Er blickte erst auf, als Kern dicht vor ihm stand.»Ah, sieh da!«sagte er nachlässig.»Wie geht’s?«
»Mir fehlen vierzig Franken in meiner Brieftasche«, sagte Kern.
»Bedauerlich«, erwiderte Binding und schluckte ein großes Stück Braten hinunter.»Wirklich bedauerlich!«
»Geben Sie mir den Rest, den Sie noch haben, heraus, und die Sache ist erledigt.«
Binding trank einen Schluck Bier und wischte sich den Mund.»Die Sache ist auch so erledigt«, erklärte er gemütlich.»Oder was hatten Sie sonst vor zu tun?«
Kern starrte ihn an. Er hatte in seiner Wut bisher noch nicht daran gedacht, daß er tatsächlich nichts tun konnte. Wenn er zur Polizei ging, wurde er nach Papieren gefragt und selbst mit eingesperrt und ausgewiesen.
Er musterte Binding mit zusammengekniffenen Augen.»Keine Chance«, sagte dieser.»Sehr guter Boxer. Vierzig Pfund schwerer als Sie. Außerdem: bei Krach im Lokal Polizei und Ausweisung.«
Kern hätte im Augenblick wenig danach gefragt, was mit ihm selbst passiert wäre; aber er dachte an Ruth. Binding hatte recht: Es gab nicht die geringste Chance für ihn, etwas zu tun.»Machen Sie so was öfter?«fragte er.
»Ich lebe davon. Und wie Sie sehen, gut.«
Kern erstickte fast vor ohnmächtiger Erbitterung.»Geben Sie mir wenigstens zwanzig Franken zurück«, sagte er heiser.»Ich brauche das Geld. Nicht für mich. Für jemand anders, dem es gehört.«
Binding schüttelte den Kopf.»Ich brauche das Geld selbst. Sie sind billig davongekommen. Sie haben für vierzig Franken die größte Lehre empfangen, die es im Leben gibt: nicht vertrauensselig zu sein.«
»Das stimmt.«Kern starrte ihn an. Er wollte gehen, aber er konnte nicht.»Ihre ganzen Papiere… das war natürlich alles Schwindel!«
»Denken Sie an, nein!«erwiderte Binding.»Ich war im Konzentrationslager.«Er lachte.»Allerdings wegen Diebstahls bei einem Gauleiter. Seltener Fall!«
Er langte nach dem letzten Kotelett, das noch in der Schüssel lag. Im nächsten Moment hatte Kern es in der Hand.»Machen Sie ruhig Skandal«, sagte er.
Binding grinste.»Ich denke nicht daran! Ich bin ziemlich satt. Lassen Sie sich einen Teller bringen und nehmen Sie von dem Rotkohl dazu. Ich bin sogar bereit, Ihnen ein Glas Bier zu spendieren!«
Kern erwiderte nichts. Er war an der Grenze, sich zu prügeln, mit allem, was ihm in die Hand gekommen wäre. Rasch drehte er sich um und ging, das erbeutete Kotelett in der Hand. An der Theke ließ er sich etwas Papier geben, um es einzupacken. Das Servierfräulein sah ihm neugierig zu. Dann fischte es zwei Gurken aus einem Glase.»Hier«, sagte sie.»Etwas dazu.«
Kern nahm auch die Gurken.»Danke«, sagte er.»Danke vielmals.«Ein Abendessen für Ruth, dachte er. Verdammt und verflucht, für vierzig Franken!
An der Tür drehte er sich noch einmal um. Binding beobachtete ihn. Kern spuckte aus. Binding salutierte lächelnd mit zwei Fingern der rechten Hand.
HINTER BERN BEGANN es zu regnen. Ruth und Kern hatten nicht mehr genug Geld, um die Eisenbahn bis zum nächsten größeren Ort zu nehmen. Sie besaßen zwar noch eine kleine eiserne Reserve, aber die wollten sie erst in Frankreich angreifen. Ungefähr fünfzig Kilometer weit nahm ein vorüberkommendes Auto sie mit. Dann mußten sie zu Fuß gehen. Kern traute sich nur selten, in den Dörfern etwas zu verkaufen. Es fiel zu sehr auf. Sie schliefen im selben Ort immer nur eine Nacht. Sie kamen abends spät, wenn die Polizeibüros schon geschlossen waren, und gingen morgens, ehe sie wieder geöffnet wurden. So waren sie immer schon aus dem Ort heraus, wenn das Anmeldeformular zur Gendarmerie gegeben wurde. Binders Liste versagte für diesen Teil der Schweiz; sie enthielt nur die größeren Städte.
In der Nähe von Murten schliefen sie in einer leeren Scheune. Nachts prasselte ein Wolkenbruch hernieder. Das Dach war schadhaft, und als sie erwachten, waren sie bis auf die Haut naß. Sie versuchten, ihre Sachen zu trocknen, aber sie konnten kein Feuer machen. Alles war feucht, und sie fanden nur mit Mühe einen Fleck, wo es nicht durchgeregnet hatte. Sie schliefen eng aneinandergedrückt, um sich zu wärmen, aber ihre Mäntel, mit denen sie sich zudeckten, waren zu naß; – sie wachten vor Kälte wieder auf. So warteten sie bis zum Morgengrauen, dann brachen sie auf.
»Das Gehen wird uns warm machen«, sagte Kern.»Irgendwo werden wir in einer Stunde auch schon etwas Kaffee kriegen.«
Ruth nickte.»Vielleicht kommt die Sonne durch. Dann werden wir rasch trocken sein.«
Aber es blieb den ganzen Tag über kalt und böig. Regenschauer jagten über die Felder. Es war der erste sehr kalte Tag des Monats, die Wolken hingen faserig und tief, und nachmittags prasselte ein zweites schweres Wetter hernieder. Ruth und Kern warteten es in einer kleinen Kapelle ab. Es war sehr dunkel, und nach einer Weile begann es zu donnern, und Blitze zuckten durch die bunten Glasscheiben, auf denen Heilige in Blau und Rot Spruchbänder über den Frieden des Himmels und der Seele in ihren Händen hielten.
Kern fühlte, daß Ruth zitterte.»Ist dir sehr kalt?«fragte er.
»Nein, nicht sehr.«
»Komm, wir gehen etwas umher, das ist besser. Ich habe Angst, daß du dich erkältest.«
»Ich erkälte mich nicht. Laß mich nur etwas so sitzen.«
»Bist du müde?«
»Nein. Ich möchte nur einen Augenblick noch so sitzen.«
»Willst du nicht doch lieber umhergehen? Nur ein paar Minuten? Man soll in nassen Sachen nicht so lange sitzen. Der Steinboden ist zu kalt.«
»Gut.«
Sie gingen langsam durch die Kapelle. Ihre Schritte hallten in dem leeren Raum. Sie gingen an den Beichtstühlen vorbei, deren grüne Vorhänge sich in der Zugluft bauschten, um den Altar herum, zur Sakristei und zurück
»Bis Murten sind es noch neun Kilometer«, sagte Kern.»Wir müssen sehen, daß wir vorher unterkommen.«
»Neun Kilometer können wir noch ganz gut schaffen.«
Kern murmelte etwas.
»Was sagst du?«fragte Ruth.
»Nichts. Ich verfluche nur einen gewissen Binding.«
Sie schob ihre Hand unter seinen Arm.»Vergiß es! Das ist am einfachsten. Ich glaube, es hört auch schon auf zu regnen.«
Sie gingen hinaus. Es tröpfelte noch, aber über den Bergen stand ein mächtiger Regenbogen. Er überspannte das ganze Tal wie eine riesige bunte Brücke. Hinter den Wäldern, zwischen den zerborstenen Wolken, stürzte ein Schwall gelbweißen Lichts über die Landschaft. Sie konnten die Sonne nicht sehen; sie sahen nur das Licht, das wie ein leuchtender Nebel hervorbrach.
»Komm«, sagte Ruth.»Jetzt wird es besser.«
Abends kamen sie an einen Schafstall. Der Hirt, ein älterer, schweigsamer Bauer, saß vor der Tür. Zwei Schäferhunde lagen neben ihm. Sie stürzten den beiden bellend entgegen. Der Bauer nahm die Pfeife aus dem Mund und pfiff sie zurück. Kern ging auf ihn zu.»Können wir die Nacht hier schlafen? Wir sind naß und müde und können nicht weiter.«
Der Mann sah ihn lange an.»Es ist ein Heuboden oben«, sagte er dann.
»Das ist alles, was wir brauchen.«
Der Mann sah ihn wieder eine Zeitlang an.»Geben Sie mir Ihre Zündhölzer und Ihre Zigaretten«, sagte er schließlich.»Es ist viel Heu da.«
Kern gab sie ihm.»Sie müssen die Leiter drinnen emporklettern«, erklärte der Bauer.»Ich schließe den Stall hinter Ihnen ab. Ich wohne im Ort. Morgen früh lasse ich Sie dann heraus.«
»Danke. Danke vielmals.«
Sie kletterten die Leiter hinauf. Oben war es halbdunkel und warm. Nach einer Weile kam der Bauer. Er brachte ihnen Weintrauben, etwas Schafkäse und dunkles Brot.»Ich schließe jetzt ab«, sagte er.»Gute Nacht.«
»Gute Nacht. Und vielen Dank.«
Sie horchten, bis er unten war. Dann zogen sie ihre nassen Sachen aus und legten sie auf das Heu. Sie kramten ihre Nachtsachen aus den Koffern und fingen an zu essen. Sie waren sehr hungrig.
»Wie schmeckt es?«fragte Kern.
»Wunderbar.«Ruth lehnte sich an ihn.
»Wir haben Glück, was?«
Sie nickte.