»Gelobt sei Jesus Christus«, sagte der Pater und setzte den Leuchter auf den Tisch. Murmelnd responsierte Goldmund, vor sich niederstarrend.
Der Geistliche schwieg. Wartend stand er da und schwieg, bis Goldmund unruhig wurde und seine Augen forschend auf den Mann richtete, der vor ihm stand. Dieser Mann, so sah er jetzt zu seiner Verwirrung, trug nicht nur die Tracht der Patres von Mariabronn, er trug auch die Abzeichen der Abtswürde.
Und nun blickte er dem Abt ins Gesicht. Es war ein hageres Gesicht, fest und klar geschnitten, mit sehr dünnen Lippen. Es war ein Gesicht, das er kannte. Wie verzaubert blickte Goldmund in dies Gesicht, das ganz von Geist und Wille geformt schien. Mit unsicherer Hand griff er nach dem Leuchter, hob ihn auf und näherte ihn dem fremden Gesicht, um die Augen darin sehen zu können. Er sah sie, und der Leuchter zitterte in seiner Hand, als er ihn zurückstellte.
»Narziß!« flüsterte er kaum hörbar. Es begann sich alles um ihn im Kreis zu drehen.
»Ja, Goldmund, ich bin einst Narziß gewesen, ab, er ich habe den Namen schon vor sehr langer Zeit abgelegt, du hast es wohl vergessen. Seit meiner Einkleidung heiße ich Johannes.«
Goldmund war bis ins Herz erschüttert. Plötzlich hatte sich die ganze Welt verändert, und das plötzliche Zusammenstürzen seiner übermenschlichen Anspannung drohte ihn zu ersticken, er zitterte, und Schwindelgefühl ließ ihn seinen Kopf wie eine leere Blase empfinden, sein Magen zog sich zusammen. Hinter den Augen brannte es wie andrängendes Schluchzen. Aufschluchzen und zusammensinken, in Tränen, in Ohnmacht – das war es, wonach alles in ihm in diesem Augenblick begehrte.
Aber es stieg aus der durch Narzissens Anblick beschworenen Tiefe der Jugenderinnerung eine Mahnung in ihm auf: einmal, als Knabe, hatte er vor diesem schönen strengen Antlitz, vor diesen dunklen allwissenden Augen geweint und sich gehen lassen. Er durfte das nicht wieder tun. Da erschien nun wie ein Gespenst im wunderlichsten Augenblick seines Lebens dieser Narziß wieder, wahrscheinlich, um ihm das Leben zu retten – und nun sollte er wieder vor ihm in Schluchzen ausbrechen oder in Ohnmacht fallen? Nein, nein, nein. Er hielt sich. Er bändigte sein Herz, er zwang seinen Magen, er jagte den Schwindel aus seinem Kopf. Er durfte jetzt keine Schwäche zeigen. Mit künstlich beherrschter Stimme gelang es ihm zu sagen: »Du mußt mir erlauben, dich noch immer Narziß zu nennen.«
»Nenne mich so, Lieber. Und willst du mir nicht die Hand geben?«
Wieder zwang sich Goldmund. Mit einem knabentrotzigen und leicht spöttischen Ton, ganz wie manchmal in den Schülerzeiten, brachte er seine Antwort heraus.
»Entschuldige, Narziß«, sagte er kühl und ein wenig blasiert. »Ich sehe, du bist Abt geworden. Ich aber bin noch immer ein Landstreicher. Und außerdem wird unsere Unterhaltung, so erwünscht sie mir ist, leider nicht lange dauern dürfen. Denn schau, Narziß, ich bin zum Galgen verurteilt, und in einer Stunde, oder früher, werde ich wohl gehängt sein. Ich sage es nur, um dir die Situation klarzumachen.«
Narziß verzog keine Miene. Das bißchen Knaben- und Renommistentum in des Freundes Haltung machte ihm großen Spaß und rührte ihn zugleich. Der Stolz aber, der dahinterstand und der es Goldmund verbot, ihm weinend an die Brust zu sinken, den verstand und billigte er zuinnerst. Wahrlich, auch er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt, aber er war mit dieser kleinen Komödie innig einverstanden. Mit nichts hätte Goldmund sich rascher wieder in sein Herz schmeicheln können.
»Nun ja«, sagte er und spielte ebenfalls den Gleichmütigen. »Übrigens kann ich dich wegen des Galgens beruhigen. Du bist begnadigt. Ich habe Auftrag, dir das mitzuteilen und dich mitzunehmen. Denn hier in der Stadt darfst du nicht bleiben. Wir werden also Zeit genug haben, einander dies und jenes zu erzählen. Aber wie ist das nun: willst du mir jetzt die Hand geben?«
Sie gaben sich die Hände und hielten sie lange fest und drückten sie und fühlten sich tief bewegt, in ihren Worten aber dauerte die Sprödigkeit und Komödie noch eine ganze Weile an.
»Gut, Narziß, so werden wir also dieses wenig ehrbare Obdach verlassen, und ich werde mich deinem Gefolge anschließen. Reisest du nach Mariabronn zurück? Ja? Sehr schön. Und wie? Zu Pferde? Ausgezeichnet. Es wird sich also darum handeln, auch für mich ein Pferd zu bekommen.«
»Wir werden es bekommen, amice, und werden schon in zwei Stunden reisen. Oh, aber wie sehen deine Hände aus! Um Gottes willen, alles zerschunden und verschwollen und voller Blut! O Goldmund, wie ist man mit dir umgegangen!«
»Laß gut sein, Narziß. Ich habe mir selbst die Hände so zugerichtet. Ich war ja gebunden und mußte mich befreien. Ich sage dir, es ging nicht leicht. Übrigens war es recht mutig von dir, daß du so ohne Geleit zu mir hereingekommen bist.«
»Warum mutig? Es war ja keine Gefahr.«
»Oh, es war nur die kleine Gefahr, von mir erschlagen zu werden. Nämlich so hatte ich mir die Sache ausgedacht. Es war mir gesagt worden, daß ein Priester komme. Den hätte ich dann umgebracht und wäre in seinen Kleidern geflohen. Ein guter Plan.«
»Du wolltest also nicht sterben? Du wolltest dich dagegen wehren?«
»Gewiß wollte ich das. Daß gerade du der Priester sein würdest, nun, das konnte ich ja freilich nicht ahnen.«
»Immerhin«, sagte Narziß zögernd, »es war eigentlich ein recht häßlicher Plan. Hättest du wohl wirklich einen Priester, der als Beichtvater zu dir kam, totschlagen können?«
»Dich nicht, Narziß, natürlich nicht, und vielleicht auch keinen von deinen Patres, wenn er die Mariabronner Kutte trug. Aber einen beliebigen anderen Priester, o ja, verlaß dich drauf.«
Plötzlich wurde seine Stimme traurig und dunkel. »Es wäre nicht der erste Mensch gewesen, den ich umgebracht hätte.«
Sie schwiegen. Es war beiden peinlich zumute.
»Also über diese Sachen«, sagte Narziß mit kühler Stimme, »sprechen wir ja später. Du kannst mir einmal beichten, wenn du magst. Oder du kannst mir sonst von deinem Leben erzählen. Auch ich habe dir dies und das zu erzählen. Ich freue mich darauf. – Wollen wir gehen?«
»Noch einen Augenblick, Narziß! Etwas ist mir eingefallen, nämlich, daß ich dich doch schon einmal Johannes genannt habe.« »Ich verstehe dich nicht.«
»Nein, natürlich nicht. Du weißt ja noch nichts. Es ist schon vor manchen Jahren gewesen, da habe ich dir einmal den Namen Johannes gegeben, und er wird dir für immer bleiben. Ich bin nämlich früher ein Bildhauer und Figurenschnitzer gewesen, und ich denke es wieder zu werden. Und die beste Figur, die ich damals gemacht habe, ein Jüngling aus Holz, in natürlicher Größe, die ist dein Bildnis, aber sie heißt nicht Narziß, sondern Johannes. Es ist ein Jünger Johannes unter dem Kreuz.«
Er stand auf und ging gegen die Tür.
»Du hast also noch an mich gedacht?« fragte Narziß leise.
Ebenso leise gab Goldmund Antwort: »O ja, Narziß, ich habe an dich gedacht. Immer, immer.«
Heftig stieß er das schwere Tor auf, der fahle Morgen blickte herein. Sie sprachen nichts mehr. Narziß nahm ihn mit sich in sein Gastzimmer. Ein junger Mönch, sein Begleiter, war dort damit beschäftigt, das Reisegepäck fertigzumachen. Goldmund bekam zu essen, seine Hände wurden gewaschen und etwas verbunden. Bald schon wurden die Pferde vorgeführt.
Als sie aufstiegen, sagte Goldmund: »Ich habe noch eine Bitte. Laß uns dern Weg über den Fischmarkt nehmen, ich habe dort noch etwas zu besorgen.«
Sie ritten ab, und Goldmund blickte zu allen Fenstern des Schlosses hinan, ob vielleicht Agnes in einem zu sehen sei. Er bekam sie nicht mehr zu sehen. Sie ritten über den Fischmarkt, Marie war sehr in Sorge um ihn gewesen. Er nahm von ihr und ihren Eltern Abschied, dankte ihnen tausendmal, versprach, einmal wiederzukommen, und ritt weg. Unter der Haustür blieb Marie stehen, bis die Reiter verschwunden waren. Langsam hinkte sie ins Haus zurück.
Sie ritten zu vieren; Narziß, Goldmund, der junge Mönch und ein bewaffneter Reitknecht.
»Kannst du dich noch an mein Rößchen Bleß erinnern«, fragte Goldmund, das in eurem Klosterstall stand?«
»Gewiß. Das findest du nicht mehr und hast es wohl auch nicht erwartet. Es ist wohl sieben oder acht Jahre her, seit wir es abtun mußten.«
»Daß du dich dessen erinnerst!«
»O ja, ich erinnere mich.«
Goldmund war nicht traurig über Bleßleins Tod. Er war froh darüber, daß Narziß so gut um Bleß Bescheid wußte, er, der sich nie um Tiere gekümmert und sicher niemals ein anderes Klosterpferd beim Namen gekannt hatte. Sehr froh war er darüber.
»Du wirst mich auslachen«, fing er wieder an, »daß das erste Wesen in eurem Kloster, nach dem ich fragte, das arme Pferdchen war. Es war nicht hübsch von mir. Eigentlich hatte ich nach ganz anderem fragen wollen, vor allem nach unserem Abt Daniel. Aber ich konnte mir ja denken, daß er gestorben ist, du bist ja sein Nachfolger. Und von lauter Todesfällen zu sprechen, das wollte ich fürs erste vermeiden. Ich bin auf den Tod zur Zeit nicht gut zu sprechen, wegen dieser vergangenen Nacht, und auch wegen der Pest, von der ich allzuviel gesehen habe. Aber nun sind wir schon dabei, und einmal muß es ja doch sein. Sage mir, wann und wie Abt Daniel gestorben ist, ich habe ihn sehr verehrt. Und sage mir auch, ob die Patres Anselm und Martin noch am Leben sind. Ich bin auf alles Schlimme gefaßt. Aber da wenigstens dich die Pest verschont hat, bin ich zufrieden. Zwar habe ich nie gedacht, du könntest gestorben sein, ich habe fest an unser Wiedersehen geglaubt. Aber der Glaube kann täuschen, das habe ich leider erfahren. Auch meinen Meister Niklaus, den Bildschnitzer, konnte ich mir nicht tot vorstellen, ich zählte bestimmt darauf, ihn wiederzufinden und aufs neue bei ihm zu arbeiten. Und doch war er tot, als ich kam.«
»Es ist rasch berichtet«, sagte Narziß. »Abt Daniel ist schon vor acht Jahren gestorben, ohne Krankheit und Schmerzen. Ich bin nicht sein Nachfolger, ich bin erst seit einem Jahr Abt. Sein Nachfolger wurde Pater Martin, einst unser Schulvorsteher, er starb im vergangenen Jahr, nicht ganz siebzig Jahre alt. Und Pater Anselm ist auch nicht mehr da. Er hatte dich gern, er sprach noch oft von dir. In seiner letzten Zeit konnte er gar nicht mehr gehen, und das Liegen war ihm eine große Qual; er ist an der Wassersucht gestorben. Ja, und die Pest war auch bei uns, es sind viele gestorben. Sprechen wir nicht davon! Hast du noch mehr zu fragen?«
»Gewiß, sehr viel. Vor allem: wie kommst du hierher in die Bischofsstadt und zum Statthalter?«
»Das ist eine lange Geschichte, und sie wäre dir langweilig, es handelt sich um Politik. Der Graf ist ein Günstling des Kaisers und in manchen Fragen sein Bevollmächtigter, und es ist zur Zeit zwischen dem Kaiser und unserem Orden mancherlei zu schlichten. Der Orden hat mich einer Abordnung zugewiesen, die mit dem Grafen zu verhandeln hatte. Der Erfolg war gering.«