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Neuntes Kapitel

Von manchem Ritt her kannte Goldmund die Gegend; jenseits des gefrorenen Rieds wußte er eine Scheune des Ritters stehen, weiterhin auch einen Bauernhof, wo man ihn kannte; an einem dieser Orte würde er rasten und nächtigen können. Das Weitere mußte sich morgen finden. Allmählich kam wieder das Gefühl der Freiheit und der Fremde über ihn, dessen er sich eine Zeitlang entwöhnt hatte. Sie schmeckte an diesem eisig mürrischen Wintertag nicht lieblich, die Fremde, sie roch sehr nach Mühsal, nach Hunger und Bedrängnis, und doch klang ihre Weite, ihre Größe und harte Unerbittlichkeit seinem verwöhnten und verwirrten Herzen beruhigend und beinahe tröstlich.

Er lief sich müde. Mit dem Reiten ist's nun vorbei, dachte er. O weite Welt! Es fiel wenig Schnee, in der Ferne liefen Waldrücken und Wolken grau ineinander, unendlich lag die Stille, bis ans Ende der Welt. Was war nun wohl mit Lydia, dem armen ängstlichen Herzen? Bitter tat es ihm leid um sie; zärtlich dachte er an sie, während er, mitten im leeren Ried, unter einer alleinstehenden kahlen Esche saß und rastete. Endlich vertrieb ihn die Kälte, mit steifen Beinen stand er auf, brachte sich langsam in einen zügigen Schritt, schon schien das dürftige Licht des trüben Tages wieder abzunehmen. Während des langen Trabens übers leere Gefild vergingen ihm die Gedanken. Es galt jetzt nicht zu denken oder Gefühle zu hegen, seien sie noch so zärtlich, seien sie noch so schön; es galt sich warm zu halten, es galt beizeiten das Nachtlager zu erreichen, es galt sich wie Marder und Fuchs durch diese kalte, unwirtliche Welt zu bringen und womöglich nicht jetzt schon im freien Feld kaputt zu gehen; alles andere war nicht wichtig.

Verwundert blickte er um sich, als er einen fernen Hufschlag zu hören glaubte. War es möglich, daß man ihn verfolgte? Er griff nach dem kleinen Jagdmesser in seiner Tasche und machte die hölzerne Scheide locker. Nun bekam er den Reiter zu Gesicht und erkannte von weitem ein Pferd aus des Ritters Stall, hartnäckig hielt es auf ihn zu. Fliehen wäre unnütz gewesen, er blieb stehen und wartete, ohne eigentliche Furcht, doch sehr gespannt und neugierig, mit beschleunigtem Herzschlag. Heftig zuckte es ihm einen Augenblick durch den Kopf: »Wenn es mir gelänge, diesen Reiter umzubringen, wie gut ginge es mir da; ich hätte ein Roß, und die Welt gehörte mir!« Aber als er den Reiter erkannte, den jungen Stallknecht Hans, mit seinen hellblauen Wasseraugen und dem guten verlegenen Knabengesicht, mußte er lachen; diesen lieben guten Kerl totzuschlagen, dazu hätte ein Herz von Stein gehört. Freundlich begrüßte er den Hans, und zärtlich begrüßte er auch das Pferd Hannibal, das ihn sofort erkannte, und streichelte ihm den warmen feuchten Hals.

»Wo willst denn du hm, Hans?« fragte er.

»Zu dir«, lachte der Bursche mit blanken Zähnen. »Du bist schon ein braves Stück gelaufen! Also aufhalten darf ich mich nicht, ich soll dich bloß grüßen und dir das übergeben.«

»Von wem denn grüßen?«

»Vom Fräulein Lydia. Na, du hast uns da einen sauren Tag eingebrockt, Magister Goldmund, ich bin froh, daß ich mich ein bißchen verziehen konnte. Obwohl der Herr es nicht merken darf, daß ich fort war und Aufträge hatte, es ginge mir schön an den Kragen. Also nimm!«

Er streckte ihm einen kleinen Packen hin, den Goldmund m Empfang nahm.

»Sag, Hans, hast du etwa ein Stück Brot in der Tasche? Dann gib mir's.«

»Brot? Wird sich schon noch eine Kruste finden.« Er bohrte in seinen Taschen und brachte ein Stück Schwarzbrot heraus. Dann wollte er wieder davonreiten.

»Was macht denn das Fräulein?« fragte Goldmund. »Hat sie dir nichts aufgetragen? Hast du kein Brieflein?«

»Nichts. Ich sah sie bloß einen Augenblick. Schlechtes Wetter im Haus, weißt du; der Herr läuft herum wie König Saul. Also ich soll dir das Zeug da abgeben, weiter nichts. Ich muß zurück.«

»Ja, nur noch einen Augenblick! Du, Hans, könntest du mir nicht dein Jagdmesser abtreten? Ich habe bloß ein kleines. Wenn die Wölfe kommen, und so – es wäre schon besser, wenn ich was Rechtes in der Hand hätte.«

Aber davon wollte Hans nichts wissen. Es sollte ihm leid tun, meinte er, wenn dem Magister Goldmund etwas passieren sollte. Aber sein Stoßmesser, nein, das würde er niemals hergeben, auch nicht für Geld, auch nicht im Tausch, o nein, und wenn die heilige Genoveva selber ihn darum bäte. So, und nun müsse er eilen, und er wünsche gute Zeit, und es täte ihm leid.

Sie schüttelten einander die Hände, der Bub ritt davon; mit sonderbar wehem Herzen blickte Goldmund ihm nach. Dann packte er das Zeug auseinander, froh über den guten Riemen aus Kalbleder, mit dem es verschnürt war. Innen fand er ein gestricktes Unterwams aus starker grauer Wolle, offenbar eine Handarbeit, die Lydia gemacht und ihm zugedacht hatte, und in dem Wollzeug steckte, gut eingewickelt, noch etwas Hartes, das war ein Stück Schinken, und in den Schinken war ein kleiner Schlitz geschnitten, in dem steckte ein blanker goldener Dukaten. Geschriebenes war nicht dabei. Mit Lydias Geschenken in den Händen stand er da im Schnee, unentschlossen, dann zog er die Jacke aus und schlüpfte in das Wollzeug, es gab angenehm warm. Schnell zog er sich wieder an, verbarg das Goldstück in der sichersten Tasche, schnallte den Riemen um und lief weiter querfeldein; es war Zeit, einen Rastort zu erreichen, er war sehr müde geworden. Aber zum Bauern mochte er nicht, obwohl es dort wärmer gewesen und wohl auch Milch zu finden gewesen wäre; er mochte nicht schwatzen und ausgefragt werden. In der Scheune übernachtete er, zog früh bei Frost und scharfem Winde weiter, von der Kälte zu großen Märschen getrieben. Viele Nächte träumte er vom Ritter und seinem Schwert und den zwei Schwestern; viele Tage lang drückte ihm Einsamkeit und Schwermut das Herz.

In einem Dorfe, wo es bei armen Bauern kein Brot, aber eine Hirsesuppe gab, fand er an einem der nächsten Abende Nachtlager. Neue Erlebnisse warteten hier auf ihn. Die Bäuerin, deren Gast er war, kam in der Nacht mit einem Kinde nieder, und Goldmund war dabei anwesend, man hatte ihn aus dem Stroh geholt, damit er helfe, obwohl sich am Ende nichts für ihn zu tun fand, als daß er das Licht hielt, während die Hebamme beschäftigt war. Er sah zum erstenmal eine Geburt und hing mit erstaunten, glühenden Augen am Gesicht der Gebärenden, plötzlich um ein neues Erlebnis reicher geworden. Wenigstens schien das, was er hier im Gesicht der Gebärenden wahrnahm, ihm sehr bemerkenswert. Beim Schein des Kienspans nämlich, während er mit seiner großen Neugierde in das Gesicht der kreißenden Frau starrte, die in ihren Schmerzen lag, fiel ihm etwas Unerwartetes auf: die Linien im verzerrten Gesicht der Schreienden waren wenig verschieden von jenen, die er im Augenblick des Liebesrausches auf anderen Frauengesichtern gesehen hatte! Der Ausdruck großen Schmerzes in einem Gesicht war heftiger zwar und mehr entstellend als der Ausdruck großer Lust – aber er war im Grunde nicht von ihm verschieden, es war dasselbe etwas grinsende Sichzusammenziehen, dasselbe Aufglühen und Erlöschen. Wunderbar, ohne daß er begriff warum, überraschte ihn diese Einsicht, daß Schmerz und Lust einander ähnlich sein konnten wie Geschwister.

Noch etwas anderes erlebte er in diesem Dorfe. Der Nachbarsfrau wegen, deren er arn Morgen nach der Geburtsnacht ansichtig geworden war und welche alsbald auf die Frage seiner verliebten Augen Antwort gab, blieb er eine zweite Nacht im Dorf und machte die Frau sehr glücklich, denn es war nach langer Zeit und nach allen den aufreizenden und wieder enttäuschenden Verliebtheiten dieser letzten Wochen das erstemal, daß sein Trieb wieder Stillung fand. Und diese Verzögerung führte zu einem neuen Erlebnis; sie war schuld, daß er am zweiten Tage in ebenjenem Bauerndorf einen Kameraden antraf, einen langen verwegenen Kerl namens Viktor, der halb wie ein Pfaff und halb wie ein Schnapphahn aussah, der ihn mit lateinischen Brocken begrüßte und sich als fahrenden Schüler zu erkennen gab, obwohl er über die Schülerjahre lang hinaus war.

Dieser spitzbärtige Mann begrüßte Goldmund mit einer gewissen Herzlichkeit und mit einem Landstreicherhumor, mit dem er den jungen Kameraden rasch gewann. Auf dessen Frage, wo er denn Schüler gewesen sei und wohin seine Reise ziele, deklamierte der sonderbare Bruder: »Hohe Schulen hab ich, bei meiner armen Seele, genug besucht, in Köln und Paris bin ich gewesen, und über die Metaphysik der Leberwurst ist selten Gehaltvolleres gesagt worden, als ich es in meiner Dissertation zu Leyden tat. Seither, amice, laufe ich armer Swinehund durchs deutsche Reich, von unermeßlichem Hunger und Durst die liebe Seele gefoltert; ich bin Bauernschreck genannt, und meine Profession ist es, die jungen Weiber im Latein zu unterweisen und die Würste vom Rauchfang in meinen Bauch zu zaubern. Mein Ziel ist das Bett der Bürgermeisterin, und wenn ich nicht vorher von den Krähen gefressen werde, so wird es mir kaum erspart bleiben, mich dem lästigen Beruf eines Erzbischofs widmen zu müssen. Besser, kleiner Kollege, ist's von der Hand in den Mund zu leben als umgekehrt, und schließlich hat noch niemals ein Hasenbraten sich wohler gefühlt als in meinem armen Magen. Der König von Böhmen ist mein Bruder, und unser aller Vater ernähret ihn wie mich, aber das Beste dazu läßt er mich selber tun, und vorgestern wollte er mich, hartherzig wie Väter sind, dazu mißbrauchen, einem halbverhungerten Wolf das Leben zu retten. Hätte ich das Vieh nicht totgeschlagen, Herr Kollege, du wärest nie der Ehre teilhaftig geworden, meine angenehme Bekanntschaft zu machen. In saecula saeculorum, Amen.«

Goldmund, noch wenig mit dem Galgenhumor und dem Vagantenlatein dieser Gattung bekannt, fürchtete sich zwar ein wenig vor dem langen struppigen Flegel und dem wenig angenehmen Gelächter, mit dem er seine eigenen Spaße begleitete, aber etwas an diesem hartgesottenen Landstreicher gefiel ihm doch, und er ließ sich leicht dazu bereden, die Fahrt gemeinsam fortzusetzen, denn mochte das mit dem erschlagenen Wolf nun geflunkert sein oder nicht, auf jeden Fall war man zu zweien stärker und hatte weniger zu fürchten. Aber ehe sie weiterzogen, wollte Bruder Viktor mit den Bauern Latein reden, wie er es nannte, und quartierte sich bei einem Bäuerchen ein. Er machte es nun nicht so, wie Goldmund es bisher auf allen Wanderungen gehalten hatte, wenn er in einem Gehöft oder Dorf zu Gast gewesen war, sondern er strich von Hütte zu Hütte, fing mit jedem Weibe ein Geplauder an, steckte die Nase in jeden Stall und jede Küche und schien nicht gesonnen, den Weiler eher zu verlassen, als bis jedes Haus ihm einen Zoll und Tribut entrichtet hätte. Er erzählte den Bauern vom Krieg in Welschland und sang am Herd das Lied von der Paviaschlacht, er empfahl den Großmüttern Mittel gegen Gliedersucht und Zahnausfall, er schien alles zu wissen und überall gewesen zu sein, er stopfte sich das Hemd überm Gürtel zum Platzen voll mit geschenkten Brotstücken, Nüssen, Birnenschnitzen. Verwundert sah Goldmund ihm zu, wie er unermüdlich seinen Feldzug vollführte, wie er die Leute bald erschreckte, bald durch Schmeicheln gewann, wie er sich aufspielte und bestaunen ließ, wie er bald Latein radebrechte und den Gelehrten spielte, bald durch eine buntscheckig freche Gaunersprache Eindruck machte, wie er mitten im Erzählen oder Gelehrtreden mit scharfen wachsamen Augen jedes Gesicht, jede sich öffnende Tischlade, jede Schüssel und jeden Laib registrierte. Er sah, dies war ein gerissener, mit allen Wassern gewaschener Heimatloser, ein Mann, der viel gesehen und erlebt, viel gehungert und gefroren hatte und im bittern Kampf um ein karges gefährdetes Leben klug und frech geworden war. So also wurden die, die lange Zeit auf Wanderschaft lebten. Würde auch er selbst einmal so werden?

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