Endlich war das Ziel erreicht, und Goldmund betrat die ersehnte Stadt durch dasselbe Tor, durch das er einst, vor so viel Jahren, zum erstenmal geschritten war, um seinen Meister zu suchen. Manche Nachricht aus der Bischofsstadt hatte ihn schon unterwegs im Näherkommen erreicht; er wußte, daß auch dort die Pest gewesen war und vielleicht noch immer herrschte, man hatte ihm von Unruhen und Volksaufständen erzählt und daß ein kaiserlicher Statthalter gekommen sei, um Ordnung zu schaffen, Notgesetze zu geben und Gut und Leben der Bürger zu schützen. Denn der Bischof hatte die Stadt gleich nach dem Ausbruch der Seuche verlassen und residierte fern in einem seiner Schlösser auf dem Lande. An allen diesen Nachrichten hatte der Wanderer wenig teilgenommen. Wenn nur die Stadt noch stand und die Werkstätte, wo er arbeiten wollte! Alles andere war ihm nicht wichtig. Als er ankam, war die Pest erloschen, man erwartete die Rückkehr des Bischofs und freute sich auf den Abzug des Statthalters und die Wiederkehr des gewohnten friedlichen Lebens.
Als Goldmund die Stadt wiedersah, zog ihm eine nie zuvor erlebte Woge von Wiedersehen und Heimatgefühl durchs Herz, und er schnitt ein ungewohnt strenges Gesicht, um sich zu bemeistern. Oh, dies alles war noch da: die Tore, die schönen Brunnen, der alte klotzige Turm der Kathedrale und der schlanke neue der Marienkirche, das helle Geläut von Sankt Lorenz, der große strahlende Marktplatz! O wie gut, daß das alles auf ihn gewartet hatte! Hatte er nicht unterwegs einmal geträumt, daß er hier ankomme und alles fremd und verändert vorfinde, teils zerstört und in Trümmern, teils unkenntlich durch neue Bauten und wunderliche unerfreuchliche Zeichen? Die Tränen waren ihm nahe, während er durch die Gassen ging, Haus um Haus wiedererkennend. Waren am Ende nicht doch die Seßhaften zu beneiden, in ihren hübschen sicheren Häusern, in ihrem befriedeten Bürgerleben, in ihrem beruhigenden und stärkenden Gefühl von Heimathaben, von Zuhausesein in Stube und Werkstatt, zwischen Weib und Kind, Gesinde und Nachbarschaft?
Es war Spätnachmittag, und an der Sonnseite der Gasse standen die Häuser, die Wirts- und Zunftschilder, die geschnitzten Türen und die Blumentöpfe warm bestrahlt, nichts erinnerte daran, daß auch in dieser Stadt der wütende Tod und der irre Angstwahn der Menschen regiert habe. Kühl, hellgrün und hellblau strömte unter den tönenden Gewölben der Brücke der klare Fluß; Goldmund setzte sich eine Weile auf die Brüstung der Ufermauer, noch immer glitten unten im grünen Kristall die dunklen schattenhaften Fische hin oder standen regungslos, die Nasen gegen die Strömung gekehrt, noch immer blinkte aus den Dämmerungen der Tiefe hier und dort jenes schwache Goldleuchten herauf, das soviel verspricht und das Träumen so sehr begünstigt. Auch in anderen Wassern gab es das, und auch andere Brücken und Städte waren hübsch anzuschauen, und doch schien ihm, er habe seit sehr langer Zeit dergleichen nicht mehr gesehen und Ähnliches nicht mehr gefühlt.
Zwei Metzgerburschen trieben lachend ein Kalb vorüber, sie wechselten Blicke und Späße mit einer Magd, die über ihnen in einer Laube Wäsche abnahm. Wie schnell doch alles vorüberging! Vor kurzem noch hatten hier die Pestfeuer gebrannt und die scheußlichen Spittelknechte gewaltet, und jetzt lief das Leben wieder weiter, man lachte und machte Spaße; und ihm selbst ging es nicht anders, da saß er und war entzückt vom Wiedersehen und fühlte sich dankbar und hatte sogar ein Herz für die Seßhaften, als ob es kein Elend und keinen Tod, keine Lene und keine Judenprinzessin gegeben hätte. Lächelnd stand er auf und ging weiter, und erst als er sich der Gasse des Meisters Niklaus näherte und den Weg wieder ging, den er vor Zeiten jahrelang jeden Tag zu seiner Arbeit gegangen war, begann sein Herz beklommen und unruhig zu werden. Er ging schneller, er wollte heut noch beim Meister vorsprechen und Bescheid wissen, es ertrug keinen Aufschub mehr, es hätte ihm ganz unmöglich geschienen, noch bis morgen zu warten. Sollte der Meister ihm etwa noch böse sein? Das war so lange her, es konnte keine Bedeutung mehr haben; und wenn es doch so sein sollte, so würde er es überwinden. Wenn der Meister nur noch da war, er und die Werkstatt, dann war alles gut. Eilig, als ob er noch in letzter Stunde etwas versäumen könnte, schritt er auf das wohlbekannte Haus zu, faßte nach dem Türgriff und erschrak heftig, als er das Tor geschlossen fand. Konnte das Böses bedeuten? Früher war es nie vorgekommen, daß diese Tür am hellen Tag verschlossen gehalten wurde. Dröhnend ließ er den Klopfer fallen und wartete. Es war ihm plötzlich sehr bang ums Herz geworden.
Es kam dieselbe alte Magd, die ihn einst beim ersten Eintritt in dies Haus empfangen hatte. Sie war nicht häßlicher geworden, aber älter und unfreundlicher, und sie erkannte Goldmund nicht. Mit banger Stimme fragte er nach dem Meister. Sie blickte ihn blöde und mißtrauisch an.
»Meister? Es gibt hier keinen Meister. Geht nur weiter, Mann, es wird niemand eingelassen.«
Sie wollte ihn aus dem Tor zurückdrängen, er nahm sie am Arm und sehne auf sie ein: »So rede doch, Margrit, um Gottes willen! Ich bin Goldmund, kennst du mich denn nicht? Ich muß zum Meister Niklaus.«
Aus den weitsichtigen, halb erloschenen Augen schimmerte kein Willkomm.
»Es gibt hier keinen Meister Niklaus mehr«, sagte sie ablehnend, »der ist tot. Machet, daß Ihr weiterkommt, ich kann hier nicht stehen und schwatzen.«
Goldmund, während alles in ihm zusammenstürzte, drückte die Alte beiseite, die schreiend hinter ihm herlief, und eilte durch den dunklen Gang gegen die Werkstatt. Sie war geschlossen. Von der klagenden und schimpfenden Alten gefolgt, lief er die Treppe hinauf, in der Dämmerung sah er im bekannten Räume die Figuren stehen, die Niklaus gesammelt hatte. Mit lauter Stimme rief er nach Jungfer Lisbeth.
Es ging die Stubentür, und es erschien Lisbeth, und als er sie, erst beim zweiten Hinblicken, erkannte, drückte ihm der Anblick das Herz zusammen. War schon alles hier in diesem Hause, seit dem Augenblick, da er zu seinem Schrecken das Tor verschlossen gefunden hatte, gespenstisch und verzaubert und wie in einem beklommenen Traum gewesen, so fuhr ihm jetzt beim Anblick der Lisbeth wirklich ein Schaudern über den Rücken. Aus der schönen stolzen Lisbeth war eine scheue, gebückte Jungfer geworden, mit einem gelben, kränklichen Gesicht, in einem schwarzen schmucklosen Kleid, mit unsicherem Blick und ängstlicher Haltung.
»Verzeihet«, sagte er, »Margrit wollte mich nicht hereinlassen. Kennet Ihr mich nicht? Ich bin doch Goldmund. Ach, sagt mir: ist es denn wahr, daß Euer Vater gestorben ist?« An ihrem Blick sah er, daß sie ihn jetzt erkenne, und sah auch sogleich, daß er hier nicht in gutem Andenken stehe.
»So, Ihr seid Goldmund?« sagte sie, und in der Stimme erkannte er etwas von ihrer früheren hochmütigen Art. »Ihr habet Euch umsonst herbemüht. Mein Vater ist gestorben.«
»Und die Werkstatt?« fuhr es ihm heraus.
»Die Werkstatt? Ist geschlossen. Wenn Ihr Arbeit sucht, müßt Ihr anderswohin gehen.«
Er versuchte, sich zusammenzunehmen.
»Jungfer Lisbeth«, sagte er freundlich, »ich suche keine Arbeit, ich wollte nur Grüßgott sagen, dem Meister und Euch. Es betrübt mich so sehr, daß ich das hören muß! Ich sehe, daß Ihr es schwer gehabt habet. Wenn Euch ein dankbarer Schüler Eures Vaters irgendeinen Dienst tun kann, so sagt es, es wäre mir eine Freude. Ach, Jungfer Lisbeth, es will mir das Herz brechen, daß ich Euch so – so tief im Leid finde.«
Sie zog sich in die Stubentür zurück.
»Danke«, sagte sie zögernd. »Ihr könnet ihm keinen Dienst mehr tun und mir auch nicht. Margrit wird Euch hinausführen.«
Schlecht klang ihre Stimme, halb böse, halb ängstlich. Er spürte: hätte sie Mut gehabt, sie hätte ihn schimpflich hinausgewiesen.
Schon war er unten, schon hatte die Alte das Haustor hinter ihm zugeschlagen und die Riegel gestoßen. Er hörte das harte Anschlagen der beiden Riegel noch, es klang ihm wie das Zuschlagen eines Sargdeckels. Langsam kehrte er zu der Ufermauer zurück und setzte sich wieder an den alten Platz überm Flusse. Die Sonne war untergegangen, kalt zog es vom Wasser herauf, kalt war der Stein, auf dem er saß. Die Ufergasse war still geworden, am Brückenpfeiler rauschte die Strömung auf, dunkel lag die Tiefe, kein Goldschimmer blinkte mehr herauf. Oh, dachte er, daß ich jetzt über die Mauer fiele und im Fluß verschwände! Wieder war die Welt voll von Tod. Eine Stunde verging, und die Dämmerung war Nacht geworden. Endlich konnte er weinen. Er saß und weinte, über die Hände und Knie fielen ihm die warmen Tropfen. Er weinte um den toten Meister, er weinte um die verlorene Schönheit Lisbeths, er weinte um Lene, um Robert, um das Judenmädchen, um seine verwelkte, vergeudete Jugend.
Spät fand er sich in einer Weinschenke ein, wo er einst oft mit Kameraden gezecht hatte. Die Wirtin erkannte ihn, er bat um ein Stück Brot, sie gab es ihm und gab ihm freundlich auch einen Becher Wein. Er brachte weder Brot noch Wein hinunter. Auf einer Bank in der Schenke schlief er die Nacht. Die Wirtin weckte ihn am Morgen, er sagte Dank und ging, unterwegs aß er das Stück Brot.
Er ging zum Fischmarkt, da stand das Haus, in dem er damals seine Kammer gehabt hatte. Neben dem Brunnen hielten ein paar Fischweiber ihre lebende Ware feil, er starrte in die Bottiche zu den schönen schimmernden Tieren hinein. Oft hatte er dies früher gesehen, es fiel ihm wieder ein, daß er oft mit den Fischen Mitleid gehabt hatte und wütend auf die Weiber und Käufer gewesen war. Einstmals, so erinnerte er sich, hatte er sich auch einen Morgen hier so herumgetrieben, hatte die Fische bewundert und bemitleidet und war sehr traurig gewesen, es war viel Zeit seitdem vergangen und viel Wasser den Fluß hinabgeronnen. Er war sehr traurig gewesen, das wußte er noch wohl, aber was es war, worüber er so traurig gewesen war, wußte er nicht mehr. So war es: auch das Traurige verging, auch die Schmerzen und Verzweiflungen vergingen, ebenso wie die Freuden, sie gingen vorüber, verblaßten, verloren ihre Tiefe und ihren Wert, und schließlich kam eine Zeit, da konnte man sich nicht mehr darauf besinnen, was es gewesen war, das einem einmal so weh getan hatte. Auch die Schmerzen verblühten und verwelkten. Würde auch sein heutiger Schmerz einmal verwelken und wertlos sein, seine Verzweiflung darüber, daß der Meister tot und im Groll gegen ihn gestorben war und daß keine Werkstatt ihm offenstand, um das Glück des Schaffens zu kosten und sich die Bilderlast von der Seele zu wälzen? Ja, ohne Zweifel würde auch dieser Schmerz, auch diese bittere Not alt werden und müde werden, auch sie würde er vergessen. Nichts hatte Bestand, auch nicht das Leid.