»Ich koche den Kindern gerade etwas«, sagte Moritz Rosenthal.»Fand sie hier wie Mäuse in der Falle. Bernstein ist im Krankenhaus.«
Die drei Kinder des toten Seligmann hockten neben dem Herd. Sie beachteten Steiner nicht. Sie starrten auf den Suppentopf. Der ältere war etwa vierzehn Jahre alt; der jüngste sieben oder acht.
Steiner stellte den Koffer nieder.»Hier ist der Koffer eures Vaters«, sagte er.
Die drei sahen ihn gleichzeitig an, fast ohne jede Bewegung. Sie wandten kaum die Köpfe.
»Ich habe ihn noch gesehen«, sagte Steiner.»Er sprach von euch.«
Die Kinder sahen ihn an. Sie antworteten nicht. Ihre Augen glitzerten wie rundgeschliffene schwarze Steine. Das Licht des Gasbrenners zischte. Steiner fühlte sich unbehaglich. Er hatte das Gefühl, etwas Warmes, Menschliches sagen zu müssen, aber alles, was ihm einfiel, erschien ihm albern und unwahr vor der Verlassenheit, die von den drei schweigenden Kindern ausging.
»Was ist in dem Koffer?«fragte nach einer Zeitlang der älteste. Er hatte eine fahle Stimme und sprach langsam, hart und vorsichtig.
»Ich weiß es nicht mehr genau. Verschiedene Sachen eures Vaters. Auch etwas Geld.«
»Gehört er jetzt uns?«
»Natürlich. Deshalb habe ich ihn ja gebracht.«
»Kann ich ihn nehmen?«
»Aber ja!«sagte Steiner erstaunt.
Der Junge stand auf. Er war schmal, schwarz und groß. Langsam, die Augen fest auf Steiner gerichtet, näherte er sich dem Koffer. Mit einer raschen, tierhaften Bewegung griff er dann danach und sprang fast zurück, als fürchte er, Steiner würde ihm die Beute wieder entreißen. Er schleppte den Koffer sofort in die Kammer nebenan. Die andern beiden folgten ihm rasch, dicht aneinandergedrängt, wie zwei große schwarze Katzen.
Steiner sah Vater Moritz an.»Na ja«, sagte er erleichtert.»Sie wußten es ja wohl schon länger…«
Moritz Rosenthal rührte die Suppe durcheinander.»Es macht ihnen nicht mehr viel. Sie haben ihre Mutter und zwei Brüder sterben sehen. Da trifft es sie nicht mehr so. Was oft kommt, trifft nicht mehr so.«
»Oder noch mehr«, sagte Steiner.
Moritz Rosenthal sah ihn aus seinen faltigen Augen an.»Wenn man sehr jung ist, nicht. Wenn man sehr alt ist, auch nicht mehr. Dazwischen, das ist die schlimme Zeit.«
»Ja«, sagte Steiner.»Diese lausigen fünfzig Jahre dazwischen, die sind es.«
Moritz Rosenthal nickte friedlich.»Gehen mich nichts mehr an, jetzt.«Er legte den Deckel auf den Topf.»Wir haben sie schon untergebracht«, sagte er.»Einen nimmt Mayer mit nach Rumänien. Der zweite kommt in ein Kinderasyl in Locarno. Ich kenne jemand da, der für ihn bezahlt. Der älteste bleibt vorläufig hier bei Bernstein…«
»Wissen sie schon, daß sie sich trennen müssen?«
»Ja. Auch das macht ihnen nicht viel. Sie halten es mehr für ein Glück.«Rosenthal wandte sich um.»Steiner«, sagte er,»ich kannte ihn seit zwanzig Jahren. Wie ist er gestorben? Ist er ’runtergesprungen?«
»Ja.«
»Man hat ihn nicht ’runtergeworfen?«
»Nein. Ich war dabei.«
»Ich hörte es in Prag. Da hieß es, sie hätten ihn ’runtergestoßen. Ich bin dann hergekommen. Nach den Kindern sehen. Hatte es ihm mal versprochen. Er war noch jung. Knapp sechzig. Dachte nicht, daß es so kommen würde. Aber er war immer etwas kopflos, seit Rachel tot ist.«Moritz Rosenthal blickte Steiner an.»Er hatte viele Kinder. Das ist oft so bei Juden. Sie lieben Familie. Aber sie sollten eigentlich keine haben.«Er zog den Havelock um die Schultern, als fröre ihn, und sah plötzlich sehr alt und müde aus.
Steiner holte ein Paket Zigaretten hervor.»Wie lange sind Sie schon hier, Vater Moritz?«fragte er.
»Seit drei Tagen. Wurden an der Grenze einmal erwischt. Bin mit einem jungen Mann ’rübergekommen, den Sie kennen. Er erzählte mir von Ihnen. Kern hieß er.«
»Kern? Ja, den kenne ich. Wo ist er?«
»Auch hier irgendwo in Wien. Ich weiß nicht wo.«
Steiner stand auf.»Ich will mal sehen, ob ich ihn nicht finde. Auf Wiedersehen, Vater Moritz, alter Wanderer. Weiß der Himmel, wo wir uns wiedersehen werden.«
Er ging zu der Kammer, um sich von den Kindern zu verabschieden. Die drei saßen auf einer der Matratzen und hatten den Inhalt des Koffers vor sich ausgebreitet. Sorgfältig geordnet lagen die Garnrollen auf einem Häufchen; daneben die Schnürriemen, das Säckchen mit Schillingstücken und einige Pakete Nähseide. Die Wäsche, die Schuhe, der Anzug und die übrigen Sachen des alten Seligmann lagen noch im Koffer. Der älteste sah auf, als Steiner mit Moritz Rosenthal hereinkam. Unwillkürlich breitete er die Hände über die Dinge auf der Matratze. Steiner blieb stehen.
Der Junge blickte Moritz Rosenthal an. Seine Wangen waren gerötet, und seine Augen glänzten.»Wenn wir das da verkaufen«, sagte er aufgeregt und wies auf die Sachen im Koffer,»werden wir noch ungefähr dreißig Schilling mehr haben. Wir können das ganze Geld anlegen und Stoffe dazu nehmen – Manchester, Buckskin und auch noch Strümpfe -, damit verdient man mehr. Ich fange morgen gleich an. Morgen um sieben Uhr fange ich an.«Er sah ernst und sehr gespannt den alten Mann an.
»Gut!«Moritz Rosenthal streichelte ihm den schmalen Kopf.»Morgen um sieben Uhr fängst du an.«
»Walter braucht dann nicht nach Rumänien«, sagte der Junge.»Er kann mir helfen. Wir kommen schon durch. Nur Max muß dann weg.«
Die drei Kinder sahen Moritz Rosenthal an. Max, der jüngste, nickte. Er fand es richtig so.
»Wir werden sehen. Wir sprechen nachher noch darüber.«
Moritz Rosenthal begleitete Steiner zur Tür.»Keine Zeit zum Kummer«, sagte er.»Zuviel Not, Steiner.«
Steiner nickte.»Hoffentlich erwischt man den Jungen nicht sofort…«
Moritz Rosenthal schüttelte den Kopf.»Er wird schon aufpassen. Er weiß genug. Wir lernen früh.«
STEINER GING ZUM Café Sperler. Er war lange nicht mehr dagewesen. Seit er den falschen Paß hatte, vermied er Plätze, wo er von früher her bekannt war.
Kern saß an der Wand auf einem Stuhl. Er hatte die Füße auf seinen Koffer gestellt, den Kopf zurückgelehnt und schlief. Steiner setzte sich behutsam neben ihn; er wollte ihn nicht wecken. Etwas älter geworden, dachte er. Älter und reifer.
Er sah sich im Lokal um. Neben der Tür hockte der Landgerichtsrat Epstein, ein paar Bücher und ein Glas Wasser vor sich auf dem Tisch. Er saß allein und unzufrieden da; niemand saß vor ihm, angstvoll, fünfzig Groschen in der Hand. Steiner blickte sich um; anscheinend hatte die Konkurrenz, Rechtsanwalt Silber, die Kundschaft an sich gerissen. Aber Silber war gar nicht da.
Der Kellner kam heran, ohne gerufen zu werden. Sein Gesicht war verklärt.»Auch wieder einmal da?«fragte er familiär.
»Erinnern Sie sich an mich?«
»Und ob! Ich hatte schon Sorgen um Sie. Ist ja alles viel schärfer geworden jetzt. Wieder einen Kognak, mein Herr?«
»Ja. Wo ist denn der Rechtsanwalt Silber geblieben?«
»Das ist auch ein Opfer, mein Herr. Verhaftet und ausgewiesen.«
»Aha! War Herr Tschernikoff kürzlich hier?«
»In dieser Woche nicht!«
Der Kellner brachte den Kognak und stellte das Tablett auf den Tisch. Im selben Moment öffnete Kern die Augen. Er blinzelte; dann sprang er auf.»Steiner!«
»Komm«, erwiderte der ruhig.»Trink mal gleich diesen Kognak hier. Nichts erfrischt so, wenn man sitzend geschlafen hat, wie ein Schnaps.«
Kern trank den Kognak aus.»Ich war schon zweimal hier, dich zu suchen«, sagte er.
Steiner lächelte.»Die Füße auf dem Koffer. Also ohne Bleibe, was?«
»Ja.«
»Du kannst bei mir schlafen.«
»Wirklich? Das wäre wunderbar. Ich hatte bis jetzt ein Zimmer bei einer jüdischen Familie. Aber heute mußte ich ’raus. Sie haben zuviel Angst, jemand länger als zwei Tage zu behalten.«
»Bei mir brauchst du keine Angst zu haben. Ich wohne weit draußen. Wir können gleich aufbrechen. Du siehst aus, als brauchtest du Schlaf.«
»Ja«, sagte Kern.»Ich bin müde. Ich weiß nicht, warum.«