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»Gott weiß das auch nicht«, sage ich.»Der Besitzer weiß es ja selbst noch nicht. Er setzt die Preise erst fest, wenn das elektrische Licht angeht. Warum liebt Riesenfeld nicht Kunst, Malerei, Musik oder Literatur? Das käme viel billiger. Im Museum kostet der Eintritt immer noch 250 Mark. Wir könnten ihm dafür stundenlang Bilder und Gipsköpfe zeigen. Oder Musik. Heute ist ein volkstümliches Orgelkonzert in der Katharinenkirche -«

Georg verschluckt sich vor Lachen.»Na, schön«, erkläre ich.»Es ist absurd, sich Riesenfeld dabei vorzustellen; aber warum liebt er nicht wenigstens Operetten und leichte Musik? Wir könnten ihn ins Theater mitnehmen – immer noch billiger als der verdammte Nachtklub!«

»Da kommt er«, sagt Georg.»Frag ihn.«

Wir öffnen die Tür. Durch den frühen Abend segelt Riesenfeld die Treppenstufen herauf. Der Zauber der Frühlingsdämmerung hat keinen Einfluß auf ihn gehabt, das sehen wir sofort. Wir begrüßen ihn mit falscher Kameraderie. Riesenfeld merkt es, schielt uns an und plumpst in einen Sessel.»Sparen Sie sich die Flausen«, brummt er in meine Richtung.

»Das wollte ich sowieso«, erwidere ich.»Es fällt mir nur schwer. Das, was Sie Flausen nennen, heißt anderswo gute Manieren.«

Riesenfeld grinst kurz und böse.»Mit guten Manieren kommt man heutzutage nicht weit -«

»Womit denn?«fragte ich, um ihn zum Reden zu bringen.

»Mit gußeisernen Ellenbogen und einem Gummigewissen.«

»Aber Herr Riesenfeld«, sagt Georg begütigend.»Sie haben doch selbst die besten Manieren der Welt! Nicht die besten im bürgerlichen Sinne vielleicht – aber sicher sehr elegante -«

»So? Wenn Sie sich da nur nicht irren!«Riesenfeld ist trotz seiner Zurückweisung sichtlich geschmeichelt.

»Er hat die Manieren eines Räubers«, werfe ich ein, genau wie Georg es erwartet. Wir spielen dieses Spiel ohne vorherige Proben, als könnten wir es auswendig.»Oder eher die eines Piraten. Leider hat er Erfolg damit.«

Riesenfeld ist bei den Räubern etwas zusammengezuckt; der Schuß war zu nahe. Die Piraten versöhnen ihn wieder. Genau das war beabsichtigt. Georg holt eine Flasche Rothschen Korn aus dem Fach, in dem die Porzellanengel stehen, und schenkt ein.»Worauf wollen wir trinken?«fragt er.

Gewöhnlich trinkt man auf Gesundheit und gute Geschäfte. Das ist bei uns etwas schwierig. Riesenfeld ist dafür zu fein besaitet; er behauptet, so etwas sei bei einem Grabsteingeschäft nicht nur ein Paradoxon, sondern auch der Wunsch, daß möglichst viele Menschen stürben. Ebenso könne man auf Cholera und Krieg trinken. Wir überlassen seitdem ihm die Formulierungen.

Er starrt uns schief an, das Glas in der Hand, redet aber nicht. Nach einer Weile sagt er plötzlich in das Halbdunkel hinein:»Was ist eigentlich Zeit?«

Georg setzt erstaunt sein Glas nieder.»Der Pfeffer des Lebens«, erwidere ich ungerührt. Mich kriegt der alte Halunke nicht so leicht mit seinen Tricks. Ich bin nicht umsonst Mitglied des Dichterklubs Werdenbrück; wir sind große Fragen gewöhnt.

Riesenfeld beachtet mich nicht.»Was meinen Sie, Herr Kroll?«fragt er.

»Ich bin ein einfacher Mensch«, sagt Georg.»Prost!«

»Zeit«, beharrt Riesenfeld,»Zeit, dieses Fließen ohne Halt – nicht unsere lausige Zeit! Zeit, dieser langsame Tod.«

Dieses Mal setze auch ich mein Glas nieder.»Ich glaube, wir machen besser Licht«, sage ich.»Was haben Sie zu Abend gegessen, Herr Riesenfeld?«

»Halten Sie die Klappe, wenn erwachsene Leute reden«, erwidert Riesenfeld, und ich merke, daß ich einen Augenblick nicht aufgepaßt habe. Er wollte uns nicht verblüffen – er meint, was er sagt. Gott weiß, was ihm nachmittags passiert ist! Ich möchte ihm gerne antworten, daß Zeit ein wichtiger Faktor sei auf dem Wechsel, den er unterschreiben soll – aber ich ziehe vor, meinen Schnaps zu trinken.

»Ich bin jetzt sechsundfünfzig«, sagt Riesenfeld.»Aber ich erinnere mich noch der Zeit, als ich zwanzig war, als wäre das erst ein paar Jahre her. Wo ist all das dazwischen geblieben? Was ist los? Man wacht plötzlich auf und ist alt. Wie ist das bei Ihnen, Herr Kroll?«

»Ähnlich«, erwidert Georg friedlich.»Ich bin vierzig, aber ich fühle mich wie sechzig. Bei mir war es der Krieg.«

Er lügt, um Riesenfeld beizustehen.»Bei mir ist es anders«, erkläre ich, um ebenfalls mein Scherflein beizutragen.»Auch durch den Krieg. Ich war siebzehn, als ich hineinging – jetzt bin ich fünfundzwanzig, aber ich fühle mich noch wie siebzehn. Wie

siebzehn und siebzig. Mir ist meine Jugend beim Kommiß gestoh

len worden.«

»Bei Ihnen ist das nicht der Krieg«, erwidert Riesenfeld, der es anscheinend heute auf mich abgesehen hat, weil Zeit, der langsame Tod, mich noch nicht so erwischt hat wie ihn.»Sie sind nur einfach geistig zurückgeblieben. Im Gegenteil, der Krieg hat Sie sogar frühreif gemacht; ohne ihn ständen Sie heute noch auf der Stufe eines Zwölfjährigen.«

»Danke«, sage ich.»Welch ein Kompliment! Mit zwölf Jahren ist jeder Mensch ein Genie. Er verliert seine Originalität erst mit dem Eintreten der Geschlechtsreife, von der Sie Granit-Casanova ja so übertrieben viel halten. Ein ziemlich einförmiger Ersatz für den Verlust der Freiheit des Geistes!«

Georg schenkt neu ein. Wir sehen, daß es ein schwerer Abend wird. Wir müssen Riesenfeld aus den Schluchten der Weltschwermut hervorholen, und keiner von uns hat Lust, sich heute abend auf philosophische Plattheiten einzulassen. Wir möchten am liebsten unter einem Kastanienbaum ruhig, ohne zu reden, eine Flasche Moselwein trinken, anstatt in der Roten Mühle mit Riesenfeld über sein verlorenes Mannesalter zu trauern.»Wenn Sie sich für die Realität der Zeit interessieren«, sage ich mit leichter Hoffnung,»dann kann ich Sie in einen Verein einführen, in dem Sie lauter Spezialisten dafür treffen werden – den Dichterklub unserer geliebten Heimatstadt. Der Schriftsteller Hans Hungermann hat das Problem in einem noch ungedruckten Werke auf etwa sechzig Gedichte ausgewalzt. Wir können gleich hingehen; jeden Sonntagabend ist eine Sitzung mit anschließendem gemütlichem Teil.«

»Sind Damen dabei?«

»Natürlich nicht. Dichtende Frauen sind dasselbe wie rechnende Pferde. Ausgenommen natürlich die Schülerinnen Sapphos.«

»Woraus besteht dann der gemütliche Teil?«fragt Riesenfeld logisch.

»Daraus, daß über andere Schriftsteller geschimpft wird. Besonders über erfolgreiche.«

Riesenfeld grunzt verächtlich. Ich will schon aufgeben, da flammt gegenüber das Fenster im Hause Watzek auf wie ein beleuchtetes Bild in einem finsteren Museum. Wir sehen Lisa hinter den Vorhängen. Sie zieht sich gerade an und trägt nichts außer einem Büstenhalter und einem Paar sehr kurzer weißer Seidenhosen.

Riesenfeld stößt einen Pfiff durch die Nase aus wie ein Murmeltier. Seine kosmische Melancholie ist mit einem Schlage verschwunden. Ich erhebe mich, um Licht zu machen.»Kein Licht!«faucht er.»Haben Sie denn keinen Sinn für Poesie?«

Er schleicht ans Fenster. Lisa beginnt, sich ein enges Kleid über den Kopf zu ziehen. Sie windet sich wie eine Schlange. Riesenfeld schnauft laut.»Eine verführerische Kreatur! Donnerwetter, der Hintern! Ein Traum! Wer ist das?«

»Susanna im Bade«, erkläre ich. Ich will ihm damit zart klarmachen, daß wir im Augenblick die Rolle der alten Böcke spielen, die sie beobachten.

»Unsinn!«Der Voyeur mit dem Einsteinkomplex läßt kein Auge von dem goldenen Fenster.»Wie sie heißt, meine ich.«

»Keine Ahnung. Wir sehen sie zum erstenmal. Heute mittag wohnte sie noch nicht drüben.«

»Tatsächlich?«Lisa hat das Kleid übergezogen und streift es mit den Händen glatt. Georg schenkt hinter dem Rücken Riesenfelds sich und mir ein. Wir kippen die Gläser weg.»Eine Frau von Rasse«, sagt Riesenfeld, der weiter am Fenster klebt.»Eine Dame, das sieht man. Wahrscheinlich Französin.«

Lisa ist, soviel wir wissen, Böhmin.»Es könnte Mademoiselle de la Tour sein«, erwidere ich, um Riesenfeld noch mehr zu reizen.»Ich habe gestern irgendwo hier den Namen gehört.«

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