»Wenn ich einen Paß hätte, war’ ich da nicht hinaufgeklettert.«
Kern sah die Frau an, die ihn verraten hatte. Sie war aufgelöst und fast nicht bei Sinnen.»Das möchten Sie wohl!«zischte sie ihn an.»Ausreißen, und wir sollen hierbleiben! Alle sollen hierbleiben!«schrie sie.»Alle!«
»Maul halten!«brüllte der Gendarm.»Zusammenstellen!«Er leuchtete die Gruppe an.»Wir sollten euch eigentlich ins Gefängnis bringen, das wißt ihr wohl! Unbefugter Grenzübertritt! Aber wozu euch erst noch füttern! Kehrt marsch! Zurück in die Tschechoslowakei. Aber merkt euch: das nächstemal wird sofort geschossen!«
Kern suchte seinen Koffer aus dem Gestrüpp. Dann gingen die vier schweigend im Gänsemarsch zurück. Hinter ihnen gingen die Gendarmen mit den Taschenlampen. Es war gespenstisch, daß sie von ihren Gegnern nichts sahen als die weißen Kreise der Lampen; es waren nur Stimmen und Licht, die sie gefangen hatten und zurücktrieben.
Die Lichtkreise blieben stehen.»Marsch, vorwärts in dieser Richtung!«befahl die grobe Stimme.»Wer wiederkommt, wird erschossen!«
Die vier gingen weiter, bis das Licht hinter den Bäumen verschwand.
Kern hörte hinter sich die leise Stimme des Mannes der Frau, die ihn verraten hatte.»Verzeihen Sie… sie war außer sich… entschuldigen Sie… es tut ihr ganz bestimmt jetzt schon leid…«
»Das ist mir egal«, sagte Kern nach rückwärts.
»Verstehen Sie doch«, flüsterte der Mann;»der Schreck, die Angst…«
»Verstehen meinetwegen!«Kern wandte sich um.»Verzeihen ist mir zu anstrengend. Ich vergesse lieber.«
Er blieb stehen. Sie befanden sich auf einer kleinen Lichtung. Die andern hielten ebenfalls an. Kern legte sich ins Gras und schob seinen Koffer unter den Kopf. Die andern flüsterten miteinander. Dann trat die Frau einen Schritt vor.»Anna«, sagte der Mann.
Die Frau stellte sich vor Kern auf.»Wollen Sie uns den Weg zurück nicht zeigen?«fragte sie scharf.
»Nein«, erwiderte Kern.
»Sie! – Sie haben doch Schuld, daß wir erwischt wurden! Sie Lump!«
»Anna!«sagte der Mann.
»Lassen Sie nur«, sagte Kern.»Immer gut, wenn man sich ausspricht.«
»Stehen Sie auf!«schrie die Frau.
»Ich bleibe hier. Sie können tun, was Sie wollen. Geradeaus hinter dem Wald links geht’s zum tschechischen Zoll.«
»Judenlümmel!«schrie die Frau.
Kern lachte.»Das hat noch gefehlt!«
Er sah, wie der blasse Mann auf die maßlose Frau einflüsterte und sie wegdrängte.
»Er geht bestimmt zurück!«schluchzte sie,»ich weiß, er geht zurück und kommt ’rüber. Er soll uns… er hat die Pflicht…»
Der Mann führte die Frau langsam weg, dem Walde zu. Kern griff nach einer Zigarette. Da sah er ein paar Meter vor sich etwas Dunkles auftauchen, wie einen Gnom aus der Erde. Es war der alte Jude, der sich ebenfalls hingelegt hatte. Er richtete sich auf und schüttelte den Kopf.»Diese Gojim!«
Kern erwiderte nichts. Er zündete seine Zigarette an.
»Bleiben wir die Nacht hier?«fragte der Alte nach einer Weile sanft.
»Bis drei. Dann ist die beste Zeit. Jetzt passen sie noch auf. Wenn keiner kommt, werden sie müde.«
»Wer’n wir halt solange warten«, sagte der Alte friedlich.
»Es ist weit, und ein Stück werden wir jetzt wohl kriechen müssen«, erwiderte Kern.
»Macht nix. Wer’ ich halt auf meine alten Tage ’n jiddischer Indianer.«
Sie saßen schweigend. Allmählich kamen Sterne am Himmel durch. Kern erkannte den Großen Bären und den Polarstern.
»Ich muß nach Wien«, sagte der Alte nach einiger Zeit.
»Ich muß eigentlich nirgendwohin«, erwiderte Kern.
»Das gibt’s.«Der Alte kaute an einem Grashalm.»Später muß man dann wieder irgendwohin. So geht das. Man muß nur abwarten.«
»Ja«, sagte Kern.»Das muß man. Aber worauf wartet man?«
»Auf nichts im Grunde«, entgegnete der Alte ruhig.»Wenn es kommt, ist es nichts. Dann wartet man wieder auf was anderes.«
»Ja, vielleicht.«Kern streckte sich wieder aus. Er fühlte den Koffer unter seinem Kopf. Es war gut, ihn zu fühlen.
»Ich bin der Moritz Rosenthal aus Godesberg am Rhein«, sagte der Alte nach einer Weile. Er holte aus einem Rucksack einen dünnen, grauen Havelock hervor und hängte ihn sich um die Schultern. Er sah jetzt noch mehr wie ein Gnom aus.»Manchmal ist es komisch, daß man einen Namen hat, was? Besonders nachts…«
Kern sah in den dunklen Himmel.»Wenn man keinen Paß hat, auch. Namen müssen aufgeschrieben sein, sonst gehören sie einem nicht.«
Der Wind fing sich in den Kronen der Bäume. Es rauschte, als wäre hinter dem Walde ein Meer.»Glauben Sie, daß sie schießen werden drüben?«fragte Moritz Rosenthal.
»Ich weiß nicht. Vielleicht nicht.«
Der Alte wiegte seinen Kopf.»Einen Vorteil hat’s, wenn man über siebzig ist; man riskiert nicht mehr so viel von seinem Leben…«
STEINER HATTE ENDLICH erfahren, wo die Kinder des alten Seligmann versteckt waren. Die Adresse, die in dem hebräischen Gebetbuch gesteckt hatte, war richtig gewesen; aber man hatte die Kinder inzwischen anderswohin gebracht. Es dauerte lange, ehe Steiner herausbekam, wohin… man hielt ihn zunächst überall für einen Spitzel und war mißtrauisch.
Er holte den Koffer aus der Pension und machte sich auf den Weg. Das Haus lag im Osten Wiens. Es dauerte über eine Stunde, bis er ankam. Er stieg die Treppen empor. In jeder Etage waren drei Wohnungstüren. Er zündete Streichhölzer an und suchte. Endlich fand er im vierten Stock ein ovales Messingschild mit der Aufschrift: Samuel Bernstein. Uhrmacher. Er klopfte.
Hinter der Tür hörte er ein Raunen und Huschen. Dann fragte eine vorsichtige Stimme.»Wer ist da?«
»Ich habe etwas abzugeben«, sagte Steiner.»Einen Koffer.«
Er hatte plötzlich das Gefühl, daß er beobachtet wurde, und drehte sich rasch um.
Die Tür zur Wohnung hinter ihm hatte sich lautlos geöffnet. Ein schmächtiger Mensch in Hemdsärmeln stand im Eingang. Steiner stellte den Koffer zu Boden.
»Zu wem wollen Sie?«fragte der Mann in der Tür.
Steiner sah ihn an.»Bernstein ist nicht da«, fügte der Mann hinzu.
»Ich habe hier die Sachen des alten Seligmann«, sagte Steiner.»Seine Kinder sollen hier sein. Ich war dabei, wie er verunglückte.«
Der Mann betrachtete ihn noch einen Augenblick.»Du kannst ihn ruhig ’reinlassen, Moritz«, rief er dann.
Eine Kette rasselte, und ein Schlüssel knirschte. Die Tür zur Wohnung Bernsteins ging auf. Steiner spähte in das trübe Licht.»Was«, sagte er,»das ist doch nicht… aber natürlich, das ist Vater Moritz!«
Moritz Rosenthal stand in der Tür. In der Hand hielt er einen hölzernen Kochlöffel. Um seine Schultern hing der Havelock.»Ich bin’s«, erwiderte er.»Aber wer… Steiner!«sagte er plötzlich herzlich und überrascht.»Ich hätte es mir denken sollen! Wahrhaftig, meine Augen werden schlecht! Ich wußte, daß Sie in Wien sind. Wann haben wir uns das letztemal getroffen?«
»Das ist schon ungefähr ein Jahr her, Vater Moritz.«
»In Prag?«
»In Zürich.«
»Richtig, in Zürich im Gefängnis. Nette Leute dort. Ich werfe das in der letzten Zeit etwas durcheinander. War vor einem halben Jahr erst wieder in der Schweiz. Basel. Vorzügliche Kost dort; leider keine Zigaretten wie im Stadtgefängnis von Locarno. Hatte da sogar einen Busch Kamelien in der Zelle. Tat mir leid, weg zu müssen. Mailand war kein Vergleich dagegen.«Er hielt inne.»Kommen Sie ’rein, Steiner. Wir stehen da wie alte Raubmörder auf dem Korridor und tauschen Erinnerungen aus.«
Steiner trat ein. Die Wohnung bestand aus einer Küche und einer Kammer. Sie enthielt ein paar Stühle, einen Tisch, einen Schrank und zwei Matratzen mit Decken. Auf dem Tisch lag eine Anzahl Werkzeuge herum. Dazwischen standen billige Weckuhren und ein bemaltes Gehäuse mit Barockengeln, die eine alte Uhr hielten, deren Sekundenzeiger ein’ hin und her schwankender Tod mit einer Hippe war. Über dem Herd hing an einem gebogenen Arm eine Küchenlampe mit einem grünlichweißen, zerfledderten Gasbrenner. Auf den eisernen Ringen des Gaskochers stand ein großer Suppentopf und dampfte.