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Vierzehntes Kapitel

Noch eh der Sommer ganz verblüht war, fand das Hüttenleben sein Ende, anders als sie gedacht hatten. Es kam ein Tag, da trieb sich Goldmund lange mit einer Vogelschleuder in der Gegend herum in der Hoffnung, etwa ein Rebhuhn oder sonst ein Wild zu erwischen, die Nahrung war ziemlich karg geworden. Lene war in der Nähe und sammelte Beeren, manchmal strich er an ihrem Revier vorüber und sah überm Gesträuch ihren Kopf auf dem braunen Hals aus dem Leinenhemd ragen oder hörte sie singen; einmal naschte er ein paar Beeren bei ihr, dann streifte er weiter und sah sie eine Weile nicht mehr. Er dachte an sie, halb zärtlich, halb ärgerlich, sie hatte wieder einmal vom Herbst und von der Zukunft gesprochen, und daß sie schwanger zu sein glaube, und daß sie ihn nicht fortlasse. Nun geht es bald zu Ende, dachte er, bald wird es genug sein, dann wandere ich allein und lasse auch Robert zurück, ich will sehen, daß ich bis gegen den Winter wieder in die große Stadt zu Meister Niklaus komme, dann bleibe ich den Winter dort, und im nächsten Frühling kauf ich mir neue gute Schuhe und ziehe los und schlage mich durch, bis ich in unser Kloster nach Mariabronn komme und Narziß begrüßen kann, es werden wohl zehn Jahre sein, daß ich ihn nicht gesehen habe. Ich muß ihn wiedersehen, sei es auch nur für einen Tag oder zwei.

Ein unvertrauter Laut weckte ihn aus seinen Gedanken, und plötzlich ward ihm bewußt, wie er mit allen Gedanken und Wünschen schon weit fort und nicht mehr hier gewesen war. Er horchte scharf, jener bange Laut wiederholte sich, er glaubte Lenes Stimme zu erkennen und folgte ihr, obwohl es ihm nicht gefiel, daß sie ihm rufe. Bald war er nah genug – ja, das war Lenes Stimme, und sie schrie wie in großer Not seinen Namen. Er lief rascher, noch immer etwas geärgert, bei ihren wiederholten Schreien aber nahmen Mitleid und Besorgnis in ihm überhand. Als er sie endlich sehen konnte, saß oder kniete sie in der Heide, mit ganz zerrissenem Hemde, und rang schreiend mit einem Mann, der sie vergewaltigen wollte. In langen Sprüngen kam Goldmund heran, und was an Ärger, Unruhe und Trauer in ihm gewesen, entlud sich m einer rasenden Wut gegen den fremden Attentäter. Er überraschte ihn, wie er Lene vollends zu Boden drücken wollte, ihre nackte Brust blutete, gierig hielt der Fremde sie umklammert. Goldmund warf sich auf ihn und preßte ihm mit wütenden Händen die Kehle zusammen, die sich hager und sehnig anfühlte und mit wolligem Bart bewachsen war. Mit Wonne drückte Goldmund zu, bis der andere das Mädchen losließ und ihm erschlafft in den Händen hing; weiter würgend schleifte er den Kraftlosen und halb Entseelten ein Stück am Boden fort bis zu einigen grauen Felsrippen, die da nackt aus der Erde standen. Hier hob er den Besiegten, so schwer er war, zweimal, dreimal hoch und ließ seinen Kopf auf die kantigen Felsen schlagen. Mit gebrochenem Genick warf er den Körper weg, sein Zorn war noch nicht gesättigt, er hätte ihn noch weiter mißhandeln mögen.

Strahlend sah Lene zu. Ihre Brust blutete, und sie zitterte noch am ganzen Leibe und schnappte nach Luft, aber sie hatte sich alsbald aufgerafft und sah mit einem entrückten Blick voll Wollust und Bewunderung zu, wie ihr starker Geliebter den Eindringling dahinschleppte, wie er ihn würgte, wie er ihm das Genick brach und seinen Leichnam von sich schmiß. Wie eine totgeschlagene Schlange lag der Tote da, schlaff und verrenkt, sein graues Gesicht mit wüstem Bart und dünnen ärmlichen Haaren hing ihm jämmerlich hintenüber. Jubelnd richtete Lene sich auf und fiel Goldmund ans Herz, doch erbleichte sie plötzlich, der Schrecken lag ihr noch in den Gliedern, es wurde ihr übel, und sie sank erschöpft ins Blaubeerenkraut. Bald aber konnte sie mit Goldmund zur Hütte gehen. Goldmund wusch ihr die Brust, sie war zerkratzt, und die eine Brust hatte eine Bißwunde von den Zähnen des Unholds. Robert regte sich sehr über das Abenteuer auf, hitzig fragte er nach den Einzelheiten des Kampfes.

»Das Genick gebrochen, sagst du? Großartig! Goldmund, man muß dich fürchten.«

Aber Goldmund mochte nicht weiter davon reden, er war jetzt kühl geworden, und im Weggehen von dem Toten hatte er an den armen Schnapphahn Viktor denken müssen, und daß es nun der zweite Mensch sei, der von seiner Hand gestorben war. Um Robert loszuwerden, sagte er: »Nun könntest aber auch du etwas tun. Geh hinüber und schau, daß du die Leiche wegbringst. Wenn es zu schwer geht, ein Loch für sie zu machen, dann muß er in den Schilfsee hinübergetragen oder gut mit Steinen und Erde bedeckt werden.« Aber dies Ansinnen wurde abgelehnt, mit Leichen wollte Robert nichts zu tun haben, man wisse ja bei keiner, ob nicht das Pestgift in ihr stecke.

Lene hatte sich in der Hütte niedergelegt. Der Biß in der Brust schmerzte, doch fühlte sie sich bald besser, stand wieder auf, fachte Feuer an und kochte die Abendmilch; sie war sehr gut gelaunt, wurde aber früh zu Bett geschickt. Sie gehorchte wie ein Lamm, so sehr bewunderte sie Goldmund. Dieser war schweigsam und finster; Robert kannte das und ließ ihn in Ruhe. Als Goldmund spät seine Streu aufsuchte, bückte er sich horchend zu Lene hinab. Sie schlief. Er fühlte sich unruhig, dachte an Viktor, fühlte Bangigkeit und Wandertrieb; er spürte, daß es zu Ende sei mit dem Heimatspielen. Eines aber machte ihn besonders nachdenklich. Er hatte den Blick aufgefangen, mit dem Lene ihn ansah, als er den toten Kerl geschüttelt und weggeworfen hatte. Ein merkwürdiger Blick war das gewesen, er wußte, daß er ihn nie vergessen würde: aus aufgerissenen, entsetzten und entzückten Augen hatte da ein Stolz, ein Triumph gestrahlt, eine tiefe leidenschaftliche Mitlust am Rächen und Töten, wie er sie in einem Frauengesicht nie gesehen und nie geahnt hatte. Wäre dieser Blick nicht gewesen, dachte er, so würde er vielleicht Lenes Gesicht später einmal, mit den Jahren, vergessen haben. Dieser Blick hatte ihr Bauernmädchengesicht groß, schön und schrecklich gemacht. Seit Monaten hatten seine Augen nichts erlebt, das ihn mit dem Wunsch durchzuckte: »Das müßte man zeichnen!« Bei jenem Blick hatte er, mit einer Art von Schrecken, diesen Wunsch wieder zucken gefühlt.

Da er nicht schlafen konnte, stand er schließlich auf und ging aus der Hütte. Es war kühl, ein wenig Wind spielte in den Birken. Im Dunkeln ging er auf und ab, setzte sich dann auf einen Stein, saß und versank in Gedanken und in tiefe Traurigkeit. Es tat ihm leid um Viktor, es tat ihm leid um den, den er heut erschlagen hatte, es tat ihm leid um die verlorene Unschuld und Kindheit seiner Seele. War er darum aus dem Kloster fortgegangen, hatte Narziß verlassen, hatte den Meister Niklaus beleidigt und auf die schöne Lisbeth verzichtet – um nun da in einer Heide zu lagern, verlaufenem Vieh aufzulauern, und um dort in den Steinen diesen armen Kerl totzuschlagen? Hatte das alles Sinn, war es wert, gelebt zu werden? Eng wurde ihm das Herz vor Unsinn und Selbstverachtung. Er ließ sich zurücksinken, lag auf den Rücken gestreckt und starrte in das bleiche Nachtgewölk, im langen Starren vergingen ihm die Gedanken; er wußte nicht, blickte er ins Gewölk des Himmels oder in die trübe Welt seines eigenen Innern. Plötzlich, im Augenblick, da er auf dem Stein entschlief, erschien hinzuckend wie ein Wetterleuchten im treibenden Gewölk bleich ein großes Gesicht, das Eva-Gesicht, es blickte schwer und verhangen, plötzlich aber riß es die Augen weit auf, große Augen voll Wollust und voll Mordlust. Goldmund schlief, bis der Tau ihn näßte.

Andern Tags war Lene krank. Man ließ sie liegen, es gab viel zu tun: Robert hatte am Morgen zwei Schafe im Wäldchen angetroffen, die alsbald vor ihm davonflohen. Er holte Goldmund, sie jagten mehr als den halben Tag und fingen eins der Schafe ein; sie waren sehr müde, als sie gegen Abend mit dem Tier zurückkamen. Lene fühlte sich sehr schlecht. Goldmund beschaute und befühlte sie, und fand Pestbeulen. Er verheimlichte es, aber Robert schöpfte Verdacht, als er hörte, Lene sei noch krank, und blieb nicht in der Hütte. Er werde sich draußen eine Schlafstelle suchen, sagte er, und die Ziege nehme er auch mit, auch sie könnte angesteckt werden.

»So schere dich zum Teufel«, schrie Goldmund ihn wütend an, »ich begehre dich nicht wiederzusehen.« Die Ziege packte er und nahm sie zu sich hinter die Ginsterwand. Lautlos verlor sich Robert, ohne Ziege, ihm war übel vor Angst, Angst vor der Pest, Angst vor Goldmund, Angst vor der Einsamkeit und Nacht. Er legte sich nahe der Hütte nieder.

Goldmund sagte zu Lene: »Ich bleibe bei dir, mach dir keine Sorgen. Du wirst schon wieder gesund werden.«

Sie schüttelte den Kopf.

»Nimm dich in acht, Lieber, daß du nicht auch die Krankheit kriegst, du darfst nicht mehr so nahe zu mir herkommen. Gib dir keine Mühe, mich zu trösten. Ich muß sterben, und es ist mir lieber zu sterben, als daß ich eines Tages sehen muß, daß dein Lager leer ist und du mich verlassen hast. Jeden Morgen habe ich daran gedacht und mich gefürchtet. Nein, ich sterbe lieber.«

Am Morgen stand es schon schlecht mit ihr. Goldmund hatte ihr von Zeit zu Zeit einen Schluck Wasser gegeben, hatte zwischenein eine Stunde geschlafen. Jetzt beim Hellwerden erkannte er in ihrem Gesicht deutlich den nahen Tod, es war schon so welk und mürbe. Er trat für einen Augenblick aus der Hütte, um Luft zu schöpfen und nach dem Himmel zu sehen. Ein paar krumme rote Kiefernstämme am Waldrand leuchteten schon sonnig, frisch und süß schmeckte die Luft, die fernen Hügel waren noch unsichtbar im Morgengewölk. Er ging eine kleine Strecke weit, reckte die müden Glieder und holte tief Atem. Schön war die Welt an diesem traurigen Morgen. Nun würde bald die Wanderschaft wieder beginnen. Es galt Abschied zu nehmen.

Vom Walde her rief Robert ihn an. Ob es besser gehe? Wenn es nicht die Pest sei, bleibe er da, Goldmund möge ihm doch nicht böse sein, er habe inzwischen das Schaf gehütet. »Geh zur Hölle samt deinem Schaf!« rief Goldmund ihm zu, »Lene liegt im Sterben, und auch ich bin angesteckt.«

Das letzte war gelogen; er sagte es, um den andern loszuwerden. Mochte dieser Robert ein gutherziger Kerl sein, Goldmund hatte genug von ihm, er war ihm zu feig und zu klein, er paßte ihm allzu schlecht in diese Zeit voll Schicksal und Erschütterung. Robert verlor sich und kam nicht wieder. Hell kam die Sonne herauf.

Als er wieder zu Lene kam, lag sie schlafend. Auch er schlief nochmals ein, im Traum sah er sein einstiges Pferd Bleß und den schönen Klosterkastanienbaum; ihm war zumute, als blicke er aus unendlicher Ferne und Öde auf eine verlorene holde Heimat zurück, und als er erwachte, liefen ihm Tränen über die blondbärtigen Wangen. Mit schwacher Stimme hörte er Lene sprechen; er glaubte, sie rufe ihm, und stemmte sich auf seinem Lager hoch, aber sie sprach zu niemand, sie lallte nur Worte vor sich hin, Koseworte, Schimpfworte, lachte ein wenig, begann alsdann schwer zu seufzen und zu schlucken und wurde allmählich wieder still. Goldmund stand auf, beugte sich über ihr schon entstelltes Gesicht, mit bitterer Neugierde folgte sein Auge den Linien, die sich unterm sengenden Hauch des Todes so elend verbogen und verwirrten. Liebe Lene, rief sein Herz, liebes gutes Kind, willst auch du mich schon verlassen? Hast du schon genug von mir?

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