Kern sah ihn an.»In diesem Zimmer? Auf dem Fußboden?«
»Ja. Ich bin das gewohnt, und ich werde Sie bestimmt nicht stören. Ich bin jetzt seit drei Nächten unterwegs. Sie wissen, wie das ist, draußen auf den Bänken mit der ewigen Angst vor der Polizei. Da ist man froh, wenn man irgendwo ein paar Stunden sicher ist.«
»Das weiß ich. Aber sehen Sie sich doch das Zimmer an! Es ist ja nirgendwo so viel Platz, daß Sie sich lang ausstrecken können. Wie wollen Sie denn da schlafen?«
»Das macht nichts!«erklärte Binding eifrig.»Das geht schon! Dort in der Ecke zum Beispiel! Ich kann im Sitzen schlafen und mich gegen den Schrank lehnen. Das geht sehr gut! Wenn man nur etwas Ruhe hat, kann unsereins doch überall schlafen!«
»Nein, das geht nicht.«Kern überlegte einen Moment.»Ein Zimmer hier kostet zwei Franken. Ich kann Ihnen das Geld geben. Das ist am einfachsten. Dann können Sie gründlich ausschlafen.«
Binding hob abwehrend die Hände. Sie waren groß und rot und dick.»Ich will kein Geld von Ihnen! Dazu bin ich nicht gekommen! Wer hier wohnt, braucht seine paar Groschen selber!
Und dann – ich war schon unten und habe gefragt, ob ich nicht irgendwo schlafen könnte. Es ist kein Zimmer frei.«
»Vielleicht ist eins frei, wenn Sie zwei Franken in der Hand haben.«
»Ich glaube nicht. Der Wirt sagte mir, er würde jemand, der zwei Jahre im Konzentrationslager war, immer umsonst schlafen lassen. Aber er hätte tatsächlich kein Zimmer frei.«
»Was?«sagte Kern,»Sie waren zwei Jahre im Konzentrationslager?«
»Ja.«Binding klemmte seinen Velourshut zwischen die Knie und holte aus seiner Brusttasche einen zerschlissenen Ausweis hervor. Er faltete ihn auseinander und gab ihn Kern.»Hier – sehen Sie! Das ist mein Entlassungsschein aus Oranienburg.«
Kern nahm den Schein vorsichtig, um die brüchigen Faltkniffe nicht zu zerreißen. Er hatte noch nie ein Entlassungszeugnis aus dem Konzentrationslager gesehen. Er las den Aufdruck, den vorgedruckten Text, den mit Schreibmaschine eingefügten Namen Richard Binding – dann blickte er auf den Stempel mit dem Hakenkreuz und die saubere, klare Unterschrift des Beamten – es stimmte. Es stimmte sogar in einer pedantisch ordentlichen und bürokratischen Weise, und gerade das machte das Ganze fast unheimlich – als käme jemand mit einer Aufenthaltserlaubnis und einem Visum aus dem Inferno wieder.
Er gab den Schein an Binding zurück.»Hören Sie«, sagte er,»ich weiß, was wir machen! Sie nehmen mein Bett und Zimmer. Ich kenn jemand in der Pension, der ein größeres Zimmer hat. Ich kann dort sehr gut schlafen. So ist uns beiden geholfen.«
Binding starrte ihn mit runden Augen an.»Aber das ist doch ganz unmöglich!«
»Im Gegenteil! Es ist das Leichteste von der Welt!«Kern nahm seinen Mantel und streifte ihn über seinen Pyjama. Dann legte er seinen Anzug über den Arm und griff nach seinen Schuhen.»Sehen Sie! Ich nehme das mit. So brauche ich Sie nicht einmal allzu früh zu stören. Ich kann mich drüben anziehen. Es freut mich, etwas tun zu können für jemand, der so viel mitgemacht hat.«
»Aber…«Binding ergriff plötzlich Kerns Hände. Es sah aus, als wollte er sie küssen.»Mein Gott, Sie sind ja ein Engel!«stammelte er.»Ein Lebensretter!«
»Ach wo!«erwiderte Kern verlegen.»Einer hilft dem andern mal aus, das ist alles. Was sollte sonst aus uns werden? Schlafen Sie gut!«
»Das werde ich! Weiß der Himmel!«
Kern überlegte einen Moment, ob er seinen Koffer mitnehmen sollte. Er hatte in einer kleinen Seitentasche darin vierzig Franken versteckt. Aber das Geld war gut versteckt, der Koffer war abgeschlossen, und er scheute sich, einem Mann, der im Konzentrationslager gewesen war, so offen sein Mißtrauen zu zeigen. Emigranten stehlen nicht untereinander.»Gute Nacht! Schlafen Sie gut!«sagte er noch einmal und ging.
Ruth wohnte auf demselben Korridor. Kern klopfte zweimal kurz an ihrer Tür. Das war das Zeichen, das sie miteinander ausgemacht hatten. Sie öffnete sofort.»Ist etwas passiert?«fragte sie erschrocken, als sie die Sachen in seiner Hand sah.»Müssen wir ausreißen?«
»Nein. Ich habe nur mein Zimmer so einem armen Teufel gegeben, der im Konzentrationslager war und ein paar Nächte nicht geschlafen hat. Kann ich hier bei dir auf der Chaiselongue schlafen?«
Ruth lächelte.»Die Chaiselongue ist alt und wackelig; aber glaubst du nicht, daß das Bett groß genug ist für uns beide?«
Kern trat rasch ein und küßte sie.»Ich stelle manchmal wirklich die dümmsten Fragen der Welt«, sagte er.»Aber glaube mir, es ist nur Verlegenheit. Es ist alles noch zu neu für mich.«
Ruths Zimmer war etwas größer als das andere. Es war, abgesehen von der Chaiselongue, ähnlich möbliert – aber Kern fand, daß es völlig anders aussah. Sonderbar, dachte er – es müssen die paar Sachen sein, die sie darin hat – die schmalen Schuhe, die Bluse, der braune Rock – wieviel Zärtlichkeit darin ist! Mit meinen Sachen sieht ein Zimmer nur unordentlich aus.
»Ruth«, sagte er,»wenn wir heiraten wollten… weißt du, daß wir das gar nicht könnten? Weil wir keine Papiere haben.«
»Ich weiß. Aber das soll unsere geringste Sorge sein. Wozu haben wir überhaupt eigentlich zwei Zimmer?«
Kern lachte.»Wegen der hohen Schweizer Moral. Unangemeldet, das geht noch – aber unverheiratet, das ist unmöglich!«
Er wartete am nächsten Morgen bis zehn. Dann ging er hinüber, um seinen Koffer zu holen. Er wollte ein paar Adressen abklappern und Binding weiterschlafen lassen.
Aber das Zimmer war schon leer. Binding war vermutlich schon wieder unterwegs. Kern öffnete seinen Koffer. Er war nicht verschlossen, das wunderte ihn. Er glaubte bestimmt, ihn abends abgeschlossen zu haben. Es schien ihm auch, als ob die Flaschen anders lägen, als er es gewohnt war. Er suchte rasch. Das kleine Kuvert in der versteckten Seitentasche war da. Er klappte es auf und sah sofort, daß sein Schweizer Geld fehlte. Nur zwei einsame österreichische Fünfschillingscheine flatterten ihm entgegen.
Er suchte noch einmal alles durch; auch seinen Anzug, obschon er sicher war, das Geld nicht darin zu haben. Er trug nie etwas bei sich, für den Fall, daß er unterwegs abgefaßt wurde. Ruth hatte so immer wenigstens noch den Koffer und das Geld. Aber die vierzig Franken waren verschwunden.
Er setzte sich auf den Boden neben den Koffer.»Dieser Gauner«, sagte er fassungslos.»Dieser verfluchte Gauner! Ist denn so etwas möglich?«
Er blieb eine Weile so sitzen. Dann überlegte er, ob er Ruth Bescheid sagen sollte; aber er beschloß, das erst zu tun, wenn es nicht anders mehr möglich war. Er wollte sie nicht früher als unbedingt notwendig beunruhigen.
Schließlich nahm er die Listen Binders heraus und notierte sich eine Anzahl Berner Adressen. Dann packte er seine Taschen voll Seife, Schnürsenkel, Sicherheitsnadeln und Toilettewasser und ging die Treppen hinunter.
Unten traf er den Wirt.»Kennen Sie einen Mann, der Richard Binding heißt«, fragte er.
Der Wirt dachte eine Zeitlang nach. Dann schüttelte er den Kopf.
»Ich meine jemand, der gestern abend hier war. Er hat ein Zimmer verlangt.«
»Gestern abend hat niemand ein Zimmer verlangt. Ich war ja gar nicht da. Ich war bis zwölf Uhr kegeln.«
»Ach so! Hatten Sie denn Zimmer frei?«
»Ja, drei. Die sind auch heute noch frei. Erwarten Sie noch jemand? Sie können Nummer sieben haben, auf Ihrem Korridor.«
»Nein. Ich glaube nicht, daß der, auf den ich warte, wiederkommt. Er wird schon unterwegs nach Zürich sein.«
Mittags hatte Kern drei Franken verdient. Er ging in ein billiges Restaurant, um ein Butterbrot zu essen und dann gleich weiter zu hausieren.
Er blieb an der Theke stehen und aß hungrig. Plötzlich fiel ihm das Sandwich fast aus der Hand. Er hatte an einem der entferntesten Tische Binding erkannt.
Mit einem Ruck steckte er den Rest des Butterbrotes in den Mund, schluckte es herunter und ging langsam auf den Tisch zu. Binding saß allein, die Ellenbogen aufgestemmt, vor einer großen Schüssel Schweinekoteletts mit Rotkohl und Kartoffeln und aß selbstvergessen.