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Dreizehntes Kapitel

In den ersten Zeiten seiner neuen Wanderschaft, im ersten gierigen Taumel der wiedergewonnenen Freiheit, mußte Goldmund erst wieder lernen, das heimatlose und zeitlose Leben der Fahrenden zu leben. Keinem Menschen gehorsam, abhängig nur von Wetter und Jahreszeit, kein Ziel vor sich, kein Dach über sich, nichts besitzend und allen Zufällen offen, führen die Heimatlosen ihr kindliches und tapferes, ihr ärmliches und starkes Leben. Sie sind die Söhne Adams, des aus dem Paradies Vertriebenen, und sind die Brüder der Tiere, der unschuldigen. Aus der Hand des Himmels nehmen sie Stunde um Stunde, was ihnen gegeben wird: Sonne, Regen, Nebel, Schnee, Wärme und Kälte, Wohlsein und Not, es gibt für sie keine Zeit, keine Geschichte, kein Streben und nicht jenen seltsamen Götzen der Entwicklung und des Fortschritts, an den die Hausbesitzer so verzweifelt glauben. Ein Vagabund kann zart oder roh sein, kunstfertig oder tölpisch, tapfer oder ängstlich, immer aber ist er im Herzen ein Kind, immer lebt er am ersten Tage, vor Anfang aller Weltgeschichte, immer wird sein Leben von wenigen einfachen Trieben und Nöten geleitet. Er kann klug sein oder dumm; er kann tief in sich wissend sein, wie gebrechlich und vergänglich alles Leben ist und wie arm und angstvoll alles Lebendige sein bißchen warmes Blut durch das Eis der Welträume trägt, oder er kann bloß kindisch und gierig den Befehlen seines armen Magens folgen – immer ist er der Gegenspieler und Todfeind des Besitzenden und Seßhaften, der ihn haßt, verachtet und fürchtet, denn er will nicht an all das erinnert werden: nicht an die Flüchtigkeit alles Seins, an das beständige Hinwelken alles Lebens, an den unerbittlichen eisigen Tod, der rund um uns das Weltall erfüllt.

Die Kindlichkeit des Vagantenlebens, seine mütterliche Herkunft, seine Abkehr von Gesetz und Geist, seine Preisgegebenheit und heimliche immerwährende Todesnähe hatten längst Goldmunds Seele tief ergriffen und geprägt. Daß dennoch Geist und Wille in ihm wohnte, daß er dennoch ein Künstler war, machte sein Leben reich und schwierig. Jedes Leben wird ja erst durch Spaltung und Widerspruch reich und blühend. Was wäre Vernunft und Nüchternheit ohne das Wissen vom Rausch, was wäre Sinnenlust, wenn nicht der Tod hinter ihr stünde, und was wäre Liebe ohne die ewige Todfeindschaft der Geschlechter? Sommer und Herbst sanken hinab, mühsam brachte sich Goldmund durch die kargen Monate, berauscht durchwanderte er den süßen duftenden Frühling, die Jahreszeiten liefen so eilig hinweg, so schnell sank immer wieder die hohe Sommersonne hinab. Es ging Jahr um Jahr, und es schien, als habe Goldmund vergessen, daß es anderes auf Erden gebe als Hunger und Liebe und diese stille unheimliche Eile der Jahreszeiten; es schien, als sei er ganz in der mütterlichen, triebhaften Urwelt versunken. In jedem Traum aber und bei jeder sinnenden Rast mit dem Blick über die blühenden und welkenden Täler war er voll Schauen, war Künstler, litt an quälender Sehnsucht, den holden dahintreibenden Unsinn des Lebens durch Geist zu beschwören und in Sinn zu verwandeln.

Einst traf er, der seit dem blutigen Abenteuer mit Viktor nie mehr anders als allein gewandert war, auf einen Kameraden, der sich unmerklich ihm anschloß und den er eine ganze Weile nicht loswurde. Doch war er nicht von der Art Viktors, sondern es war ein Rompilger, ein noch junger Mann in Kutte und Pilgerhut, der Robert hieß und am Bodensee zu Hause war. Dieser Mensch, ein Handwerkersohn und eine Weile bei den Mönchen des heiligen Gallus zur Schule gegangen, hatte sich schon als Knabe eine Wallfahrt nach Rom in den Kopf gesetzt und sich immer diesem Lieblingsgedanken hingegeben und die erste Gelegenheit, ihn auszuführen, ergriffen. Diese war der Tod seines Vaters, in dessen Werkstatt er als Schreiner gearbeitet hatte. Kaum war der Alte begraben, da erklärte Robert seiner Mutter und Schwester, daß nichts ihn zurückhalten könne, sofort zur Stillung seines Dranges, und um für seine und seines Vaters Sünden zu büßen, die Pilgerfahrt nach Rom anzutreten. Vergebens klagten die Frauen, vergebens schalten sie ihn aus, er blieb eigensinnig und trat, statt für die beiden Weiber zu sorgen, ohne den Segen der Mutter und unter den zornigen Schimpfreden seiner Schwester die Reise an. Was ihn trieb, war vor allem Wanderlust, mit ihr verband sich eine Art von oberflächlicher Frömmigkeit, das heißt eine Neigung zum Verweilen in der Nähe kirchlicher Stätten und geistlicher Verrichtungen, eine Freude an Gottesdienst, Taufe, Begräbnis, Messe, Weihrauch und Kerzenflammen. Er konnte ein wenig Latein, aber nicht Gelehrsamkeit war es, wonach seine kindliche Seele strebte, sondern Beschaulichkeit und stille Schwärmerei im Schatten der Kirchengewölbe. Er war als Knabe mit Leidenschaft dem Dienst als Meßbub hingegeben gewesen. Goldmund nahm ihn nicht sehr ernst und mochte ihn doch gern, ein wenig fühlte er sich ihm verwandt in dem triebhaften Hingegebensein an Wanderung und Fremde. Robert war also damals zufrieden losgewandert und auch bis nach Rom gekommen, hatte die Gastfreundschaft unzähliger Klöster und Pfarreien in Anspruch genommen, sich Gebirg und Süden betrachtet und sich in Rom zwischen allen den Kirchen und frommen Veranstaltungen sehr wohl gefühlt, Hunderte von Messen gehört und an den berühmtesten und heiligsten Örtern Andacht verrichtet und die Sakramente genossen und mehr Weihrauch eingeatmet, als für seine kleinen Jugendsünden und für die seines Vaters vonnöten war. Ein Jahr und länger war er ausgeblieben, und als er schließlich wiederkam und wieder ins väterliche Häuschen trat, empfing man ihn nicht wie den verlorenen Sohn, sondern die Schwester hatte sich inzwischen der häuslichen Pflichten und Rechte bemächtigt, hatte einen fleißigen Schreinergesellen eingestellt und geheiratet und regierte Haus und Werkstatt so vollkommen, daß der Heimgekehrte sich nach kurzem Aufenthalt dort als entbehrlich erkannte und von niemand zum Bleiben ermahnt wurde, als er bald wieder von Fortgehen und Reisen sprach. Er nahm es nicht schwer, ließ sich von der Mutter einige Spargroschen geben, schmückte sich wieder mit der Pilgertracht und trat eine neue Wallfahrt an, ohne Ziel, quer durchs Reich, ein halbgeistlicher Landfahrer. Kupferne Erinnerungsmünzen an bekannte Wallfahrtsorte und geweihte Rosenkränze klirrten an ihm herab.

So traf er auf Goldmund, wanderte einen Tag mit ihm, tauschte Landfahrererinnerungen mit ihm, verlor sich im nächsten Städtchen, traf da und dort wieder auf ihn und blieb schließlich ganz bei ihm, ein verträglicher und dienstwilliger Reisegefährte. Goldmund gefiel ihm sehr, er warb mit kleinen Dienstleistungen um ihn, bewunderte sein Wissen, seine Kühnheit, seinen Geist und liebte seine Gesundheit, Kraft und Aufrichtigkeit. Sie gewöhnten sich aneinander, denn auch Goldmund war verträglich. Nur eines vertrug er nicht: wenn er von seiner Traurigkeit oder Grübelei befallen war, dann schwieg er hartnäckig und sah am andern vorbei, als wäre er nicht vorhanden, und dann durfte man weder schwatzen noch fragen noch trösten und mußte ihn gewähren und schweigen lassen. Dies hatte Robert bald gelernt. Seit er gemerkt hatte, daß Goldmund eine Menge lateinischer Verse und Lieder auswendig wußte, seit er ihn vor dem Portal eines Domes die steinernen Gestalten hatte erklären hören, seit er ihn an eine leere Mauer, an der sie rasteten, mit Rötel in schnellen großen Strichen lebensgroße Figuren hatte hinzeichnen sehen, hielt er seinen Kameraden für einen Liebling Gottes und beinahe für einen Zauberer. Daß er auch ein Liebling der Frauen war und manche mit einem Blick und Lächeln sich zu eigen machte, sah Robert ebenfalls; es gefiel ihm weniger, aber bewundern mußte er es doch.

Ihre Fahrt wurde einst auf unerwartete Weise unterbrochen. Eines Tages kamen sie in die Nähe eines Dorfes, da empfing sie ein Häufchen Bauern, mit Knütteln, Stangen und Dreschflegeln bewaffnet, und der Anführer schrie ihnen von weitem zu, sie sollten alsbald umkehren und sich auf Nimmerwiedersehen davonmachen, dem Teufel zu, sonst würden sie totgeschlagen. Während Goldmund stehenblieb und zu wissen begehrte, was denn los sei, traf ihn schon ein Steinwurf an die Brust. Robert, nach dem er sich umblickte, war davongerannt wie besessen. Drohend rückten die Bauern vor, und es blieb Goldmund nichts übrig, als dem Fliehenden langsamer zu folgen. Zitternd erwartete ihn Robert unter einem Kreuz mit einem Heiland daran, das mitten im Felde stand.

»Heldenmäßig bist du gelaufen«, lachte Goldmund. »Aber was haben denn diese Mistfinken in ihren Dickköpfen? Ist denn Krieg? Stellen bewaffnete Wachen vor ihr Nest und wollen niemand hereinlassen! Nimmt mich wunder, was dahintersteckt.«

Sie wußten es beide nicht. Erst am folgenden Morgen machten sie in einem alleinstehenden Bauernhof gewisse Erfahrungen und begannen das Geheimnis zu erraten. Dieser Hof, aus Hütte, Stall und Scheune bestehend und von einer grünen Hofstatt mit hohem Gras und vielen Obstbäumen umgeben, lag merkwürdig still und verschlafen: keine Menschenstimme, kein Tritt, kein Kindergeschrei, kein Sensendengeln, nichts war zu hören; in der Hofstatt stand eine Kuh im Gras und brüllte, und man sah ihr an, daß es Zeit war, sie zu melken. Sie traten vors Haus, klopften an die Tür, bekamen keine Antwort, gingen zum Stall, der stand offen und leer, gingen zur Scheune, auf deren Strohdach das lichtgrüne Moos in der Sonne gleißte, fanden auch da keine Seele. Sie kehrten zum Hause zurück, verwundert und betreten über die Verödung dieser Heimstatt, sie schlugen nochmals mit Fäusten gegen die Tür, wieder kam keine Antwort. Goldmund versuchte zu öffnen und fand zu seinem Erstaunen die Türe unverschlossen, er drückte sie nach innen und trat in die finstere Stube. »Grüß Gott«, rief er laut, und »Niemand daheim?« aber es blieb alles still. Robert war vor der Tür geblieben. Neugierig drang Goldmund vor. Es roch schlecht in der Hütte, es roch sonderbar und widerlich. Die Feuerstelle war voll Asche, er blies hinein, auf dem Grunde glommen noch Funken in verkohlten Scheiten. Da sah er in der Dämmerung im Hintergrund des Herdplatzes jemand sitzen; jemand saß da in einem Sessel und schlief, es schien eine alte Frau zu sein. Rufen half nichts, das Haus schien verzaubert. Freundlich tippte er der sitzenden Frau auf die Schulter, sie bewegte sich nicht, und jetzt sah er, daß sie mitten in einem Spinnennetze saß, dessen Fäden zum Teil an ihrem Haar und ihren Knien befestigt waren. »Die ist tot«, dachte er mit einem leichten Grausen, und um sich zu überzeugen, machte er sich am Feuer zu schaffen, schürte und blies, bis er Flamme hatte und einen langen Span entzünden könnte. Mit dem leuchtete er der Sitzenden ins Gesicht. Er sah unter grauem Haar ein blauschwarzes Leichengesicht, das eine Auge stand offen und blinkte leer und bleiern. Das Weib war hier gestorben, im Stuhl sitzend. Nun ja, man konnte ihr nicht helfen.

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