisesaal ist ein Teil des Kosmos, und selbst Eduard, der den Sekt säuft wie Wasser, um die Zeche zu erhöhen, hat einen staubigen Heiligenschein um seinen Kopf.

»Kommst du nachher mit?«flüstert Gerda.

Ich nicke.

»Er kommt!«wispert Willy entzückt.»Ich wußte es!«

Das Warzenschwein hat es nicht ausgehalten. Es hat sich hochgewuchtet und nähert sich zwinkernd unserem Tisch.»Hohmeyer, nicht wahr?«sagt es.

Willy sitzt jetzt. Er steht nicht auf.»Bitte?«fragt er.

Schimmel ist bereits irritiert.»Sie sind doch der frühere Schüler Hohmeyer!«

Willy stellt die Flasche vorsichtig hin.»Verzeihen Sie, Baronin«, sagt er zu Renée.»Ich glaube, der Mann dort meint mich.«Er wendet sich zu Schimmel.»Womit kann ich Ihnen dienen? Was möchten Sie, mein guter Mann?«Schimmel ist einen Augenblick perplex. Er hat wohl selbst nicht genau gewußt, was er sagen wollte. Schlichte, überquellende Empörung hat den biederen Schulfuchs an unseren Tisch geschwemmt.

»Ein Glas Champagner?«fragte Willy zuvorkommend.»Auch mal kosten, wie die andere Hälfte lebt?«

»Was fällt Ihnen ein? Ich bin kein Wüstling!«

»Schade«, erklärt Willy.»Aber was wollen Sie wirklich hier? Sie stören, sehen Sie das nicht?«

Schimmel schießt einen Wutblick auf ihn ab.»Ist es absolut nötig«, krächzt er,»daß ehemalige Schüler meines Gymnasiums am hellichten Tage Orgien feiern?«

»Orgien?«Willy sieht ihn erstaunt an.»Entschuldigen Sie nochmals, Baronin«, sagt er dann zu Renée.»Dieser manierenlose Mann – ein Herr Schimmel übrigens, jetzt erkenne ich ihn«- stellt er graziös vor -»die Baronin de la Tour«- Renée neigt huldvoll das Lockenhaupt -»glaubt, wir feiern eine Orgie, weil wir an Ihrem Geburtstag ein Glas Sekt trinken -«

Schimmel ist, soweit es bei ihm möglich ist, etwas verwirrt.»Geburtstag?«knarrt er.»Nun ja – immerhin, dies ist eine kleine Stadt – als ehemalige Schüler könnten Sie -«

Es sieht aus, als wolle er uns eine widerwillige Absolution erteilen. Die Baronin de la Tour hat auf den alten Kastenanbeter ihre Wirkung nicht verfehlt. Willy greift eilig ein.»Als ehemaliger Schüler von Ihnen sollten wir schon morgens einen Schnaps oder zwei zum Kaffee nehmen«, erklärt er,»damit wir endlich einmal wissen, was das Wort Freude bedeutet. Das stand nämlich nie in Ihrem Lehrplan, Sie Jugendmörder! Sie alter Pflichtenbock haben uns unser Dasein so versaut, daß wir glaubten, die Preußen wären eine Befreiung, Sie trostloser Feldwebel des deutschen Aufsatzes! Nur durch Sie sind wir zu Wüstlingen geworden! Sie allein tragen die Verantwortung für alles! Und nun schieben Sie ab, Sie Unteroffizier der Langeweile!«

»Das ist doch -«Schimmel stottert. Er ist jetzt tomatenrot.

»Gehen Sie nach Hause und nehmen Sie endlich einmal ein Bad, Sie Schweißfuß des Lebens!«

Schimmel ringt nach Atem.»Die Polizei!«würgt er hervor.»Flegelige Beleidigungen – ich werde Ihnen schon -«

»Sie werden gar nichts«, erklärt Willy.»Sie glauben immer noch, wir wären Ihre Sklaven für Lebenszeit. Alles, was Sie tun werden, ist, die Verantwortung beim Jüngsten Gericht dafür zu übernehmen, daß Sie zahllosen Generationen von jungen Menschen einen Haß auf Gott und alles Gute und Schöne beigebracht haben! Ich möchte bei der Auferstehung der Toten nicht in Ihren Knochen stecken, Schimmel! Die Fußtritte, die Sie allein von unserer Klasse bekommen werden! Und dann natürlich das Pech und Feuer der Hölle hinterher! Sie können das ja so gut beschreiben!«

Schimmel erstickt.»Sie werden von mir hören!«stößt er hervor und wendet wie eine Korvette im Sturm.

»Schimmel!«brüllt eine markige Kommandostimme hinter ihm her.

Renée wirkt, wie immer. Schimmel wird herumgerissen vom trauten Kommandolaut.»Was? Wie bitte? Wer -?«Seine Augen suchen die nächsten Tische ab.»Sind Sie verwandt mit dem Selbstmörder Schimmel?«zwitschert Renée.

»Selbstmörder? Was soll denn das? Wer hat mich gerufen?«

»Ihr Gewissen, Schimmel«, sage ich.

»Das ist doch -!«

Ich erwarte weißen Schaum auf Schimmels Lippen. Es ist ein Genuß, diesen Meister unzähliger Anklagen endlich einmal sprachlos zu sehen. Willy trinkt ihm zu.»Auf Ihr Wohl, Sie brave Kathederhyäne! Und gehen Sie nicht mehr zu fremden Leuten an den Tisch, sie zu zensieren. Besonders nicht, wenn Damen dabei sind.«

Schimmel entschwindet mit einem sonderbar klackenden Laut – als wäre nicht Champagner, sondern ein Selterswasserverschluß in ihm geplatzt.»Ich wußte, daß er es nicht lassen würde«, sagt Willy selig.

»Du warst erstklassig«, sage ich.»Wieso kam der Geist so gewaltig über dich?«

Willy grinst.»Diese Rede habe ich schon mindestens hundertmal gehalten! Leider immer allein, ohne Schimmel. Deshalb weiß ich sie auswendig. Prost, Kinder!«

»Ich kann nicht!«Eduard schüttelt sich.»Schweißfuß des Lebens! Das ist ein zu grauenhaftes Bild! Der Sekt schmeckt plötzlich wie eingeschlafene Füße.«

»Das tat er vorher auch schon«, sage ich geistesgegenwärtig.

»Was für Kinder ihr seid!«erklärt Renée kopfschüttelnd.

»Wir wollen es bleiben. Altwerden ist einfach.«Willy grinst.»Eduard, die Rechnung!«

Eduard bringt die Rechnung. Eine für Willy, eine für uns.

Gerdas Gesicht wird gespannt. Sie erwartet eine zweite Explosion heute. Georg und ich ziehen schweigend unsere Marken heraus und legen sie auf den Tisch. Aber Eduard explodiert nicht – er lächelt.»Macht nichts«, sagt er.»Bei so einem Weinkonsum!«

Wir sitzen enttäuscht da. Die Damen erheben sich und schütteln sich leicht, wie Hühner, die aus einer Sandgrube kommen. Willy klopft Eduard auf die Schulter.

»Sie sind ein Kavalier! Andere Wirte hätten gejammert, daß wir ihnen einen Gast vertrieben hätten.«

»Ich nicht.«Eduard lächelt.»Der Rohrstockschwinger hat hier noch nie eine anständige Zeche gemacht. Läßt sich nur einladen.«

»Komm«, flüstert Gerda mir zu.

Das tabakfarbene Kleid liegt irgendwo. Die braunen Wildlederschuhe stehen unter dem Stuhl. Einer ist umgefallen. Das Fenster steht offen. Weinlaub hängt herein. Von unten, aus dem Altstätter Hof, kommen gedämpft die Töne des elektrischen Klaviers. Es spielt den Walzer»Die Schlittschuhläufer«. Die Musik wird ab und zu von einem dumpfen Fall unterbrochen; das sind die Ringkämpferinnen, die trainieren.

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