Bisher hatte Goldmund von seiner Mutter wohl einiges gewußt, aber nur aus den Erzählungen anderer; ihr Bild hatte er nicht mehr besessen, und von dem wenigen, was er über sie zu wissen glaubte, hatte er Narziß das meiste verschwiegen. Die Mutter war etwas, wovon man nicht sprechen durfte, man schämte sich ihrer. Eine Tänzerin war sie gewesen, ein schönes wildes Weib von vornehmer, aber unguter und heidnischer Herkunft; Goldmunds Vater hatte sie, so erzählte er, aus Armut und Schande aufgelesen; er hatte sie, da er nicht wußte, ob sie nicht Heidin sei, taufen und in der Religion unterweisen lassen; er hatte sie geheiratet und zu einer angesehenen Frau gemacht. Sie aber, nach einigen Jahren der Zahmheit und des geordneten Lebens, hatte sich ihrer alten Künste und Übungen wieder erinnert, hatte Ärgernis erregt und Männer verführt, war Tage und Wochen von Hause weggeblieben, war in den Ruf einer Hexe gekommen und schließlich, nachdem ihr Mann sie mehrmals wieder eingeholt und zu sich genommen hatte, für immer verschwunden. Ihr Ruf war noch eine Weile vernehmbar geblieben, ein böser Ruf, flackernd wie ein Kometenschweif, und war dann erloschen. Ihr Mann erholte sich langsam von den Jahren der Unruhe, des Schreckens, der Schande und der ewigen Überraschungen, die sie ihm bereitet hatte; an Stelle des mißratenen Weibes erzog er nun sein Söhnlein, das der Mutter an Gestalt und Gesicht sehr ähnlich war; der Mann war vergrämt und frömmlerisch geworden und züchtete in Goldmund den Glauben, er müsse sein Leben Gott darbringen, um die Sünden der Mutter zu sühnen.
Dies etwa war es, was Goldmunds Vater über sein verlorengegangenes Weib zu erzählen pflegte, obwohl er nicht gerne darauf zu sprechen kam, und Andeutungen davon hatte er bei Goldmunds Einlieferung auch dem Abte gemacht; und dies alles war, als schreckliche Sage, auch dem Sohne bekannt, obwohl er gelernt hatte, es beiseitezuschieben und beinahe zu vergessen. Ganz und gar vergessen und verloren aber hatte er das wirkliche Bild der Mutter, jenes andere, ganz andere Bild, das nicht aus den Erzählungen des Vaters und der Dienstboten und aus dunklen wilden Gerüchten bestand. Seine eigene, wirkliche, erlebte Erinnerung an die Mutter hatte er vergessen. Und nun war dieses Bild, der Stern seiner frühesten Jahre, wieder aufgestiegen.
»Es ist unbegreiflich, wie ich das hatte vergessen können«, sagte er zu seinem Freunde. »Nie in meinem Leben habe ich jemand so geliebt wie meine Mutter, so unbedingt und glühend, nie habe ich jemand so verehrt, so bewundert, sie war Sonne und Mond für mich. Weiß Gott, wie es möglich war, dies strahlende Bild in meiner Seele zu verdunkeln und allmählich diese böse, bleiche, gestaltlose Hexe aus ihr zu machen, die sie für den Vater und für mich seit vielen Jahren war.«
Narziß hatte vor kurzem sein Noviziat beendet und war eingekleidet worden. Merkwürdig hatte sein Verhalten zu Goldmund sich verändert. Goldmund nämlich, der des Freundes Winke und Mahnungen früher oft als lästiges Besserwissen und Besserwollen abgelehnt hatte, war seit dem großen Erlebnis voll staunender Bewunderung für die Weisheit seines Freundes. Wie viele von dessen Worten hatten sich wie Prophezeiungen erfüllt, wie tief hatte dieser Unheimliche in ihn hineingesehen, wie genau hatte er sein Lebensgeheimnis, seine verborgene Wunde erraten, wie klug hatte er ihn geheilt!
Denn geheilt schien der Jüngling zu sein. Nicht nur war jene Ohnmacht ohne üble Folgen geblieben; es war auch jenes gewisse Spielerische, Altkluge, Unechte in Goldmunds Wesen wie weggeschmolzen, jenes etwas frühreife Mönchtum, jenes zu ganz besonderem Gottesdienste Sichverpflichtetglauben. Der Jüngling schien zugleich jünger und älter geworden, seit er zu sich selbst gefunden hatte. All das verdankte er Narziß.
Narziß aber verhielt sich zu seinem Freunde seit einer Weile eigentümlich vorsichtig; sehr bescheiden, gar nicht mehr überlegen und belehrend sah er ihn an, während jener ihn so sehr bewunderte. Er sah Goldmund aus geheimen Quellen her mit Kräften gespeist, die ihm selbst fremd waren; er hatte ihr Wachstum fördern können, hatte aber keinen Anteil an ihnen. Mit Freude sah er den Freund sich von seiner Führerschaft befreien und war doch zuweilen traurig. Er empfand sich als überschrittene Stufe, als weggeworfene Schale; er sah das Ende dieser Freundschaft nahe, die ihm so viel gewesen war. Noch immer wußte er mehr über Goldmund als dieser selbst; denn wohl hatte Goldmund seine Seele wiedergefunden und war bereit, ihrem Ruf zu folgen, wohin sie ihn aber führen werde, ahnte er noch nicht. Narziß ahnte es und war machtlos; seines Lieblings Weg führte in Länder, die er selbst nie betreten würde.
Goldmunds Begierde nach den Wissenschaften war sehr viel geringer geworden. Auch seine Disputierlust in den Freundesgesprächen war vergangen, beschämt erinnerte er sich an manche ihrer einstigen Unterhaltungen. Inzwischen war bei Narziß in jüngster Zeit, sei es mit der Vollendung seines Noviziats oder infolge der Erlebnisse mit Goldmund, ein Bedürfnis nach Zurückgezogenheit, Askese und geistlichen Übungen erwacht, eine Neigung zu Fasten und langen Gebeten, häufigen Beichten, freiwilligen Bußübungen, und diese Neigung vermochte Goldmund zu verstehen, ja beinahe zu teilen. Seit seiner Genesung war sein Instinkt sehr geschärft; wußte er auch noch nicht das geringste über seine künftigen Ziele, so spürte er doch mit starker und oft beängstigender Deutlichkeit, daß sein Schicksal sich vorbereite, daß eine gewisse Schönzeit der Unschuld und Ruhe nun vorüber und alles in ihm gespannt und bereit sei. Oft war die Ahnung beseligend, hielt ihn halbe Nächte wach wie eine süße Verliebtheit; oft auch war sie dunkel und tief beklemmend. Die Mutter war wieder zu ihm gekommen, die lang Verlorene; das war ein hohes Glück. Aber wohin führte ihr lockender Ruf? Ins Ungewisse, in Verstrickung, in Not, vielleicht in den Tod. Ins Stille, Sanfte, Gesicherte, in Mönchszelle und lebenslängliche Klostergemeinschaft führte sie nicht, ihr Ruf hatte nichts gemein mit jenen väterlichen Geboten, die er so lange mit seinen eigenen Wünschen verwechselt hatte. Aus diesem Gefühl, das oft stark, bang und brennend war wie ein heftiges Körpergefühl, nährte sich Goldmunds Frömmigkeit. Im Wiederholen langer Gebete an die heilige Mutter Gottes ließ er den Überschwall des Gefühls, das ihn zur eigenen Mutter zog, von sich strömen. Häufig aber endeten seine Gebete doch wieder in jenen merkwürdigen, herrlichen Träumen, die er jetzt so oft erlebte: Träumen bei Tage, bei halbwachen Sinnen, Träumen von ihr, an denen alle Sinne teilhatten. Da umduftete ihn die Mutterwelt, blickte dunkel aus rätselhaften Liebesaugen, rauschte tief wie Meer und Paradies, lallte kosend sinnlose, vielmehr mit Sinn überfüllte Koselaute, schmeckte nach Süßem und nach Salzigem, streifte mit seidigem Haar über dürstende Lippen und Augen. Nicht nur alles Holde war in der Mutter, nicht nur süßer blauer Liebesblick, holdes glückverheißendes Lächeln, kosende Tröstung; in ihr war, irgendwo unter anmutigen Hüllen, auch alles Furchtbare und Dunkle, alle Gier, alle Angst, alle Sünde, aller Jammer, alle Geburt, alles Sterbenmüssen.
Tief sank der Jüngling in diese Träume, in diese vielfädigen Gespinste beseelter Sinne. In ihnen stand nicht nur geliebte Vergangenheit wieder bezaubernd auf: Kindheit und Mutterliebe, strahlend goldener Lebensmorgen; es schwang in ihnen auch drohende, versprechende, lockende und gefährliche Zukunft. Zuweilen erschienen diese Träume, in denen Mutter, Madonna und Geliebte eins waren, ihm nachher wie entsetzliche Verbrechen und Gotteslästerungen, wie niemals mehr zu sühnende Todsünden; zu andern Malen fand er in ihnen alle Erlösung, alle Harmonie. Voll von Geheimnissen starrte das Leben ihn an, eine finstere unergründliche Welt, ein starrer stachliger Wald voll märchenhafter Gefahren – aber es waren Geheimnisse der Mutter, sie kamen von ihr, sie führten zu ihr, sie waren der kleine dunkle Kreis, der kleine drohende Abgrund in ihrem lichten Auge.
Viel vergessene Kindheit kam in diesen Mutterträumen herauf, aus unendlichen Tiefen und Verlorenheiten blühten viele kleine Erinnerungsblumen, blickten goldig, dufteten ahnungsvoll, Erinnerungen an Gefühle der Kindheit, vielleicht an Erlebnisse, vielleicht an Träume. Von Fischen träumte er zuweilen, die schwammen schwarz und silbern auf ihn zu, kühl und glatt, schwammen in ihn hinein, durch ihn hindurch, kamen wie Boten mit holden Glücksnachrichten aus einer schöneren Wirklichkeit, schwanden schwänzelnd und schattenhaft, waren dahin, hatten statt Botschaft neue Geheimnisse gebracht. Oft träumte er schwimmende Fische und fliegende Vögel, und jeder Fisch oder Vogel war sein Geschöpf, war von ihm abhängig und lenkbar wie sein Atemzug, strahlte wie ein Blick, wie ein Gedanke von ihm aus, kehrte in ihn zurück. Von einem Garten träumte er oft, einem Zaubergarten mit märchenhaften Bäumen, übergroßen Blumen, tiefen blaudunklen Höhlen; zwischen den Gräsern blickten funkelnde Augen unbekannter Tiere, an den Ästen glitten glatte sehnige Schlangen; an Reben und Gesträuchen hingen groß und feuchtglänzend riesige Beeren, die schwollen beim Pflücken in seiner Hand und vergossen warmen Saft wie Blut oder hatten Augen und bewegten sie schmachtend und listig; er lehnte sich tastend an einen Baum, griff nach einem Ast und sah und fühlte zwischen Stamm und Ast ein Gekräusel wirrer dichter Haare nisten wie das Haar in der Höhle einer Achsel. Einmal träumte er von sich selber oder von seinem Namensheiligen, träumte von Goldmund, Chrysostomus, der hatte einen Mund aus Gold und sprach mit dem goldenen Munde Worte, und die Worte waren kleine schwärmende Vögel, in flatternden Scharen flogen sie davon.
Einmal träumte er: er war groß und erwachsen, saß aber wie ein Kind am Boden, hatte Lehm vor sich und knetete wie ein Kind aus dem Lehm Figuren: ein Pferdchen, einen Stier, einen kleinen Mann, eine kleine Frau. Das Kneten machte ihm Spaß, und er machte den Tieren und Männern lächerlich große Geschlechtsteile, im Traume kam ihm das sehr witzig vor. Dann wurde er des Spiels müde und ging weiter, da fühlte er hinter sich etwas leben, etwas Lautloses, Großes sich nähern, und sah zurück, und sah mit tiefem Erstaunen und mit großem Schrecken, der aber nicht ohne Freude war, seine kleinen Lehmfiguren groß und lebendig geworden. Gewaltig groß, stumme Riesen, marschierten die Figuren an ihm vorbei, noch immer wachsend, riesig und schweigend zogen sie weiter, in die Welt hinein, hoch wie Türme.
In dieser Traumwelt lebte er mehr als in der wirklichen. Die wirkliche Welt: Schulsaal, Klosterhof, Bibliothek, Schlafsaal und Kapelle, war nur Oberfläche, nur eine dünne zitternde Haut über der traumgefüllten, überwirklichen Bilderwelt. Ein Nichts war genug, um in diese dünne Haut ein Loch zu stoßen: etwas Ahnungsvolles im Klang eines griechischen Wortes mitten in der nüchternen Lektion, eine Welle Duft aus der Kräutertasche des botanisierenden Pater Anselm, der Blick auf eine steinerne Blattranke, die oben aus der Säule eines Fensterbogens quoll – solche kleine Anreize genügten schon, um die Haut der Wirklichkeit zu durchstoßen und hinter der friedlich dürren Wirklichkeit die tosenden Abgründe, Ströme und Milchstraßen jener Seelenbilderwelt zu entfesseln. Ein lateinisches Initial wurde zum duftenden Gesicht der Mutter, ein langgezogener Ton im Ave zum Paradiestor, ein griechischer Buchstabe zum rennenden Pferd, zur bäumenden Schlange, still wälzte sie sich unter Blumen davon, und schon stand an ihrer Stelle wieder die starre Seite der Grammatik.