Andern Tags konnte Goldmund sich nicht entschließen, in die Werkstatt zu gehen. Wie schon manchen unlustigen Tag trieb er sich in der Stadt herum. Er sah die Frauen und Mägde zu Markte gehen, hielt sich besonders beim Fischmarktbrunnen auf und sah den Fischhändlern und ihren derben Weibern zu, wie sie ihre Ware feilboten und anpriesen, wie sie die kühlen silbernen Fische aus ihren Bottichen rissen und darboten, wie die Fische mit schmerzlich geöffneten Mäulern und angstvoll starren Goldaugen sich still dem Tode ergaben oder sich wütend und verzweifelt gegen ihn wehrten. Wie schon manches Mal ergriff ihn ein Mitleid mit diesen Tieren und ein trauriger Unmut gegen die Menschen; warum waren sie so stumpf und roh und unausdenklich dumm und blöde, warum sahen sie alle nichts, weder die Fischer und Fischweiber noch die feilschenden Käufer, warum sahen sie diese Mäuler, diese zum Tod erschreckten Augen und wild um sich schlagenden Schwänze nicht, nicht diesen grausigen nutzlosen Verzweiflungskampf, nicht diese unerträgliche Verwandlung der geheimnisvollen, wunderbar schönen Tiere, wie ihnen das leise letzte Zittern über die sterbende Haut schauderte und sie dann tot und erloschen lagen, hingestreckt, klägliche Fleischstücke für den Tisch der vergnügten Fresser? Nichts sahen sie, diese Menschen, nichts wußten und merkten sie, nichts sprach zu ihnen! Einerlei, ob da ein armes holdes Tier vor ihren Augen verreckte oder ob ein Meister in einem Heiligengesicht alle Hoffnung, allen Adel, alles Leid und alle dunkle schnürende Angst des Menschenlebens zum Erschauern sichtbar machte – nichts sahen sie, nichts ergriff sie! Alle waren sie vergnügt oder beschäftigt, hatten es wichtig, hatten es eilig, schrien, lachten und rülpsten einander an, machten Lärm, machten Witze, zeterten wegen zwei Pfennigen, und allen war es wohl, sie waren alle in Ordnung und höchlich mit sich und der Welt zufrieden. Schweine waren sie, ach viel schlimmer und wüster als Schweine! Nun ja, er selber war oft genug mitten unter ihnen gewesen, hatte sich froh unter ihresgleichen gefühlt, war den Mädchen nachgetrieben, hatte vom Teller lachend und ohne Grausen gebackene Fische gegessen. Aber immer wieder hatte ihn, oft ganz plötzlich wie durch Zauber, die Freude und Ruhe verlassen, immer wieder war dieser fette feiste Wahn von ihm abgefallen, diese Selbstzufriedenheit, Wichtigkeit und faule Seelenruhe, und es hatte ihn hinweggerissen, in die Einsamkeit und ins Grübeln, auf die Wanderschaft, zur Betrachtung des Leides, des Todes, der Zweifelhaftigkeit alles Treibens, zum Starren in den Abgrund. Manchmal war ihm dann aus der hoffnungslosen Hingabe an den Anblick des Sinnlosen und Furchtbaren plötzlich eine Freude aufgeblüht, eine heftige Verliebtheit, die Lust, ein schönes Lied zu singen oder zu zeichnen, oder im Riechen an einer Blume, im Spielen mit einer Katze war ihm das kindliche Einverstandensein mit dem Leben wieder zurückgekehrt. Auch jetzt würde es wiederkehren, morgen oder übermorgen, und die Welt würde wieder gut und vortrefflich sein. Bis eben das andere wiederkam, die Traurigkeit, das Grübeln, die hoffnungslose beklemmende Liebe zu den sterbenden Fischen, den welkenden Blumen, der Schrecken über das stumpfe säuische Hinleben und Gaffen und Nichtsehen der Menschen. Immer in solchen Zeiten mußte er mit quälender Neugierde, mit tiefer Beklemmung des fahrenden Schülers Viktor denken, dem er damals sein Messer zwischen die Rippen gestoßen hatte und den er voller Blut auf den Tannenzweigen hatte liegenlassen, und er mußte dann darüber sinnen und grübeln, was jetzt eigentlich aus diesem Viktor geworden sei, ob die Tiere ihn ganz und gar gefressen, ob irgend etwas von ihm übriggeblieben sei. Ja, übrig waren wohl die Knochen geblieben und vielleicht ein paar Hände voll Haare. Und die Knochen – was wurde aus denen? Wie lange wohl dauerte es, Jahrzehnte oder bloß Jahre, bis auch sie ihre Form verloren hatten und Erde geworden waren?
Ach, heute, während er mit Mitleid den Fischen und mit Ekel den Marktleuten zusah, das Herz voll ängstlicher Schwermut und bitterer Feindseligkeit gegen die Welt und gegen sich selber, mußte er an Viktor denken. Vielleicht war er gefunden und begraben worden? Und wenn das geschehen war – war dann jetzt schon alles Fleisch von seinen Knochen gefallen, war alles verfault, hatten alles die Würmer gefressen? Waren noch Haare auf seinem Schädel und Brauen über seinen Augenhöhlen? Und von Viktors Leben, das doch von Abenteuern und Geschichten und vom phantastischen Spiel seiner wunderlichen Spaße und Schnurren erfüllt gewesen war – was war davon übriggeblieben? Lebte außer den paar losen Erinnerungen, die sein Mörder an ihn bewahrte, noch irgend etwas von diesem Menschendasein fort, das doch keines von den ganz gewöhnlichen gewesen war? Gab es noch einen Viktor in den Träumen der Frauen, die er einst geliebt hatte? Ach, es war wohl alles dahin und zerronnen. Und so erging es allen und allem, es blühte schnell und welkte schnell hinweg, nachher fiel der Schnee drüber. Was hatte alles in ihm selbst geblüht, als er vor einigen Jahren in diese Stadt gekommen war, voll Begierde nach der Kunst, voll banger tiefer Verehrung für den Meister Niklaus! War etwas davon am Leben geblieben? Nichts, nichts mehr als von der langen Schnapphahngestalt des armen Viktor. Hätte jemand ihm damals gesagt, es werde ein Tag kommen, da würde Niklaus ihn als seinesgleichen anerkennen und bei der Zunft für ihn den Meisterbrief verlangen, er hätte geglaubt, alles Glück der Welt in Händen zu halten. Und jetzt war es nichts als eine abgeblühte Blume, etwas Dürres und Freudloses.
Als er dies dachte, hatte Goldmund plötzlich ein Gesicht. Es war nur ein Augenblick, ein zuckendes Aufblitzen: er sah das Gesicht der Urmutter, über den Abgrund des Lebens geneigt, mit einem verlorenen Lächeln schön und grausig blicken, sah es lächeln zu den Geburten, zu den Toden, zu den Blumen, zu den raschelnden Herbstblättern, lächeln zur Kunst, lächeln zur Verwesung.
Alles galt ihr gleich, der Urmutter, über allem hing wie Mond ihr unheimliches Lächeln, ihr war der schwermütig sinnende Goldmund so lieb wie der auf dem Pflaster des Fischmarktes sterbende Karpfen, die stolze kühle Jungfer Lisbeth so lieb wie die im Wald verstreuten Knochen jenes Viktor, der ihm einst so gern seinen Dukaten gestohlen hätte.
Schon war der Blitz wieder erloschen, das geheimnisvolle Muttergesicht verschwunden. Aber tief zuckte sein fahles Leuchten in Goldmunds Seele fort, eine Woge von Leben, von Schmerz, von würgender Sehnsucht lief aufwühlend durch sein Herz. Nein, nein, er wollte das Glück und die Sattheit der andern nicht, der Fischkäufer, der Bürger, der geschäftigen Leute. Mochte der Teufel sie holen. Ah, dieses aufzuckende bleiche Gesicht, dieser volle reife spätsommerliche Mund, über dessen schwere Lippen dies namenlose Todeslächeln wie Wind und Mondschein hingelaufen war!
Goldmund ging zum Hause des Meisters, es war gegen Mittag, er wartete, bis er hörte, daß Niklaus drinnen seine Arbeit verließ und die Hände wusch. Da trat er zu ihm herein.
»Lasset mich ein paar Worte zu Euch sagen, Meister, es kann geschehen, während Ihr Eure Hände waschet und den Rock anzieht. Ich verdurste nach einem Mundvoll Wahrheit, ich möchte Euch etwas sagen, was ich vielleicht gerade jetzt sagen kann und dann nicht wieder. Es steht so mit mir, daß ich mit einem Menschen sprechen muß, und Ihr seid der einzige, der es vielleicht verstehen kann. Ich spreche nicht zu dem Mann, der eine berühmte Werkstatt hat und der von Städten und Klöstern alle die ehrenvollen Aufträge empfängt und zwei Gehilfen und ein schönes reiches Haus hat. Ich spreche zu dem Meister, der die Mutter Gottes im Kloster draußen gemacht hat, das schönste Bild, das ich kenne. Diesen Mann habe ich geliebt und verehrt, seinesgleichen zu werden schien mir das höchste Ziel auf Erden. Ich habe jetzt eine Figur gemacht, den Johannes, und konnte ihn nicht so vollkommen machen, wie Eure Mutter Gottes ist; aber er ist nun eben so, wie er ist. Eine andere Figur habe ich nicht zu machen, es ist keine vorhanden, die mich verlangt und sie zu machen zwingt. Vielmehr, es ist eine vorhanden, ein fernes heiliges Bild, das ich einmal werde machen müssen, das ich aber heute noch nicht machen kann. Um es machen zu können, muß ich noch viel mehr erfahren und erleben. Vielleicht kann ich es in drei, vier Jahren machen, oder in zehn Jahren oder später, oder auch niemals. Bis dahin aber, Meister, will ich nicht Handwerk treiben und Figuren lackieren und Kanzeln schnitzen und ein Handwerkerleben in der Werkstatt führen und Geld verdienen und so werden, wie alle Handwerker sind, nein, das will ich nicht, sondern ich will leben und wandern, Sommer und Winter spüren, die Welt ansehen und ihre Schönheit und ihr Grauen kosten. Ich will Hunger und Durst erleiden und will das alles wieder vergessen und loswerden, was ich hier bei Euch gelebt und gelernt habe. Ich möchte wohl einmal etwas so Schönes und tief ans Herz Rührendes machen, wie Eure Mutter Gottes ist – aber so werden wie Ihr und so leben, wie Ihr lebet, das will ich nicht.«
Der Meister hatte seine Hände gewaschen und getrocknet, jetzt wendete er sich um und sah Goldmund an. Sein Gesicht war streng, aber nicht böse.
»Du hast gesprochen«, sagte er, »und ich habe gehört. Laß es nun gut sein. Ich erwarte dich nicht zur Arbeit, obwohl viel zu tun ist. Ich betrachte dich nicht als Gehilfen, du brauchst Freiheit. Ich möchte dies und jenes mit dir besprechen, lieber Goldmund; nicht jetzt, in einigen Tagen, du magst dir indessen die Zeit nach Belieben vertreiben. Sieh, ich bin viel älter als du und habe dies und jenes erfahren. Ich denke anders als du, aber ich verstehe dich und das, was du meinst. In ein paar Tagen werde ich dich rufen lassen. Wir werden über deine Zukunft sprechen, ich habe allerlei Pläne. Bis dahin habe Geduld! Ich weiß gut genug, wie es ist, wenn man ein Werk fertiggebracht hat, das einem am Herzen lag, ich kenne diese Leere. Sie geht vorüber, glaube mir.«
Unbefriedigt lief Goldmund weg. Der Meister meinte es gut mit ihm, aber was konnte er ihm helfen?
Am Fluß kannte er eine Stelle, dort war das Wasser nicht tief und strömte über einen Grund voll Gerumpel und Abfall, aus den Häusern der Fischervorstadt wurde dort allerlei Kehricht in den Fluß geworfen. Dahin ging er, setzte sich auf die Ufermauer und blickte ins Wasser hinab. Wasser liebte er sehr, jedes Wasser zog ihn an. Und wenn man von hier aus durch das strömende, kristallfädige Wasser hinabschaute auf den dunklen undeutlichen Grund, dann sah man hier und dort irgend etwas mit gedämpftem Goldglanz aufblinken und verlockend glitzern, unerkennbare Dinge, vielleicht eine alte Tellerscherbe oder eine weggeworfene verbogene Sichel oder einen lichten glatten Stein oder glasierten Ziegel, manchmal auch mochte es ein Schlammfisch sein, eine feiste Trüsche oder ein Rotauge, das sich da unten umdrehte und einen Augenblick auf den hellen Bauchflossen und Schuppen einen Lichtstrahl auffing – niemals konnte man genau erkennen, was es eigentlich sei, immer aber war es zauberhaft schön und verlockend, dies kurze gedämpfte Aufblinken versunkener Goldschätze im nassen schwarzen Grunde. So wie dies kleine Wassergeheimnis, schien ihm, waren alle echten Geheimnisse, alle wirklichen, echten Bilder der Seele: sie hatten keinen Umriß, sie hatten keine Form, sie ließen sie nur wie eine ferne schöne Möglichkeit ahnen, sie waren verschleiert und vieldeutig. Wie da in der Dämmerung der grünen Flußtiefe für zuckende Augenblicke etwas unsäglich Goldenes oder Silbernes herblinkte, ein Nichts und doch voll seligster Versprechungen, ebenso konnte das verlorene Profil eines Menschen, halb von hinten gesehen, manchmal etwas unendlich Schönes oder unerhört Trauriges ankündigen, oder auch: wie unter einem nächtlichen Lastwagen eine Laterne hing und die sich drehenden riesigen Schatten der Radspeichen an die Mauern malte, konnte dies Schattenspiel eine Minute lang so voll von Anblicken, Geschehnissen und Geschichten sein wie der ganze Vergil. Aus demselben unwirklichen, magischen Stoff waren nachts die Träume gewoben, ein Nichts, das alle Bilder der Welt in sich enthielt, ein Wasser, in dessen Kristall die Formen aller Menschen, Tiere, Engel und Dämonen als allzeit wache Möglichkeiten wohnten.