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Ich sehe ihn scharf an. Sollte er etwa selbst ein Auge auf Lisa geworfen haben? Er ist merkwürdig verschwiegen in seinen persönlichen Angelegenheiten.»Riesenfeld versteht unter Romantik bestimmt ein Abenteuer in der großen Welt«, sage ich.»Nicht eine Affäre mit der Frau eines Pferdemetzgers.«

Georg winkt ab.»Was ist der Unterschied? Die große Welt benimmt sich heute oft vulgärer als ein Pferdemetzger.«

Georg ist unser Fachmann für die große Welt. Er hält das Berliner Tageblatt und liest es hauptsächlich, um den Nachrichten über Kunst und Gesellschaft zu folgen. Er ist ausgezeichnet informiert. Keine Schauspielerin kann heiraten, ohne daß er es weiß; jede wichtige Scheidung in der Aristokratie ist mit Diamanten in sein Gedächtnis eingeritzt. Er verwechselt nichts, selbst nicht nach drei, vier Ehen; es ist, als führe er Buch darüber. Er kennt alle Theateraufführungen, liest die Kritiken, weiß über die Gesellschaft am Kurfürstendamm Bescheid, und nicht nur das: er verfolgt auch das internationale Leben, die großen Stars und die Königinnen der Gesellschaft – er liest Filmmagazine, und ein Bekannter in England schickt ihm manchmal den»Tatler«und ein paar andere elegante Zeitschriften. Das verklärt ihn dann für Tage. Er selbst ist nie in Berlin gewesen, und im Ausland nur als Soldat, im Kriege in Frankreich. Er haßt seinen Beruf, aber er mußte ihn nach dem Tode seines Vaters übernehmen; Heinrich war zu einfältig dafür. Die Zeitschriften und Bilder helfen ihm etwas über die Enttäuschungen hinweg; sie sind seine Schwäche und seine Erholung.

»Eine vulgäre Dame der großen Welt ist etwas für erlesene Kenner«, sage ich.»Nicht für Riesenfeld. Dieser gußeiserne Satan hat eine mimosenhafte Phantasie.«

»Riesenfeld!«Georg zieht eine geringschätzige Grimasse. Der Herrscher der Odenwaldwerke mit seiner oberflächlichen Lust auf französische Damen ist für ihn ein trostloser Emporkömmling. Was weiß dieser wildgewordene Kleinbürger schon über den deliziösen Skandal bei der Ehescheidung der Gräfin Homburg? Oder über die letzte Premiere der Elisabeth Bergner? Er kennt nicht einmal die Namen! Georg aber weiß den Gotha und das Künstler-Lexikon fast auswendig.»Wir müßten Lisa eigentlich einen Blumenstrauß schicken«, sagt er.»Sie hat uns geholfen, ohne daß sie es weiß.«

Ich sehe ihn wieder scharf an.»Das tu nur selber«, erwidere ich.»Sage mir lieber, ob Riesenfeld ein allseitig poliertes Kreuzdenkmal in die Bestellung hineingeschmissen hat.«

»Zwei. Das zweite verdanken wir Lisa. Ich habe ihm gesagt, wir würden es so aufstellen, daß sie es immer sehen könne. Ihm schien etwas daran zu liegen.«

»Wir können es hier im Büro ans Fenster stellen. Es wird morgens, wenn sie aufsteht, und wenn die Sonne es bescheint, einen starken Eindruck auf sie machen. Ich könnte Memento mori in Gold draufpinseln. Was gibt es heute bei Eduard?«

»Deutsches Beefsteak.«

»Gehacktes Fleisch also. Warum ist zerhacktes Fleisch deutsch?«

»Weil wir ein kriegerisches Volk sind und sogar im Frieden unsere Gesichter in Duellen zerhacken. Du riechst nach Schnaps. Warum? Doch nicht wegen Erna?«

»Nein. Weil wir alle sterben müssen. Mich erschüttert das manchmal noch, trotzdem ich es schon seit einiger Zeit weiß.«

»Das ist ehrenwert. Besonders in unserem Beruf. Weißt du, was ich möchte?«

»Natürlich. Du möchtest Matrose auf einem Walfischfänger sein; oder Koprahändler in Tahiti; oder Nordpolentdecker, Amazonasforscher, Einstein und Scheik Ibrahim mit einem Harem von Frauen zwanzig verschiedener Nationen, einschließlich der Zirkassierinnen, die so feurig sein sollen, daß man sie nur mit einer Asbestmaske umarmen kann.

»Das ist selbstverständlich. Aber außerdem möchte ich noch dumm sein; strahlend dumm. Das ist das größte Geschenk für unsere Zeit.«

»Dumm wie Parzival?«

»Weniger erlöserhaft. Gläubig, friedlich, gesund, bukolisch dumm.«

»Komm«, sage ich.»Du bist hungrig. Unser Fehler ist, daß wir weder wirklich dumm noch wirklich gescheit sind. Immer so dazwischen, wie Affen in den Ästen. Das macht müde und manchmal traurig. Der Mensch muß wissen, wohin er gehört.«

»Tatsächlich?«

»Nein«, erwidere ich.»Das macht ihn auch nur seßhaft und dick. Aber wie wäre es, wenn wir heute abend ins Konzert gingen, um für die Rote Mühle einen Ausgleich zu schaffen? Es wird Mozart gespielt.«

»Ich lege mich heute abend früh schlafen«, erklärt Georg.»Das ist mein Mozart. Geh allein hin. Stelle dich mutig und einsam dem Ansturm des Guten. Es ist nicht ohne Gefahr und richtet mehr Zerstörungen an als schlichte Bosheit.«

»Ja«, sage ich und denke an die spatzenhafte Frau vom Vormittag.

Es ist später Nachmittag. Ich lese die Familiennachrichten der Zeitungen und schneide die Todesanzeigen aus. Das gibt mir immer den Glauben an die Menschheit zurück – besonders nach Abenden, an denen wir unsere Lieferanten oder Agenten bewirten mußten. Wenn es nach den Todesanzeigen ginge, wäre der Mensch nämlich absolut vollkommen. Es gibt da nur perfekte Väter, makellose Ehemänner, vorbildliche Kinder, uneigennützige, sich aufopfernde Mütter, allerseits betrauerte Großeltern, Geschäftsleute, gegen die Franziskus von Assisi ein hemmungsloser Egoist gewesen sein muß, gütetriefende Generäle, menschliche Staatsanwälte, fast heilige Munitionsfabrikanten – kurz, die Erde scheint, wenn man den Todesanzeigen glaubt, von einer Horde Engel ohne Flügel bewohnt gewesen zu sein, von denen man nichts gewußt hat. Liebe, die im Leben wahrhaftig nur selten rein vorkommt, leuchtet im Tode von allen Seiten und ist das häufigste, was es gibt. Es wimmelt nur so von erstklassigen Tugenden, von treuer Sorge, von tiefer Frömmigkeit, von selbstloser Hingabe, und auch die Hinterbliebenen wissen, was sich gehört – sie sind von Kummer gebeugt, der Verlust ist unersetzlich, sie werden den Verstorbenen nie vergessen – es ist erhebend, das zu lesen, und man könnte stolz sein, zu einer Rasse zu gehören, die so noble Gefühle hat.

Ich schneide die Todesanzeige des Bäckermeisters Niebuhr aus. Er wird als gütiger, treubesorgter, geliebter Gatte und Vater geschildert. Ich selbst habe Frau Niebuhr mit aufgelösten Flechten aus dem Hause fliehen sehen, wenn der gütige Niebuhr mit seinem Hosenriemen hinter ihr her war und auf sie einschlug; und ich habe den Arm gesehen, den der treusorgende Vater seinem Sohne Roland gebrochen hat, als er ihn in einem Anfall von Jähzorn aus dem Fenster der Parterrewohnung warf. Es konnte der schmerzgebeugten Witwe gar nichts Besseres passieren, als daß dieser Wüterich endlich, vom Schlag getroffen, beim Backen der Morgenbrötchen und der Hefekuchen dahinsank; trotzdem aber glaubt sie das plötzlich nicht mehr. Alles, was Niebuhr angerichtet hat, ist durch den Tod weggewischt. Er ist ein Ideal geworden. Der Mensch, der immer ein erstaunliches Talent zur Selbsttäuschung und Lüge hat, läßt es bei Todesfällen besonders hell glänzen und nennt es Pietät. Das erstaunlichste aber ist, daß er das, was er dann behauptet, selbst bald so fest glaubt, als hätte er eine Ratte in einen Hut gesteckt und gleich darauf ein schneeweißes Kaninchen herausgezogen.

Frau Niebuhr hat diese magische Verwandlung durchgemacht, als man den backenden Lumpen, der sie täglich verhaute, die Treppe heraufschleppte. Anstatt auf die Knie zu fallen und Gott für die Befreiung zu danken, begann in ihr sofort die Verklärung durch den Tod. Weinend stürzte sie sich auf den Leichnam, und seitdem sind ihre Augen nicht trocken geworden. Ihrer Schwester, die sie an die vielen Prügel und an Rolands falsch geheilten Arm erinnerte, erklärte sie indigniert, das seien Kleinigkeiten, und die Hitze des Backofens sei schuld daran gewesen; Niebuhr, in seiner nie ermüdenden Sorge für die Familie, habe zuviel gearbeitet, und der Backofen habe bei ihm ab und zu wie ein Sonnenstich gewirkt. Damit wies sie ihrer Schwester die Tür und trauerte weiter. Sie ist sonst eine vernünftige, redliche und arbeitsame Frau, die weiß, was los ist, aber jetzt sieht sie Niebuhr auf einmal so, wie er niemals war, und glaubt es fest, und das ist es, was so bewundernswert daran ist. Der Mensch ist nämlich nicht nur ein ewiger Lügner, sondern auch ein ewiger Gläubiger; er glaubt an das Gute und Schöne und Vollkommene, selbst wenn es nicht vorhanden ist oder nur sehr rudimentär – und das ist der zweite Grund dafür, daß mich das Lesen der Todesanzeigen erbaut und zum Optimisten macht.

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