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Indem er auf die Fische starrte und diesen Gedanken hingegeben war, hörte er eine leise Stimme freundlich seinen Namen sagen.

»Goldmund«, rief es schüchtern, und als er hinschaute, stand da ein etwas zartes und kränkliches junges Mädchen, aber mit schönen dunklen Augen, das ihn angerufen hatte. Er kannte es nicht.

»Goldmund! Du bist es doch?« sagte die schüchterne Stimme. »Seit wann bist du wieder in der Stadt? Kennst du mich nicht mehr? Ich bin doch Marie.«

Aber er kannte sie nicht.

Sie mußte ihm erzählen, daß sie die Tochter seiner einstigen Hauswirte sei und daß sie einst, in jener Morgenfrühe vor seiner Abreise, ihm in der Küche eine Milch gekocht habe. Sie wurde rot, als sie es erzählte. Ja, es war Marie, es war das dürftige Kind mit dem kranken Hüftgelenk, das damals so lieb und schüchtern für ihn gesorgt hatte. Er wußte nun alles wieder: sie hatte am kühlen Morgen auf ihn gewartet und war so traurig über seine Abreise gewesen, sie hatte ihm Milch gekocht, und er hatte ihr einen Kuß gegeben, den hatte sie so still und feierlich empfangen wie ein Sakrament. Nie mehr hatte er an sie gedacht. Damals war sie noch ein Kind gewesen. Jetzt war sie groß geworden und hatte sehr schöne Augen, aber sie hinkte noch immer und sah etwas verkümmert aus. Er gab ihr die Hand. Es freute ihn, daß doch jemand in dieser Stadt ihn noch kannte und liebhatte.

Marie nahm ihn mit, er wehrte sich nur schwach. Bei ihren Eltern in der Stube, wo sein Bild noch hing und sein rotes Rubinglas überm Kamin auf dem Bord stand, mußte er zu Mittag essen und wurde eingeladen, ein paar Tage dazubleiben, man freue sich, ihn einmal wiederzusehen. Hier erfuhr er auch, was im Haus seines Meisters geschehen war. Niklaus war nicht an der Pest gestorben, sondern die schöne Lisbeth war es, die die Pest bekam, sie lag todkrank, und ihr Vater pflegte sich an ihr zu Tode, er starb, noch eh sie ganz genesen war. Sie wurde gerettet, nur aber war ihre Schönheit dahin.

»Die Werkstatt steht leer«, sagte der Hausherr, »und für einen tüchtigen Bildschnitzer wäre da eine schöne Heimat bereit und Geld genug. Überleg dir das, Goldmund! Sie würde nicht nein sagen. Sie hat keine Wahl mehr.«

Er erfuhr auch dies und jenes andere aus der Pestzeit, daß der Pöbel zuerst ein Spital angezündet und später einige Häuser von Reichen erstürmt und geplündert habe, eine Weile sei keine Ordnung und Sicherheit mehr in der Stadt gewesen, da der Bischof geflohen sei. Da habe der Kaiser, der gerade in der Nähe war, einen Statthalter hergeschickt, den Grafen Heinrich. Nun ja, es sei ein schneidiger Herr, er habe mit seinen paar Reitern und Soldaten Ordnung in der Stadt geschafft. Aber nun sei es wohl Zeit, daß sein Regiment aufhöre, man erwarte den Bischof zurück. Der Graf habe der Bürgerschaft manches zugemutet, und auch von seiner Kebse habe man genug, der Agnes, die sei schon ein richtiger Teufelsbraten. Na, bald werden sie abziehen, der Gemeinderat habe es längst satt, statt seines guten Bischofs so einen Hof- und Kriegsmann auf dem Halse zu haben, der des Kaisers Günstling sei und beständig Gesandtschaften und Abordnungen empfange wie ein Fürst.

Nun wurde auch der Gast nach seinen Erlebnissen gefragt. »Ach«, sagte er traurig, »davon spricht man nicht. Ich bin gewandert und gewandert, und überall war die Seuche und lagen die Toten herum, und überall waren die Leute verrückt und böse vor Angst. Ich bin am Leben geblieben, vielleicht vergißt man das alles einmal wieder. Nun komme ich zurück, und mein Meister ist tot! Laßt mich ein paar Tage bleiben und ausruhen, dann geh ich weiter.«

Er blieb nicht des Ausruhens wegen. Er blieb, weil er enttäuscht und unentschlossen war, weil Erinnerungen an glücklichere Zeiten ihm die Stadt lieb machten und weil die Liebe der armen Marie ihm wohltat. Er konnte sie nicht erwidern, er konnte ihr nichts geben als Freundlichkeit und Mitleid, aber ihre stille, demütige Anbetung wärmte ihn doch. Mehr aber als alles dieses hielt ihn an diesem Ort das brennende Bedürfnis fest, einmal wieder Künstler zu sein, sei es auch ohne Werkstatt, sei es auch nur mit Notbehelfen. Ein paar Tage lang tat Goldmund nichts anderes als zeichnen. Marie hatte ihm Papier und Feder verschafft, nun saß er in seiner Kammer und zeichnete Stunde um Stunde, füllte die großen Bogen bald mit eilig gekritzelten, bald mit liebevoll zarten Figuren, ließ das überfüllte Bilderbuch seines Innern hinüberwandern aufs Papier. Er zeichnete viele Male das Gesicht Lenes, wie es nach dem Tod jenes Landstreichers voll Befriedigung, Liebe und Mordlust gelächelt hatte, und das Gesicht Lenes, wie es in ihrer letzten Nacht geworden war, begriffen schon im Hinüberschmelzen ins Formlose, in der Rückkehr zur Erde. Er zeichnete einen kleinen Bauernbuben, den er einst tot auf der Schwelle bei seinen Eltern hatte liegen sehen, mit geballten Fäustchen. Er zeichnete einen Karren voll Leichen, drei mühsam ziehende Klepper davor, Schinderknechte mit langen Stangen daneben, die Augen finster aus den Schlitzen schwarzer Pestmasken schielend. Er zeichnete immer wieder Rebekka, das schlanke schwarzäugige Judenkind, ihren schmalen stolzen Mund, ihr Gesicht voll Schmerz und voll Entrüstung, ihre holde junge Gestalt, die so sehr zur Liebe geschaffen schien, ihren hochmütigen bitteren Mund. Er zeichnete sich selbst, als Wanderer, als Liebenden, als Flüchtling vor dem mähenden Tod, als Tänzer bei den Pestorgien der Lebenshungrigen. Hingegeben hing er überm weißen Papier, strich das hochmütige feste Gesicht der Jungfer Lisbeth hin, so wie er sie früher gekannt hatte, die Fratze der alten Magd Margrit, das geliebte und gefürchtete Gesicht des Meisters Niklaus. Mehrmals auch deutete er mit dünnen, ahnenden Strichen eine große Frauengestalt an, die Erdenmutter, sitzend mit den Händen im Schoß, im Gesicht unter schwermütigen Augen ein Hauch von Lächeln. Unendlich wohl tat ihm dies Strömen, das Gefühl in der zeichnenden Hand, das Herrwerden über die Gesichte. Er zeichnete in wenigen Tagen alle die Bogen voll, die ihm Marie besorgt hatte. Vom letzten Bogen schnitt er ein Stück ab und zeichnete darauf, mit sparsamen Strichen, das Gesicht Maries, mit den schönen Augen, mit dem entsagenden Mund. Das schenkte er ihr. Durch das Zeichnen hatte er das Gefühl von Schwere, Stauung und Uberfülltsein in seiner Seele gelöst und erleichtert. Solang er zeichnete, hatte er nicht gewußt, wo er sei, seine Welt hatte aus nichts bestanden als dem Tisch, dem weißen Papier und abends der Kerze. Jetzt erwachte er, erinnerte sich der jüngsten Erlebnisse, sah unerbittlich neue Wanderschaft vor sich und begann durch die Stadt zu schweifen mit einer wunderlich gespaltenen Empfindung halb von Wiedersehen, halb von Abschiednehmen.

Auf einem dieser Gänge begegnete er einer Frau, deren Anblick allen seinen aus der Ordnung gekommenen Gefühlen eine neue Mitte gab. Es war eine Frau zu Pferde, ein großes hellblondes Weib mit neugierigen, etwas kühlen Blauaugen, mit festen, straffen Gliedern und einem blühenden Gesicht voll Lust zu Genuß und Macht, voll Selbstgefühl und witternder Sinnenneugierde. Etwas herrisch und hochmütig hielt sie sich auf ihrem braunen Pferde, ans Befehlen gewöhnt, doch nicht verschlossen oder abwehrend, sondern unter den etwas kühlen Augen standen bewegliche Nüstern allen Düften der Welt offen, und der große lockere Mund schien des Nehmens und Gebens im höchsten Grade fähig. Im Augenblick, da Goldmund sie sah, wurde er völlig wach und voll Begierde, sich mit diesem stolzen Weib zu messen. Diese Frau zu erobern, schien ihm ein edles Ziel, und auf dem Weg zu ihr den Hals zu brechen, hätte ihm kein übler Tod geschienen. Alsbald empfand er, daß diese blonde Löwin seinesgleichen sei, an Sinnen und Seele reich, allen Stürmen zugänglich, ebenso wild wie zart, aus uralt ererbter Bluterfahrung der Leidenschaften kundig.

Sie ritt vorüber, er sah ihr nach, zwischen krausem Blondhaar und blausamtenem Kragen sah er ihren festen Nacken ragen, stark und stolz und doch von der zartesten Kinderhaut umspannt. Sie war, so wollte ihm scheinen, die schönste Frau, die er gesehen hatte. Diesen Nacken wollte er in seine Hand zu fassen bekommen und ihren Augen das blaukühle Geheimnis entreißen. Wer sie sei, war nicht schwer zu erfragen. Alsbald erfuhr er, sie wohne im Schloß und sei Agnes, die Geliebte des Statthalters; es setzte ihn nicht in Erstaunen, sie hätte die Kaiserin selbst sein können. An einem Brunnenbecken blieb er stehen und suchte sein Spiegelbild. Das Bild paßte brüderlich zum Bild der blonden Frau, nur war es gar sehr verwildert. Noch in derselben Stunde suchte er einen Barbier auf, den er kannte, und brachte ihn mit guten Worten dazu, daß er ihm Haar und Bart kurz schnitt und sauber strählte.

Zwei Tage dauerte die Verfolgung. Agnes trat aus dem Schloß, und der fremde Blonde stand schon beim Tor und sah ihr bewundernd in die Augen. Agnes ritt ums Bollwerk, und aus den Erlen trat der Fremde. Agnes war beim Goldschmied, und beim Verlassen der Werkstatt begegnete sie dem Fremden. Sie blitzte ihn kurz aus den herrischen Augen an, dabei spielte es bebend um ihre Nasenflügel. Am andern Morgen, da sie ihn beim ersten Ausritt wieder bereitstehen fand, lächelte sie ihm ihre Herausforderung zu. Auch den Grafen sah er, den Statthalter; es war ein stattlicher und kühner Mann, er war ernst zu nehmen; aber er hatte schon Grau im Haar und hatte Sorgen im Gesicht, Goldmund fühlte sich ihm überlegen.

Diese beiden Tage machten ihn glücklich, er strahlte vor wiedergewonnener Jugend. Schön war es, sich dieser Frau zu zeigen und ihr den Kampf anzubieten. Schön war es, seine Freiheit an diese Schöne zu verlieren. Schön und tief aufreizend war das Gefühl, sein Leben auf diesen einen Wurf zu setzen.

Am Morgen des dritten Tages kam Agnes zu Pferde aus dem Schloßtor, von einem berittenen Knecht begleitet. Ihre Augen blickten sogleich nach dem Verfolger aus, kampflustig und etwas unruhig. Richtig, er war schon da. Sie schickte den Knecht mit einem Auftrag fort, allein ritt sie langsam voran, ritt langsam zum untern Brückentor hinaus und über die Brücke. Nur einmal blickte sie zurück. Sie sah den Fremden folgen. Am Weg zur Wallfahrtskirche Sankt Veit, wo es um diese Zeit sehr einsam war, erwartete sie ihn. Sie mußte eine halbe Stunde warten, der Fremde ging langsam, er wollte nicht außer Atem kommen. Frisch und lächelnd kam er gegangen, ein Zweigchen mit einer hellroten Hagebutte im Mund. Sie war abgestiegen und hatte das Pferd angebunden, sie stand an den Efeu der steilen Stützmauer gelehnt und blickte dem Verfolger entgegen. Aug in Auge mit ihr blieb er stehen und zog die Mütze.

»Warum läufst du mir nach?« fragte sie, »was willst du von mir?«

»Oh«, sagte er, »ich möchte dir viel lieber etwas schenken, als etwas von dir annehmen. Ich möchte mich dir zum Geschenk anbieten, schöne Frau, mach dann mit mir, was du willst.«

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