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Siebentes Kapitel

Während es über den Feldern kühl wurde und von Stunde zu Stunde der Mond höher rückte, ruhten die Liebenden auf ihrem sanft beschienenen Lager, in ihre Spiele verloren, gemeinsam entschlummernd und schlafend, im Erwachen sich neu zueinander wendend und einander entzündend, aufs neue ineinander verstrickt, aufs neue entschlafend. Nach der letzten Umarmung lagen sie erschöpft, Lise hatte sich tief ins Heu gepreßt und atmete schmerzlich, Goldmund lag auf dem Rücken, regungslos, und starrte lang in den bleichen Mondhimmel; in beiden stieg die große Traurigkeit empor, der sie in den Schlaf entflohen. Sie schliefen tief und verzweifelt, schliefen gierig, als sei es zum letztenmal, als seien sie zu ewigem Wachsein verurteilt und müßten in diesen Stunden vorher noch allen Schlaf der Welt in sich eintrinken.

Beim Erwachen sah Goldmund Lise mit ihren schwarzen Haaren beschäftigt. Er sah ihr eine Weile zu, zerstreut und erst halb wach geworden.

»Du bist schon wach?« sagte er schließlich. Sie wandte sich mit einem Ruck ihm zu, wie erschrocken.

»Ich muß jetzt fortgehen«, sagte sie, etwas bedrückt und verlegen. »Ich wollte dich nicht wecken.«

»Nun bin ich ja wach. Müssen wir denn schon weiter? Wir! sind doch heimatlos.«

»Ich, ja«, sagte Lise. »Du gehörst doch ins Kloster.«

»Ich gehöre nicht mehr ins Kloster, ich bin wie du, ich bin ganz allein und habe kein Ziel. Ich werde mit dir gehen, natürlich.«

Sie blickte zur Seite. »Goldmund, du kannst nicht mit mir kommen. Ich muß jetzt zu meinem Mann; er wird mich schlagen, weil ich die Nacht ausgeblieben bin. Ich sage, ich hätte mich verlaufen. Aber natürlich glaubt er es nicht.«

In diesem Augenblick erinnerte sich Goldmund, daß Narziß ihm dies vorausgesagt habe. Also so stand es nun. Er stand auf und gab ihr die Hand.

»Ich habe mich verrechnet«, sagte er, »ich hatte geglaubt, wir beide würden beisammen bleiben. – Aber hast du mich wirklich schlafen lassen wollen und ohne Abschied fortlaufen?«

»Ach, ich dachte, du würdest böse werden und mich vielleicht schlagen. Daß mein Mann mich schlägt, nun ja, das ist so, es ist in Ordnung. Aber ich wollte nicht auch noch von dir Schläge bekommen.«

Er hielt ihre Hand fest.

»Lise«, sagteer, »ich schlage dich nicht, heute nicht und niemals. Willst du nicht lieber mit mir gehen statt mit deinem Mann, wenn er dich doch prügelt?«

Sie zog heftig, um ihre Hand loszubekommen.

»Nein, nein, nein«, rief sie, mit einer weinerlichen Stimme. Und weil er wohl fühlte, daß ihr Herz von ihm fortstrebe, und daß sie lieber von dem andern Schläge wolle als von ihm gute Worte, ließ er die Hand los, und jetzt fing sie an zu weinen. Aber zugleich lief sie. Die Hände vor die nassen Augen haltend, lief sie davon. Er sagte nichts mehr und sah ihr nach. Sie tat ihm leid, wie sie da über die gemähten Wiesen fortstrebte, von irgendeiner Macht gerufen und gezogen, einer unbekannten Macht, über welche er sich Gedanken machen mußte. Sie tat ihm leid, und auch er selbst tat sich ein wenig leid; er hatte da kein Glück gehabt, schien es, allein und etwas dumm saß er da, verlassen, sitzengeblieben. Indessen war er noch immer müde und schlaflüstern, noch nie war er so erschöpft gewesen. Es war später noch Zeit, unglücklich zu sein. Schon schlief er wieder und kam erst wieder zu sich, als ihm die schon hochgestiegene Sonne heiß machte.

Jetzt war er ausgeruht; rasch erhob er sich, lief zum Bach, wusch sich und trank. Viele Erinnerungen kamen ihm jetzt, aus den Liebesstunden dieser Nacht dufteten wie fremde Blumen viele Bilder, viele holde zärtliche Empfindungen herauf. Ihnen sann er nach, während er rüstig zu wandern begann, fühlte alles nochmals, schmeckte, roch und tastete alles noch einmal und noch einmal. Wieviel Träume hatte ihm das fremde braune Weib erfüllt, wieviel Knospen zum Blühen gebracht, wieviel Neugierde und Sehnsucht gestillt und wieviel neue erweckt!

Und vor ihm lag Feld und Heide, lag vertrocknetes Brachfeld und dunkler Wald, dahinter mochten Höfe liegen und Mühlen, ein Dorf, eine Stadt. Zum erstenmal lag die Welt offen vor ihm, offen und wartend, bereit, ihn aufzunehmen, ihm wohlzutun und wehzutun. Er war kein Schüler mehr, der die Welt durchs Fenster sieht, seine Wanderung war kein Spaziergang mehr, dessen Ende unweigerlich die Rückkehr war. Diese große Welt war jetzt wirklich geworden, er war ein Teil von ihr, in ihr ruhte sein Schicksal, ihr Himmel war der seine, ihr Wetter das seine. Klein war er in dieser großen Welt, klein lief er wie ein Hase, wie ein Käfer durch ihre blau und grüne Unendlichkeit. Da rief keine Glocke zum Aufstehen, zum Kirchgang, zur Lektion, zum Mittagstisch.

O wie hungrig er war! Ein halber Laib Gerstenbrot, eine Schüssel Milch, eine Mehlsuppe – was waren das für zauberhafte Erinnerungen! Wie ein Wolf war sein Magen erwacht. An einem Kornfeld kam er vorüber, die Ähren waren halbreif, er enthülste sie mit Fingern und Zähnen, mahlte die kleinen glitschigen Körner mit Gier, holte immer neue, stopfte sich die Taschen mit Ähren voll. Und dann fand er Haselnüsse, noch sehr grüne, und biß mit Lust in die krachenden Schalen; auch von ihnen nahm er Vorrat mit.

Nun begann wieder Wald, Fichtenwald mit Eichen und Eschen dazwischen, und hier gab es Heidelbeeren in unendlicher Menge, da hielt er Rast und aß und kühlte sich. Zwischen dem dünnen harten Waldgras standen blaue Glockenblumen, braune sonnige Falter flogen auf und verschwanden launisch in zackigem Flug. In einem solchen Walde hatte die heilige Genoveva gewohnt, ihre Geschichte hatte er immer geliebt. O wie gern wäre er ihr begegnet! Oder es mochte etwa eine Einsiedelei im Walde sein, mit einem alten bärtigen Pater in einer Höhle oder Rindenhütte. Vielleicht hausten auch Köhler in diesem Walde, gern hätte er sie begrüßt. Es mochten selbst Räuber sein, ihm hätten sie wohl nichts getan. Schön wäre es, Menschen anzutreffen, irgendwelche. Aber er wußte freilich: vielleicht konnte er lang im Walde weitergehen, heut und morgen und noch manchen Tag, ohne jemand zu begegnen. Auch das mußte hingenommen werden, wenn es ihm so bestimmt war. Man durfte nicht viel denken, man mußte alles kommen lassen, wie es mochte.

Er hörte einen Specht klopfen und versuchte ihn zu beschleichen; lange gab er sich vergeblich Mühe, ihn zu Gesicht zu bekommen, endlich gelang es ihm doch, und er sah ihm eine Weile zu, wie er einsam am Baumstamm klebte und hämmerte und den fleißigen Kopf hin und her bewegte. Schade, daß man nicht mit den Tieren sprechen konnte! Es wäre schön gewesen, den Specht anzurufen und ihm etwas Freundliches zu sagen und vielleicht etwas von seinem Leben in den Bäumen zu erfahren, von seiner Arbeit und seiner Freude. Oh, daß man sich verwandeln könnte! Es fiel ihm ein, wie er in Mußestunden manchmal gezeichnet hatte, wie er mit dem Griffel auf seiner Schreibtafel Figuren gezogen hatte, Blumen, Blätter, Bäume, Tiere, Menschenköpfe. Damit hatte er oft lange gespielt, und manchmal hatte er wie ein kleiner Herrgott Kreaturen nach seinem Willen erschaffen, er hatte in einen Blumenkelch Augen und einen Mund gezeichnet, er hatte ein aus dem Zweig sprossendes Blätterbündel zu Figuren gestaltet, er hatte einem Baum einen Kopf aufgesetzt. Bei diesem Spiel war er oft eine Stunde lang glücklich und verzaubert gewesen, hatte zaubern können, hatte Linien gezogen und sich selbst davon überraschen lassen, ob aus der begonnenen Gestalt das Blatt eines Baumes, die Schnauze eines Fisches, der Schwanz eines Fuchses, die Augenbraue eines Menschen werde. So sollte man verwandlungsfähig sein, dachte er jetzt, wie es damals die spielerischen Linien auf seinem Täfelchen gewesen waren! Goldmund wäre so gerne ein Specht geworden, vielleicht für einen Tag, vielleicht für einen Monat, hätte in den Wipfeln gewohnt, wäre hoch an den glatten Stämmen gelaufen, hätte mit starkem Schnabel in die Rinde gepickt und sich mit den Schwanzfedern gegengestemmt, hätte Spechtsprache gesprochen und gute Sachen aus der Rinde geholt. Süß und kernig klang das Spechtgehämmer im klingenden Holz.

Viele Tiere traf Goldmund unterwegs im Walde. Er traf manche Hasen, die schossen plötzlich aus dem Gehölz, wenn er nahe kam, starrten ihn an, wandten sich und jagten davon, die Ohren niedergelegt, hell unterm Schwanz. In einer kleinen Lichtung fand er eine lange Schlange liegen, die lief nicht davon, es war keine lebendige Schlange, nur ihre leere Haut, er nahm sie und betrachtete sie, grau und braun lief ein schönes Muster über ihren Rücken, und die Sonne schien durch sie hindurch, sie war dünn wie Spinnweb. Schwarze Amseln mit gelben Schnäbeln sah er, die blickten starr und eng aus schwarzen ängstlichen Augenkugeln und flohen in niedrigem Fluge der Erde nah davon. Rotbrüstchen und Finken gab es viele. An einem Ort im Walde war ein Loch, ein Tümpel voll mit grünem, dickem Wasser, auf dem liefen langbeinige Spinnen eifrig und wie besessen durcheinander, einem unverständlichen Spiel hingegeben, und darüber flogen ein paar Wasserjungfern mit tief dunkelblauen Flügeln. Und einmal, schon gegen den Abend, sah er etwas – vielmehr er sah nichts als bewegtes durchwühltes Laub und hörte Zweige brechen und feuchte Erde aufklatschen und ein großes, kaum sichtbares Tier mit gewaltiger Wucht durchs Gestrüpp rennen und brechen, vielleicht ein Hirsch, vielleicht eine Sau, er wußte es nicht. Lange stand er noch, vom Schrecken aufatmend, tief erregt lauschte er der Bahn des Tieres nach, lauschte noch mit Herzklopfen, als längst alles still geworden war.

Er fand nicht aus dem Walde heraus, er mußte darin übernachten. Während er eine Schlafstätte aussuchte und ein Moosbett aufbaute, suchte er sich auszudenken, wie das sein würde, wenn er nie mehr aus den Wäldern fände und für immer darin bleiben müßte. Und er fand, daß dies ein großes Unglück sein würde. Von Beeren leben, das war am Ende möglich, und auf Moos schlafen auch, außerdem würde es ihm ohne Zweifel gelingen, sich eine Hütte zu bauen, vielleicht sogar Feuer zu machen. Aber immer und immer allein zu bleiben und zwischen den stillen schlafenden Baumstämmen zu hausen und zwischen den Tieren zu leben, die vor einem davonliefen und mit denen man nicht sprechen konnte, das würde unerträglich traurig sein. Keine Menschen sehen, niemandem guten Tag und gute Nacht sagen, in keine Gesichter und Augen mehr blicken können, keine Mädchen und Frauen mehr ansehen, keinen Kuß mehr spüren, nicht mehr das heimliche holde Spiel der Lippen und Glieder spielen, o das wäre unausdenklich! Wenn ihm das beschieden wäre, dachte er, dann würde er versuchen, ein Tier zu werden, ein Bär oder Hirsch, sei es auch unter Verzicht auf die ewige Seligkeit. Ein Bär zu sein und eine Bärin zu lieben, das wäre nicht schlecht und wäre zumindest sehr viel besser, als seine Vernunft und Sprache und all das zu behalten und damit allein und traurig und ungeliebt dahinzuleben.

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