Das Kind starrte die Geige lange an. Vorsichtig hob es dann die Hand und berührte die Saiten.
»Warum spielst du nicht?«fragte es.
Der Geiger antwortete nicht.
»Spiel doch etwas«, wiederholte das Mädchen.
»Mirjam!«rief eine Frau, die einen Säugling auf dem Schoß hatte, von der andern Seite des Raumes leise und unterdrückt.»Komm her zu mir, Mirjam!«
Das Mädchen hörte nicht auf sie. Es schaute den Geiger an.»Kannst du nicht spielen?«
»Ich kann schon…«
»Warum spielst du dann nicht?«
Der Geiger sah sich verlegen um. Seine große, ausgearbeitete Hand umklammerte den Geigenhals. Ein paar Leute in der Nähe wurden aufmerksam und sahen ihn an. Er wußte nicht, wohin er blicken sollte.
»Ich kann doch hier nicht spielen«, sagte er schließlich.
»Warum denn nicht?«fragte das Mädchen.»Spiel doch! Es ist langweilig hier.«
»Mirjam!«rief die Mutter.
»Das Kind hat recht«, sagte der alte Mann mit der Narbe auf der Stirn, der neben dem Geiger saß.»Spielen Sie doch. Vielleicht lenkt es uns alle etwas ab. Und es wird ja wohl erlaubt sein.«
Der Geiger zögerte noch einen Augenblick. Dann nahm er den Bogen aus dem Kasten, spannte ihn und setzte die Geige an seine Schulter. Klar schwebte der erste Ton durch den Raum.
Es war Kern, als ob ihn etwas anrühre. Als ob eine Hand etwas in ihm wegschiebe. Er wollte sich wehren, aber er konnte es nicht. Seine Haut war dagegen. Sie fröstelte plötzlich und zog sich zusammen. Dann dehnte sie sich aus und war nichts mehr als Wärme.
Die Tür zum Büro öffnete sich. Der Kopf des Sekretärs erschien. Er kam herein und ließ die Tür hinter sich offenstehen. Sie war hell erleuchtet. Im Büro brannte schon Licht. Die kleine verwachsene Gestalt des Sekretärs hob sich dunkel von ihr ab. Es sah aus, als wollte er etwa sagen – doch dann legte er den Kopf schräg und lauschte. Langsam und lautlos, als drücke eine unsichtbare Hand gegen sie, schwang hinter ihm die Tür wieder zu.
Nur noch die Geige war da. Sie erfüllte die schwere, tote Luft des Raumes, und es schien, als verändere sich alles – als schmelze sie die stumme Einsamkeit der vielen, kleinen Existenzen, die im Schatten der Wände kauerten, und sammele sie zu einer großen gemeinsamen Sehnsucht und Klage.
Kern legte die Arme um seine Knie. Er senkte den Kopf und ließ die Flut über sich hinwegströmen. Er hatte das Gefühl, daß sie ihn wegschwemmte, irgendwohin – zu sich selbst und zu etwas sehr Fremdem. Das kleine, schwarzhaarige Mädchen hockte auf dem Boden neben dem Geiger. Es saß still und reglos und blickte ihn an.
Die Geige schwieg. Kern konnte etwas Klavier spielen, und er verstand so viel von Musik, um zu wissen, daß der Mann wunderbar gespielt hatte.
»Schumann?«fragte der Alte neben dem Geiger.
Der nickte.
»Spiel weiter«, sagte das Mädchen.»Spiel etwas, daß man lachen kann. Hier ist es traurig.«
»Mirjam!«rief die Mutter leise.
»Gut«, sagte der Geiger.
Er setzte den Bogen wieder an.
Kern blickte sich um. Er sah gebeugte Nacken und zurückgelegte, weiß schimmernde Gesichter, er sah Trauer, Verzweiflung und die sanfte Verklärung, die die Melodie der Geige für einige Augenblicke darüber breitete – er sah es, und er dachte an viele ähnliche Räume, die er schon gesehen hatte, angefüllt mit Ausgestoßenen, deren einziges Verschulden es war, geboren worden zu sein und zu leben. Das gab es, und diese Musik gab es zu gleicher Zeit. Es schien unbegreiflich. Es war ein unendlicher Trost und ein furchtbarer Hohn zugleich. Kern sah, daß der Kopf des Geigers auf der Geige lag wie auf der Schulter einer Geliebten. Ich will nicht untergehen, dachte er, indes die Dämmerung immer tiefer wurde in dem großen Raum, ich will nicht untergehen, das Leben ist wild und süß, ich kenne es noch nicht, es ist eine Melodie, ein Ruf, ein Schrei über fernen Wäldern, über unbekannten Horizonten, in unbekannten Nächten, ich will nicht untergehen!
Erst nach einiger Zeit merkte er, daß es still geworden war.»Was war das?«fragte das Mädchen.
»Das waren die deutschen Tänze von Franz Schubert«, sagte der Geiger heiser.
Der alte Mann neben ihm lachte auf.»Deutsche Tänze!«Er strich sich über die Narbe auf seiner Stirn.»Deutsche Tänze«, wiederholte er.
Der Sekretär schaltete das Licht von der Tür her an.»Der nächste…«, sagte er.
KERN BEKAM EINE Anweisung für einen Schlafplatz im Hotel Bristol und zehn Eßkarten für die Mensa am Wenzelsplatz. Er lief fast durch die Straßen, aus Angst, daß er zu spät käme.
Er hatte sich nicht geirrt. Alle Plätze in der Mensa waren besetzt, und er mußte noch warten. Unter den Essenden sah er einen seiner früheren Universitätsprofessoren. Er wollte schon auf ihn zugehen und ihn begrüßen; aber dann besann er sich und ließ es. Er wußte, daß viele Emigranten nicht an ihr früheres Leben erinnert werden wollten.
Nach einer Weile sah er den Geiger kommen und unschlüssig umherstehen. Er winkte ihm. Der Geiger sah ihn erstaunt an und kam langsam herüber. Kern wurde verwirrt. Er hatte, als er ihn wiedersah, geglaubt, den Geiger schon lange zu kennen; jetzt fiel ihm ein, daß sie noch nicht einmal miteinander gesprochen hatten.
»Entschuldigen Sie«, sagte er.»Ich habe Sie vorhin spielen hören, und ich dachte, Sie wüßten vielleicht nicht Bescheid hier.«
»Das weiß ich auch nicht. Sie?«
»Ja. Ich war schon zweimal hier. Sind Sie noch nicht lange draußen?«
»Vierzehn Tage. Ich bin heute hier angekommen.«
Kern sah, daß der Professor und jemand neben ihm aufstanden.»Da werden zwei Plätze frei«, sagte er rasch.»Kommen Sie!«
Sie drängten sich zwischen den Tischen durch. Der Professor kam ihnen durch den schmalen Gang entgegen. Er blickte Kern zweifelnd an und blieb stehen.»Kenne ich Sie nicht?«
»Ich war einer Ihrer Schüler«, sagte Kern.
»Ach so, ja…«Der Professor nickte.»Sagen Sie, wissen Sie vielleicht Leute, die Staubsauger brauchen könnten? Mit zehn Prozent Rabatt und Ratenzahlung? Oder Grammophone mit eingebautem Radio?«
Kern war nur einen Augenblick überrascht. Der Professor war eine Autorität in der Krebsforschung gewesen.»Nein, leider nicht«, sagte er mitleidig. Er wußte, was es hieß, Staubsauger und Grammophone verkaufen zu wollen.
»Ich hätte es mir denken können.«Der Professor sah ihn abwesend an.»Entschuldigen Sie bitte«, sagte er dann, als spräche er zu jemand ganz anderem, und ging weiter.
Es gab Graupensuppe mit Rindfleisch. Kern löffelte seinen Teller rasch leer. Als er aufschaute, saß der Geiger da, die Hände auf den Tisch gelegt, den Teller unberührt vor sich.
»Essen Sie nicht?«fragte Kern erstaunt.
»Ich kann nicht.«
»Sind Sie krank?«Der Birnenschädel des Geigers sah sehr gelb und farblos aus unter dem kalkigen Licht der schirmlosen Deckenlampen.
»Nein.«
»Sie sollten essen«, sagte Kern.
Der Geiger antwortete nicht. Er zündete sich eine Zigarette an und rauchte hastig. Dann schob er seinen Teller beiseite.»So kann man nicht leben!«stieß er schließlich hervor.
Kern sah ihn an.»Haben Sie keinen Paß?«fragte er.
»Doch. Aber…«Der Geiger zerdrückte nervös eine Zigarette.»So kann man doch nicht leben! So ohne alles! Ohne Boden unter den Füßen!«
»Mein Gott!«sagte Kern.»Sie haben einen Paß, und Sie haben Ihre Geige…«
Der Geiger blickte auf.»Das hat doch nichts damit zu tun«, erwiderte er gereizt.»Begreifen Sie das nicht?«
»Doch.«
Kern war maßlos enttäuscht. Er hatte geglaubt, wer so spielen konnte, müßte etwas Besonderes sein. Jemand, von dem etwas zu lernen war. Und nun sah er einen verbitterten Menschen da sitzen, der ihm, obwohl er sicher fünfzehn Jahre älter war als er, vorkam wie ein eigensinniges Kind. Erstes Stadium der Emigration, dachte er. Wird schon still werden.
»Essen Sie Ihre Suppe wirklich nicht?«fragte er.
»Nein.«
»Dann geben Sie sie mir. Ich bin noch hungrig.«