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»Natürlich«, sage ich erleichtert.»Jeder kann sie hören. Es sind Glocken. In Fis-Dur.«

»Was ist Fis-Dur?«

»Eine Tonart. Die süßeste von allen.«

Sie wirft ihren weiten Rock über die Blüten.»Läuten sie jetzt in mir?«

Ich nicke und sehe auf ihren schmalen Nacken. Alles läutet in dir, denke ich. Sie bricht eine Tulpe ab und betrachtet die offene Blüte und den fleischigen Stengel, aus dem der Saft quillt.

»Das hier ist nicht süß.«

»Gut – dann sind es Glocken in C-Dur.«

»Muß es Dur sein?«

»Es kann auch Moll sein.«

»Kann es nicht beides zugleich sein?«

»In der Musik nicht«, sage ich, in die Enge getrieben.»Es gibt da Prinzipien. Es kann nur eins oder das andere sein. Oder eins nach dem anderen.«

»Eins nach dem andern!«Isabelle sieht mich mit leichter Verachtung an.»Immer kommst du mit diesen Ausreden, Rolf. Warum?«

»Ich weiß es auch nicht. Ich wollte, es wäre anders.«

Sie richtet sich plötzlich auf und schleudert die Tulpe, die sie abgebrochen hat, von sich. Mit einem Sprung ist sie aus dem Beet heraus und schüttelt heftig ihr Kleid aus. Dann zieht sie es hoch und betrachtet ihre Beine. Ihr Gesicht ist von Ekel verzerrt.

»Was ist passiert?«frage ich erschreckt.

Sie zeigt auf das Beet.»Schlangen -«

Ich blicke auf die Blumen.»Da sind keine Schlangen, Isabelle.«

»Doch! Die da!«Sie deutet auf die Tulpen.»Siehst du nicht, was sie wollen? Ich habe es gespürt.«

»Sie wollen nichts. Es sind Blumen«, sage ich verständnislos.

»Sie haben mich angerührt!«Sie zittert vor Ekel und starrt immer noch auf die Tulpen.

Ich nehme sie bei den Armen und drehe sie so, daß sie das Beet nicht mehr sieht.»Jetzt hast du dich umgedreht«, sage ich.»Jetzt sind sie nicht mehr da.«

Sie atmet heftig.»Laß es nicht zu! Zertritt sie, Rudolf.«

»Sie sind nicht mehr da. Du hast dich umgedreht, und nun sind sie fort. Wie das Gras nachts und die Dinge.«

Sie lehnte sich an mich. Ich bin plötzlich nicht mehr Rolf für sie. Sie legt ihr Gesicht an meine Schulter. Sie braucht mir nichts zu erklären. Ich bin Rudolf und muß es wissen.»Bist du sicher?«fragt sie, und ich fühle ihr Herz neben meiner Hand schlagen.

»Ganz sicher. Sie sind weg. Wie Dienstboten am Sonntag.«

»Laß es nicht zu, Rudolf -«

»Ich lasse es nicht zu«, sage ich und weiß nicht recht, was sie meint. Doch das ist auch nicht notwendig. Sie beruhigt sich bereits.

Wir gehen langsam zurück. Sie wird fast ohne Übergang müde. Eine Schwester marschiert auf flachen Absätzen heran.»Sie müssen essen kommen, Mademoiselle.«

»Essen«, sagt Isabelle.»Wozu muß man immer essen, Rudolf?«

»Damit man nicht stirbt.«

»Du lügst schon wieder«, sagt sie müde, wie zu einem hoffnungslosen Kinde.

»Diesmal nicht. Diesmal ist es wahr.«

»So? Essen Steine auch?«

»Leben Steine denn?«

»Aber natürlich. Am stärksten von allem. So stark, daß sie ewig sind. Weißt du nicht, was ein Kristall ist?«

»Nur aus der Physikstunde. Das ist sicher falsch.«

»Reine Ekstase«, flüstert Isabelle.»Nicht, wie das da -«Sie macht eine Bewegung nach rückwärts zu den Beeten.

Die Wärterin nimmt ihren Arm.»Wo haben Sie Ihren Hut, Mademoiselle?«fragt sie nach ein paar Schritten und sieht sich um.»Warten Sie, ich hole ihn.«

Sie geht, um den Hut aus den Blumen zu fischen. Hinter ihr kommt Isabelle hastig, mit aufgelöstem Gesicht zu mir zurück.

»Verlaß mich nicht, Rudolf!«flüstert sie.

»Ich verlasse dich nicht.«

»Und geh nicht weg! Ich muß jetzt fort. Sie holen mich! Aber geh nicht weg!«

»Ich gehe nicht weg, Isabelle.«

Die Wärterin hat den Hut gerettet und marschiert nun auf ihren breiten Sohlen heran wie das Schicksal. Isabelle steht und sieht mich an. Es ist, als wäre es ein Abschied für immer. Es ist jedesmal mit ihr so, als wäre es ein Abschied für immer. Wer weiß, wie sie wiederkommt und ob sie mich dann überhaupt noch erkennt?

»Setzen Sie den Hut auf, Mademoiselle«, sagt die Wärterin.

Isabelle nimmt ihn und läßt ihn schlaff von ihrer Hand herunterhängen. Sie dreht sich um und geht zum Pavillon zurück. Sie sieht nicht zurück.

Es begann damit, daß Geneviève Anfang März plötzlich im Park auf mich zukam und anfing, mit mir zu sprechen, als kennten wir uns schon lange. Das war nichts Ungewöhnliches – in der Irrenanstalt braucht man einander nicht vorgestellt zu: erden; hier ist man jenseits von Formalitäten, man spricht miteinander, wenn man will, und braucht keine langen Einleitungen. Man spricht auch sofort über das, was einem in den Sinn kommt, und es stört nicht, wenn der andere es nicht versteht – das ist nebensächlich. Man will nicht überzeugen und nicht erklären: man ist da und man spricht, und oft sprechen zwei Leute über etwas ganz Verschiedenes miteinander und verstehen sich großartig, weil sie nicht auf das hören, was der andere sagt. Papst Gregor VII. zum Beispiel, ein kleines Männchen mit Säbelbeinen, diskutiert nicht. Er braucht niemand davon zu überzeugen, daß er Papst ist. Er ist es, und damit fertig, und er hat große Sorgen mit Heinrich dem Löwen, Canossa ist nicht fern, und darüber spricht er manchmal. Es stört ihn nicht, daß sein Gesprächspartner ein Mann ist, der glaubt, er wäre ganz aus Glas, und der jeden bittet, ihn nicht anzustoßen, weil er schon einen Sprung habe – die beiden sprechen miteinander, Gregor über den König, der im Hemd büßen soll, und der Glasmann darüber, daß er die Sonne nicht ertragen könne, weil sie sich in ihm spiegele – dann erteilt Gregor den päpstlichen Segen, der Glasmann nimmt das Tuch, das seinen durchsichtigen Kopf vor der Sonne behütet, einen Augenblick ab, und beide trennen sich mit der Höflichkeit vergangener Jahrhunderte. Ich war also nicht erstaunt, als Geneviève mich ansprach; ich war nur erstaunt darüber, wie schön sie war, denn sie war gerade Isabelle.

Sie sprach lange mit mir. Sie trug einen leichten hellen Pelzmantel, der mindestens zehn bis zwanzig Kreuzdenkmäler aus bestem schwedischem Granit wert war, und dazu ein Abendkleid und goldene Sandalen. Es war elf Uhr morgens, und in der Welt jenseits der Mauern wäre das unmöglich gewesen. Hier aber wirkte es nur aufregend; als wäre jemand mit einem Fallschirm von einem fremden Planeten herabgeweht worden.

Es war ein Tag mit Sonne, Regenschauern, Wind und plötzlicher Stille. Sie wirbelten durcheinander, eine Stunde war es März, die andere April, und dann fiel unvermittelt ein Stück Mai und Juni hinein. Dazu kam Isabelle, von irgendwoher, und es war wirklich von irgendwoher – von da, wo die Grenzen aufhören, wo das Licht der Vernunft nur noch verzerrt wie ein wehendes Nordlicht an Himmeln hängt, die keinen Tag und keine Nacht kennen – nur ihre eigenen Strahlen-Echos und die Echos der Echos und das fahle Licht des Jenseits und der zeitlosen Weite.

Sie verwirrte mich von Anfang an, und alle Vorteile waren auf ihrer Seite. Ich hatte zwar viele bürgerliche Begriffe im Kriege verloren, aber das hatte mich nur zynisch und etwas verzweifelt gemacht, aber nicht überlegen und frei. So saß ich da und starrte sie an, als wäre sie ohne Schwergewicht und schwebe, während ich ihr mühsam nachstolperte. Dazu kam, daß oft eine sonderbare Weisheit durch das schimmerte, was sie sagte; es war nur verschoben und gab dann überraschend einen Fernblick frei, der einem das Herz klopfen ließ; doch wenn man ihn halten wollte, wehten schon wieder Schleier und Nebel darüber, und sie war ganz woanders.

Sie küßte mich am ersten Tage, und sie tat es so selbstverständlich, daß es nichts zu bedeuten schien; aber das änderte nichts daran, daß ich es nicht spürte. Ich spürte es, er erregte mich, doch dann schlug es wie eine Welle gegen die Barriere eines Riffes – ich wußte, sie meinte mich gar nicht, sie meinte jemand anderen, eine Gestalt ihrer Phantasie, einen Rolf oder Rudolf, und vielleicht meinte sie auch die nicht, und es waren nur Namen, die aus dunklen, unterirdischen Strömen hochgeworfen wurden, ohne Wurzeln und ohne Zusammenhang.

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