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Selten sprach er davon, nur wenige Male gab er Narziß eine Andeutung von dieser Traumwelt.

»Ich glaube«, sagte er einmal, »daß ein Blumenblatt oder ein kleiner Wurm auf dem Wege viel mehr sagt und enthält als alle Bücher der ganzen Bibliothek. Mit Buchstaben und mit Worten kann man nichts sagen. Manchmal schreibe ich irgendeinen griechischen Buchstaben, ein Theta oder Omega, und indem ich die Feder ein klein wenig drehe, schwänzelt der Buchstabe und ist ein Fisch und erinnert in einer Sekunde an alle Bäche und Ströme der Welt, an alles Kühle und Feuchte, an den Ozean Homers und an das Wasser, auf dem Petrus wandelte, oder der Buchstabe wird ein Vogel, stellt den Schwanz, sträubt die Feder, bläst sich auf, lacht, fliegt davon. – Nun, Narziß, du hältst wohl nicht viel von solchen Buchstaben? Aber ich sage dir: mit ihnen schrieb Gott die Welt.«

»Ich halte viel von ihnen«, sagte Narziß traurig. »Es sind Zauberbuchstaben, man kann alle Dämonen mit ihnen beschwören. Nur freilich zum Betreiben der Wissenschaften sind sie ungeeignet. Der Geist liebt das Feste, Gestaltete, er will sich auf seine Zeichen verlassen können, er liebt das Seiende, nicht das Werdende, das Wirkliche und nicht das Mögliche. Er duldet nicht, daß ein Omega eine Schlange oder ein Vogel werde. In der Natur kann der Geist nicht leben, nur gegen sie, nur als ihr Gegenspiel. Glaubst du mir jetzt, Goldmund, daß du nie ein Gelehrter sein wirst?«

O ja, Goldmund glaubte es längst, er war damit einverstanden.

»Ich bin gar nicht mehr in das Streben nach eurem Geist verbissen«, sagte er, halb lachend. »Es geht mir mit dem Geist und mit der Gelehrsamkeit ähnlich, wie es mir mit meinem Vater gegangen ist: ich glaubte ihn sehr zu lieben und ihm ähnlich zu sein, ich schwor auf alles, was er sagte. Aber kaum war meine Mutter wieder da, so wußte ich erst wieder, was Liebe ist, und neben ihrem Bild war das des Vaters plötzlich klein und unfroh und beinah widerwärtig geworden. Und jetzt neige ich dazu, alles Geistige als väterlich, als unmütterlich und mutterfeindlich anzusehen und es ein wenig gering zu achten.«

Er sprach scherzend, doch gelang es ihm nicht, seines Freundes trauriges Gesicht heiter zu machen. Narziß sah ihn schweigend an, sein Blick war wie eine Liebkosung! Dann sagte er: »Ich verstehe dich wohl. Wir brauchen jetzt nicht mehr zu streiten; du bist erwacht, und du hast ja jetzt auch den Unterschied zwischen dir und mir erkannt, den Unterschied zwischen mütterlichen und väterlichen Herkünften, zwischen Seele und Geist. Und nun wirst du ja wohl bald auch das noch erkennen, daß dein Leben im Kloster und dein Streben nach einem mönchischen Leben ein Irrtum war, eine Erfindung deines Vaters, der damit das Andenken deiner Mutter entsündigen oder auch nur sich an ihr rächen wollte. Oder glaubst du noch immer, daß es deine Bestimmung sei, dein ganzes Leben im Kloster zu bleiben?«

Nachdenklich betrachtete Goldmund seines Freundes Hände, diese vornehmen, ebenso strengen wie zarten, mageren und weißen Hände. Niemand konnte bezweifeln, daß dies Asketen- und Gelehrtenhände seien.

»Ich weiß nicht«, sagte er mit der singenden, etwas zögernden, lang auf jedem Laut verweilenden Stimme, die er seit einiger Zeit bekommen hatte. »Ich weiß es wirklich nicht. Du urteilst etwas hart über meinen Vater. Er hat es nicht leicht gehabt. Aber vielleicht hast du auch hierin recht. Ich bin seit mehr als drei Jahren hier in der Klosterschule, und er hat mich noch nie besucht. Er hofft, daß ich für immer hierbleiben werde. Vielleicht wäre es das beste, ich habe es ja auch selber immer gewünscht. Aber heut weiß ich nicht mehr, was ich eigentlich will und wünsche. Früher war alles einfach, so einfach wie die Buchstaben im Lesebuch. Jetzt ist nichts mehr einfach, nicht einmal mehr die Buchstaben. Alles hat viele Bedeutungen und Gesichter bekommen. Ich weiß nicht, was aus mir werden soll, ich kann jetzt nicht an solche Sachen denken.«

»Das sollst du auch nicht«, meinte Narziß. »Es wird sich schon zeigen, wohin dein Weg führt. Er hat begonnen, dich zu deiner Mutter zurückzuführen und wird dich ihr noch näherbringen. Was aber deinen Vater betrifft, so urteile ich über ihn nicht zu hart. Würdest du denn zu ihm zurückkehren wollen?«

»Nein, Narziß, gewiß nicht. Sonst würde ich es tun, sobald ich mit der Schule fertig bin, oder schon jetzt. Denn da ich doch kein Gelehrter werde, habe ich eigentlich Latein, Griechisch und Mathematik genug gelernt. Nein, ich will nicht zum Vater zurück …«

Nachdenklich sah er vor sich hin, und plötzlich rief er: »Aber wie machst du das nur, daß du mir immer wieder Worte sagst oder Fragen stellst, die in mich hineinleuchten und mich mir selbst klarmachen? Auch jetzt wieder war es nur deine Frage, ob ich denn zu meinem Vater würde zurückkehren wollen, die mir plötzlich gezeigt hat, daß ich es nicht will. Wie machst du das? Du scheinst alles zu wissen. Du hast mir manche Worte über dich und mich gesagt, die ich im Augenblick des Hörens gar nicht recht begriff und die mir nachher so wichtig geworden sind! Du warst es, der meine Herkunft eine mütterliche nannte, und du hast entdeckt, daß ich unter einem Bann stand und meine Kindheit vergessen hatte! Woher kennst du die Menschen so gut? Kann ich das nicht auch lernen?«

Narziß schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nein, mein Lieber, du kannst es nicht. Es gibt Menschen, die viel lernen können, aber du gehörst nicht zu ihnen. Du wirst nie ein Lerner sein. Wozu denn auch? Du hast das nicht nötig. Du hast andere Gaben. Du hast mehr Gaben als ich, du bist reicher als ich und bist auch schwächer, du wirst einen schöneren und schwereren Weg haben als ich. Manchmal wolltest du mich nicht verstehen, oft hast du dich gesträubt wie ein Füllen, es war nicht immer leicht, und oft habe ich dir auch weh tun müssen. Ich mußte dich erwecken, du schliefst ja. Auch daß ich dich an deine Mutter erinnerte, hat zuerst weh getan, sehr weh, man fand dich wie einen Toten im Kreuzgang liegen. Es mußte sein. – Nein, streichle mein Haar nicht! Nein, laß es! Ich kann es nich leiden.«

»Und lernen kann ich also nichts? Ich werde immer dum und ein Kind bleiben?«

»Es werden andere da sein, von denen du lernst. Was du von mir lernen konntest, du Kind, damit sind wir zu Ende.

»O nein«, rief Goldmund, »dazu sind wir nicht Freunde geworden! Was wäre das für eine Freundschaft, die nach einer kurzen Strecke ihr Ziel erreicht hat und einfach aufhören kann! Hast du denn genug von mir? Bin ich dir denn entleidet?«

Narziß ging heftig auf und ab, die Blicke am Boden, dann blieb er vor dem Freunde stehen.

»Laß gut sein«, sagte er sanft, »du weißt wohl, daß du mir nicht entleidet bist.«

Zweifelnd betrachtete er den Freund, nahm alsdann seine Wanderung wieder auf, hin und her, blieb nochmals stehen und sah Goldmund an, mit festem Blick aus dem harten und hageren Gesicht. Mit leiser Stimme, aber fest und hart, sagte er: »Hör zu, Goldmund! Unsere Freundschaft ist gut gewesen; sie hat ein Ziel gehabt und hat es erreicht, sie hat dich wach gemacht. Ich hoffe, sie sei nicht zu Ende; ich hoffe, sie werde sich nochmals und immer wieder erneuern und zu neuen Zielen führen. Für den Augenblick ist kein Ziel da. Das deine ist ungewiß, ich kann dich da weder führen noch begleiten. Frage deine Mutter, frage ihr Bild, höre auf sie! Mein Ziel aber liegt nicht im Ungewissen, es liegt hier, im Kloster, es fordert mich zu jeder Stunde. Ich darf dein Freund sein, aber ich darf nicht verliebt sein. Ich bin Mönch, ich habe das Gelübde getan. Ich werde, ehe ich die Weihen erhalte, mich vom Lehramt beurlauben lassen und viele Wochen mich zu Fasten und Exerzitien zurückziehen. Ich werde in dieser Zeit nichts Weltliches sprechen, auch mit dir nicht.«

Goldmund verstand. Traurig sagte er: »Du wirst nun also das tun, was auch ich getan hätte, wenn ich für immer in den Orden getreten wäre. Und wenn deine Übungen absolviert sind, wenn du genug gefastet und gebetet und gewacht hast – wohin wirst du dann zielen?«

»Du weißt es«, sagte Narziß.

»Nun ja. Du wirst in einigen Jahren erster Lehrer sein, vielleicht auch schon Schulvorsteher. Du wirst den Unterricht verbessern, wirst die Bibliothek vergrößern. Vielleicht wirst du selbst Bücher verfassen. Nicht? Nun, also nicht. Aber wo wird das Ziel sein?«

Narziß lächelte schwach. »Das Ziel? Vielleicht werde ich als Schulvorsteher sterben oder als Abt oder Bischof. Einerlei. Das Ziel ist dies: mich immer dahin zu stellen, wo ich am besten dienen kann, wo meine Art, meine Eigenschaften und Gaben den besten Boden, das größte Wirkungsfeld finden. Es gibt kein anderes Ziel.«

Goldmund: »Kein anderes Ziel für einen Mönch?«

Narziß: »O ja, Ziele genug. Es kann für einen Mönch Lebensziel sein, Hebräisch zu lernen, den Aristoteles zu kommentieren oder die Klosterkirche auszuschmücken oder sich einzuschließen und zu meditieren oder hundert andere Dinge zu tun. Für mich sind das keine Ziele. Ich will weder den Reichtum des Klosters vermehren noch den Orden reformieren oder die Kirche. Ich will innerhalb des mir Möglichen dem Geist dienen, so wie ich ihn verstehe, nichts anderes. Ist das kein Ziel?«

Lange überlegte sich Goldmund die Antwort. »Du hast recht«, sagte er. »Habe ich dich auf dem Weg zu deinem Ziel sehr gehindert?«

»Gehindert? O Goldmund, niemand hat mich mehr gefördert als du. Du hast mir Schwierigkeiten gemacht, aber ich bin kein Feind von Schwierigkeiten. Ich habe an ihnen gelernt, ich habe sie zum Teil überwunden.«

Goldmund unterbrach ihn, halb scherzend sagte er: »Wunderbar hast du sie überwunden! Aber sage doch: wenn du mir geholfen, mich geführt und befreit und meine Seele gesund gemacht hast – hast du denn damit wirklich dem Geist gedient? Du hast damit wahrscheinlich dem Kloster einen eifrigen und gutgewillten Novizen entzogen und hast dem Geist vielleicht einen Gegner erzogen, einen, der gerade das Gegenteil von dem tun und glauben und anstreben wird, was du für gut hältst!«

»Warum nicht?« sagte Narziß mit tiefem Ernst. »Mein Freund, du kennst mich noch immer so wenig! Ich habe in dir wahrscheinlich einen künftigen Mönch verdorben und habe dafür in dir einen Weg freigemacht für ein nicht gewöhnliches Schicksal. Auch wenn du morgen unser ganzes hübsches Kloster niederbrennen würdest oder irgendeine tolle Irrlehre in der Welt verkündigen, ich würde keinen Augenblick bereuen, dir auf den Weg dazu geholfen zu haben.«

Freundlich legte er dem Freunde beide Hände auf die Schultern.

»Sieh, kleiner Goldmund, zu meinem Ziel gehört auch dies: mag ich Lehrer oder Abt, Beichtvater oder was immer sein, niemals möchte ich in die Lage kommen, einem starken, wertvollen und besonderen Menschen zu begegnen und ihn nicht zu verstehen, ihn nicht erschließen, ihn nicht fördern zu können. Und ich sage dir: mag aus dir und aus mir dies oder jenes werden, mag es uns so oder anders gehen, nie wirst du im Augenblick, wo du mich ernstlich rufst und zu brauchen meinst, mich dir verschlossen finden. Niemals.«

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