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»Gar nicht«, wiederholte Kern.

Der Lichtschalter knackte, und es wurde wieder dunkel. Kern streckte sich aus. Er konnte lange nicht einschlafen. Sonderbar war das gewesen, vorhin, in dem Zimmer nebenan. Die weiche Brust unter dem dünnen Leinen. Er fühlte es immer noch… als wäre seine Hand anders geworden dadurch.

Später hörte er, wie der Mann, der geschrien hatte, aufstand und sich ans Fenster setzte. Sein gebeugter Kopf hob sich schwarz vor dem heraufdämmernden Grau des Morgens ab – wie das finstere Monument eines Sklaven. Kern betrachtete ihn eine Zeitlang. Dann überfiel ihn der Schlaf.

Josef Steiner kam leicht über die Grenze zurück. Er kannte sie gut und war als alter Soldat das Patrouillegehen gewohnt. Er war Kompanieführer gewesen und hatte bereits 1915 für eine schwierige Patrouille, von der er einen Gefangenen mitgebracht hatte, das Eiserne Kreuz erhalten.

Nach einer Stunde war er außer Gefahr. Er ging zum Bahnhof. Es waren nicht viele Leute im Wagen. Der Schaffner sah ihn an.»Schon zurück?«

»Eine Fahrkarte nach Wien, einfach«, erwiderte Steiner.

»Ging ja rasch«, sagte der Schaffner.

Steiner blickte auf.»Ich kenne das«, fuhr der Schaffner fort.»Jeden Tag kommen ein paar solcher Transporte – da kennt man die Beamten bald. Es ist ein Kreuz. Sie sind in diesem Waggon herausgefahren, das wissen Sie wohl nicht mehr?«

»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden.«

Der Schaffner lachte.»Sie werden es schon wissen. Stellen Sie sich hinten auf die Plattform. Wenn ein Kontrolleur kommt, springen Sie ab. Wahrscheinlich kommt keiner um diese Zeit. Sie sparen so die Fahrkarte.«

»Schön.«

Steiner stand auf und ging nach hinten. Er spürte den Wind und sah die Lichter der kleinen Weindörfer vorüberfliegen. Er atmete tief und genoß den stärksten Rausch, den es gibt: den Rausch der Freiheit. Er fühlte das Blut in seinen Adern und die warme Kraft seiner Muskeln. Er lebte. Er war nicht gefangen; er lebte, er war entkommen.

»Nimm eine Zigarette, Bruder«, sagte er zu dem Schaffner, der nach hinten gekommen war.

»Meinetwegen. Ich darf sie nur jetzt nicht rauchen. Dienst.«

»Aber ich darf meine jetzt rauchen?«

»Ja.«Der Schaffner lachte gutmütig.»Das hast du mir voraus.«

»Ja«, sagte Steiner und zog den würzigen Rauch in die Lungen ein.»Das habe ich dir voraus.«

ER GING ZU der Pension, in der die Polizei ihn erwischt hatte. Die Wirtin saß noch im Büro. Sie fuhr zusammen, als sie Steiner erblickte.»Sie können hier nicht wohnen«, sagte sie rasch.

»Doch!«Steiner legte den Rucksack ab.

»Herr Steiner, es ist unmöglich! Die Polizei kann jeden Tag wiederkommen. Dann schließen sie mir die Pension!«

»Luischen«, sagte Steiner ruhig,»die beste Deckung, die es im Kriege gab, war ein frisches Granatloch. Es kam fast nie vor, daß es gleich darauf noch einmal hineinschoß. Deshalb ist im Moment Ihre Bude eine der sichersten in Wien!«

Die Wirtin faßte verzweifelt in ihr blondes Haar.»Sie sind mein Untergang!«erklärte sie pathetisch.

»Wie schön! Das wollte ich immer schon mal sein! Jemandes Untergang! Sie sind eine romantische Natur, Luischen!«Steiner sah sich um.»Gibt es noch ein bißchen Kaffee? Und einen Schnaps?«

»Kaffee? Und Schnaps?«

»Ja, Luischen! Ich wußte, daß Sie mich verstehen würden. Eine so hübsche Frau! Ist da noch der Sliwowitz im Wandschrank?«

Die Wirtin blickte ihn ratlos an.»Ja, natürlich«, sagte sie dann.

»Genau das Richtige!«Steiner nahm die Flasche und zwei Gläser heraus.»Nehmen Sie auch einen?«

»Ich?«

»Ja, Sie! Wer sonst?«

»Nein.«

»Doch, Luischen! Tun Sie mir den Gefallen. Allein trinken hat was Herzloses. Hier…«Er füllte das Glas und hielt es ihr hin.

Die Wirtin zögerte. Dann nahm sie das Glas.»Gut, meinetwegen! Aber Sie werden nicht hier wohnen, nicht wahr?«

»Nur ein paar Tage«, sagte Steiner beruhigend,»nicht länger als ein paar Tage. Sie bringen mir Glück. Ich habe was vor.«Er lächelte.»Und nun den Kaffee, Luischen!«

»Kaffee? Ich habe keinen Kaffee hier.«

»Doch, Kind. Da drüben steht er ja. Ich wette, daß er gut ist.«

Die Wirtin lachte ärgerlich.»Sie sind schon einer! Ich heiße übrigens nicht Luise. Ich heiße Therese.«

»Therese ist ein Traum!«

Die Wirtin holte ihm den Kaffee.»Da sind noch die Sachen vom alten Seligmann hier«, sagte sie und zeigte auf einen Koffer.»Was soll ich nur mit denen machen?«

»War das der Jude mit dem grauen Bart?«

Die Wirtin nickte.»Er ist tot, das habe ich gehört. Mehr nicht…«

»Das ist auch schon genug für einen einzelnen Menschen. Wissen Sie nicht, wo seine Kinder sind?«

»Wie soll ich das wissen? Darum kann ich mich doch nicht auch noch kümmern! -«

»Das ist wahr.«Steiner zog den Koffer heran und öffnete ihn. Eine Anzahl Garnrollen mit verschiedenfarbenem Zwirn fiel heraus. Darunter lag sauber verpackt ein Paket Schnürriemen. Dann kamen ein Anzug, ein Paar Schuhe, ein hebräisches Buch, etwas Wäsche, ein paar Bogen mit Hornknöpfen, ein kleines Ledersäckchen mit Einschillingstücken, zwei Gebetsriemen und ein weißer Gebetsmantel, in Seidenpapier eingewickelt.

»Nicht viel für ein ganzes Leben, was, Therese?«sagte Steiner.

»Manche haben noch weniger.«

»Auch richtig.«Steiner untersuchte das hebräische Buch und fand zwischen den inneren Umschlagseiten einen Zettel eingeklemmt. Vorsichtig zog er ihn heraus. Er enthielt eine mit Tinte geschriebene Adresse.»Aha! Da werde ich mal nachfragen.«Steiner stand auf.»Danke für den Kaffee und den Sliwowitz, Therese. Ich komme spät heute. Am besten quartieren Sie mich parterre nach dem Hof zu ein. Da kann ich dann rasch hinaus.«

Die Wirtin wollte noch etwas sagen. Aber Steiner hob die Hand.»Nein, nein, Therese! Wenn die Tür nicht offen ist, komme ich mit der gesamten Wiener Polizei. Aber ich bin sicher, sie wird offen sein! Die Heimatlosen beherbergen ist ein Gebot Gottes. Dafür gibt es tausend Jahre größter Glückseligkeit im Himmel. Meinen Rucksack lasse ich schon hier.«

Er ging. Er wußte, daß es zwecklos war, das Gespräch fortzusetzen, und er kannte die merkwürdig eindringliche Wirkung zurückgelassener Sachen auf bürgerliche Menschen. Sein Rucksack würde ein besserer Quartiermeister für ihn sein als alle weiteren Überredungsversuche. Er würde die letzten Widerstände der Wirtin durch sein stummes Vorhandensein besiegen.

STEINER GING ZUM Café Sperler. Er wollte den Russen Tschernikoff treffen. Sie hatten während der Haft verabredet, am ersten und zweiten Tag der Freilassung Steiners nach Mitternacht dort aufeinander zu warten. Die Russen hatten als Staatenlose fünfzehn Jahre Praxis mehr als die Deutschen. Tschernikoff hatte Steiner versprochen, nachzuforschen, ob in Wien falsche Papiere zu kaufen seien.

Steiner setzte sich an einen Tisch. Er wollte etwas zu trinken bestellen; aber kein Kellner kümmerte sich um ihn. Es war nicht üblich, daß man etwas bestellen mußte; die meisten hatten kein Geld dafür.

Das Lokal war die typische Emigrantenbörse. Es war voll von Menschen. Viele saßen auf den Bänken und Stühlen und schliefen; andere lagen auf dem Fußboden, die Rücken gegen die Wand gelehnt. Sie nutzten die Zeit aus, umsonst zu schlafen, bis das Café wieder geöffnet wurde. Es waren meistens Intellektuelle. Sie konnten sich am wenigsten zurechtfinden.

Ein Mann in einem karierten Anzug mit einem Vollmondgesicht setzte sich neben Steiner. Er beobachtete ihn eine Weile mit flinken, schwarzen Augen.»Was zu verkaufen?«fragte er dann.»Schmuck? Auch alten? Ich zahle bar.«

Steiner schüttelte den Kopf.

»Anzüge? Wäsche? Schuhe?«Der Mann blickte ihn dringlich an.»Einen Trauring vielleicht?«

»Schieb ab, du Aasgeier«, knurrte Steiner. Er haßte die Händler, die den ratlosen Emigranten ihre wenigen Sachen für ein paar Groschen abjagen wollten.

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